Die vierfache Bildungskatastrophe
Zweitens hat sich die Ausbildungs- und Berufssituation von Schülerinnen und Schülern ohne – und zunehmend auch mit – Hauptschulabschluss dramatisch verschlechtert. Beinahe alle Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss müssen in das Übergangssystem der Berufsvorbereitung, finden häufig dennoch keinen Ausbildungsplatz und treten erst sehr spät ins Berufsleben ein; ein Viertel von ihnen hat keine „normale“ Erwerbsbiografie. Auch Jugendliche mit Hauptschulabschluss müssen mehrheitlich in das Übergangssystem. Nur die Hälfte von ihnen schafft den Sprung in die duale Berufsausbildung. Rund 18 Prozent bleiben auf Dauer erwerbslos. Diese Jugendlichen verdanken ihr berufliches Schicksal nicht nur schwachen Leistungen. Sie sind bereits durch die Schule und ihren Abschluss stigmatisiert.
Drittens haben Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung keine gesicherte Erwerbsbiografie mehr. In dieser Gruppe ist die Arbeitslosigkeit im Vergleich zu Personen mit höheren Berufsqualifikationen extrem hoch. Finden diese Menschen Beschäftigung, ist sie vor allem unqualifiziert, unsicher und niedrig entlohnt.
In Deutschland ist der Einstieg in die duale Berufsausbildung zum Martyrium geworden. Mittlerweile gehen ebenso viele Schulabgänger in das Übergangssystem wie direkt in die Lehre. Trotz mehrjähriger Berufsvorbereitung erhalten nur wenige von ihnen eine Lehrstelle, und dies durchschnittlich erst im Alter von 19,5 Jahren. Die Lehre beginnt dann, wenn andere ihr Studium anfangen – eine Verschleuderung von wertvollen Bildungsjahren für eine zumeist frustrierende Berufsvorbereitung. Der Grund hierfür ist vorrangig nicht die fehlende Ausbildungsreife der Jugendlichen, sondern ein Mangel an Lehrstellen für Alt- und Neubewerber, weshalb selbst Jugendliche mit mittlerer Reife und mit Abitur scheitern.
Der Akademikermangel wird dramatisch
Deutschland steuert viertens auf einen dramatischen Akademikermangel zu. Zwar gibt es auch Akademikerarbeitslosigkeit, doch diese war immer erheblich niedriger als die anderer Qualifikationsebenen und geht derzeit deutlich stärker zurück; wobei sehr wohl Unterschiede zwischen den akademischen Berufsgruppen existieren. Auch sind prekäre Arbeitsverhältnisse – etwa in Form von Praktika – für Hochschulabsolventen nichts ungewöhnliches, doch sind Akademiker davon weit seltener betroffen als Berufstätige mit geringerer Qualifikation. Der Akademikermangel zeichnet sich vor allem in vielen Ingenieursparten, in hochqualifizierten IT-Berufe, bei Ärzten, Lehrkräften und Hochschullehrern ab.
Deutschland muss diese Bildungskatastrophe auf allen Ebenen aus wirtschafts- und sozialpolitischen, ja gesellschaftspolitischen Gründen überwinden. Der wachsende Fachkräftemangel hemmt das Wirtschaftswachstum, gefährdet die Entwicklung zur Wissensgesellschaft und schwächt den Standort Deutschland. Der Anteil gering qualifizierter Tätigkeiten wird weiter deutlich zurückgehen, die Lage der Geringqualifizierten wird noch bedrohlicher. Zugleich verschärfen sich die Einkommensunterschiede weltweit, in Deutschland sogar überdurchschnittlich.
Der amerikanische Ökonom J. Bradford DeLong führt diese Entwicklung vor allem auf mangelnde Bildungsinvestitionen zurück. Hier muss ein vorsorgender Sozialstaat ansetzen. Die meisten westlichen Staaten, aber auch die Schwellenländer haben ihr Bildungswesen erheblich ausgebaut. Sie haben Deutschland dort, wo es früher führend war, inzwischen weitgehend eingeholt oder überholt.
Deshalb muss sich Deutschland zu einer alle Ebenen umfassende Bildungsoffensive durchringen, die expansiv auf deutlich mehr höhere Abschlüsse und Berechtigungen zielt. Zurzeit erwerben rund 23 Prozent eines Jahrganges einen Hochschulabschluss. Das ist bitter wenig: Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung prognostiziert einen Ausbildungsbedarf zwischen 2006 und 2014 von 29 Prozent; das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung rechnet mit einem Bedarf an Hochqualifizierten – vor allem an Akademikern – von 40 Prozent.
Wo 90 Prozent das Abitur erreichen
Doch als Ziele reichen diese Werte nicht aus. Denn zum einen gibt es einen Nachholbedarf an Aus- und Weiterbildung. Und zum anderen unterschätzen die Wissenschaftler in beiden Fällen den tatsächlichen Bedarf in bestimmten Bereichen. So braucht etwa der Elementarbereich und der medizinische Pflegesektor auch akademische Erzieher und Pfleger, wie sie im westlichen Ausland längst üblich sind. Genau deshalb muss sich Deutschland die führenden Nationen zum Vorbild nehmen, die schon jetzt die Marke von 50 Prozent erreicht haben oder ihr sehr nahe kommen: Island, Neuseeland, Finnland, Australien, Norwegen und Dänemark.
Geht es nach der Bundesregierung, so sollen bald 40 Prozent eines Jahrgangs die Hochschulreife erreichen. Dieses Ziel ist erfreulich, aber keinesfalls ausreichend. Denn wenn man 50 Prozent eines Jahrgangs zu einem akademischen Abschluss führen will, müssen fast alle Jugendlichen eine Studienberechtigung erhalten. Außerdem kann es Deutschland nicht zulassen, dass Absolventen der schulischen und der dualen Berufsausbildung nicht automatisch die Hochschulreife erhalten, während dies in den meisten europäischen Staaten der Fall ist. Wer die deutsche duale Berufsausbildung für überlegen hält, kann sich ihre Deklassierung bei den Berechtigungen nicht leisten. Bildungspolitisch führende Staaten wie Irland, Israel und Finnland führen inzwischen gut 90 Prozent eines Jahrgangs zum Abitur. Der Hauptschulabschluss hingegen reicht nicht mehr aus, um am qualifizierten Erwerbsleben teilzuhaben. Das Ziel muss vielmehr ein mittlerer Abschluss plus abgeschlossene Berufsausbildung oder ein Gymnasialabschluss für alle sein.
Die genannten langfristigen Ziele sind nur über umfassende Strukturreformen auf allen Ebenen zu erreichen. Keine Strukturreform einer Ebene macht die einer anderen entbehrlich. Dabei gilt: Jede strukturelle Veränderung lässt sich nur in Schritten erreichen, denn in Deutschland sind Gruppeninteressen besonders mobilisierungsfähig und politische Akteure neigen zur Konfrontation. Zudem sind viele Staatsebenen mit großen Interessengegensätzen – innerhalb und zwischen den Ebenen – beteiligt. Reformen verlangen daher gesellschaftliche und politische Bündnisse und machen Kompromisse erforderlich.
Stehvermögen gegen Interessengruppen
Generell gelingen größere Reformschritte am ehesten über Vereinbarungen auf europäischer Ebene und in Großen Koalitionen, sofern die Koalitionäre zu Veränderungen bereit sind. Doch selbst dann ist erhebliches Standvermögen gegenüber Interessengruppen und den eigenen Anhängern erforderlich. Diese Durchsetzungsschwierigkeiten treffen besonders für Bildungsreformen zu.
Im Elementarbereich ist eine umfassende Reform bereits angelaufen. Doch auch mit dem Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz im Jahr 2013 darf der erforderliche quantitative und qualitative Ausbau der Kinderbetreuung nicht abgeschlossen sein. Das Ziel des Elementarbereichs muss es sein, möglichst alle Kinder zu erreichen und sie optimal zu fördern. Das gilt besonders für Kinder aus sozial schwachen Elternhäusern und für Kinder aus Einwandererfamilien. Weitere Schritte müssen die Gebührenfreiheit, die Kindergartenpflicht für Fünfjährige und der zunehmende Einsatz von akademisch ausgebildeten Erzieherinnen und Erziehern sein.
Ganztagsangebote für alle Schüler
Auch im Schulbereich gibt es Bewegung, doch von einer ganztägigen gemeinsamen Schule für alle – einschließlich der Schüler mit Behinderung – bis zum Ende des 10. Schuljahres ist Deutschland meilenweit entfernt. Fortschritte haben wir etwa bei der Ganztagsschule erzielt, die im Ausland abgesehen von Österreich und einigen Kantonen der Schweiz selbstverständlich ist. Eine umfassende, optimale Bildung verlangt jedoch ein Ganztagsangebot für alle in der Primarstufe und in der Sekundarstufe I. Schritte zu diesem Ziel wären der grundsätzliche Ausbau der Sonderschulen zu Ganztagsschulen sowie die Einführung eines Rechtsanspruchs auf eine ortsnahe ganztägige Erziehung.
Weil der Sonderschulbesuch stigmatisierend wirkt, muss die Ausgliederung von Menschen mit Behinderung überwunden werden – wie im Ausland auch. Zwischenschritte wären die räumliche und organisatorische Angliederung der Sonderschulen an die „normalen“ Schulen sowie die Möglichkeit, an den Sonderschulen mindestens den Hauptschulabschluss zu erwerben. Vorrangig sollte indes die integrative Erziehung in Grund- und weiterführenden Schulen gefördert werden.
Die Diskriminierung von Hauptschülern wird weder durch Verbesserungen des Elementar- und Primarbereiches noch durch Ganztagsschulen behoben. Die Hauptschule muss überwunden werden. Die beste Lösung ist die gemeinsame Schule für alle bis zum zehnten Schuljahr. Diese ist zurzeit zwar noch nicht durchsetzbar. Doch es gibt Bewegung: In vier Ländern ist die Haupt- mit der Realschule zusammengelegt worden, in drei weiteren Ländern ist dies gesetzlich vorgesehen oder geplant. Am weitesten geht das Hamburger Konzept, wonach diesen Stadtteilschulen grundsätzlich auch eine Oberstufe angegliedert werden soll. Sowohl in Hamburg als auch in Schleswig-Holstein ist eine Kooperation beziehungsweise Koalition der beiden Volksparteien dafür eine Voraussetzung. Die Große Koalition in Schleswig-Holstein musste große Standfestigkeit beweisen, um die Zweigliedrigkeit gegen erheblichen Druck rechtlich durchzusetzen.
Wie beschrieben ist das größte Problem des Sekundarbereichs II der Mangel an Ausbildungsstellen. Selbst im Jahr 2007 wird der Berg der Altbewerber höchstens geringfügig abgebaut werden, trotz guter Konjunktur. Auch ist die Qualität des Angebots gefährdet. Dabei dürfen Ausbildungschancen weder von konjunkturellen noch von strukturellen Veränderungen abhängig sein. Vielmehr muss der Engpass bei der dualen Berufsausbildung mittels des Ausbaus einer schulischen Berufsausbildung überwunden werden, die nach dem Berufsbildungsreformgesetz aus dem Jahr 2005 mit einer Kammerprüfung abschließen kann.
Die Hochschule muss geöffnet werden
Sodann sollte der Abschluss der Berufsausbildung aufgewertet werden. Als erster Schritt könnten alle schulischen und dualen Ausbildungsgänge, die faktisch die mittlere Reife voraussetzen, zur Hochschulreife führen. Zur weiteren Entlastung der Berufsausbildung und um mehr Jugendliche zur Hochschulreife zu führen, sollten die Regional- oder Stadtteilschulen eigene oder gemeinsame gymnasiale Oberstufen erhalten.
Der Hochschulbereich ist durch den Bologna-Prozess und die Exzellenzinitiative stark in Bewegung geraten. Die Studiengänge werden gestrafft, methodisch gestaltet, stärker berufsbezogen ausgerichtet und auch auf neue Berufsbereiche hin orientiert. Die Reformen reichen dennoch nicht aus. Die Hochschule muss konsequent für Jugendliche mit Berufsausbildung, für Erwachsene mit Berufserfahrung sowie für die Weiterbildung geöffnet werden. Die Motivation für Jugendliche zum Studium sollte durch deutlich großzügigere Bafög-Regelungen verbessert werden. Und die Hochschulen selbst müssen Anreize erhalten, sich für eine Ausbildung der Mehrheit zu öffnen. Beispielsweise könnten die Staatszuschüsse zunehmend nach Forschungskriterien sowie nach Studienerfolg und Berufsvermittlung vergeben werden.
Autonomie und Mitwirkung für die Beteiligten
Die erheblichen Veränderungen, die auf dem Gebiet der Bildung erforderlich sind, setzen so weit wie möglich die Mitwirkung der Beteiligten voraus. Ihnen muss größtmögliche wirtschaftliche und rechtliche Autonomie im Rahmen von Gesetzen sowie von Leistungsvorgaben und Erfolgskontrollen gewährt werden.
An der Finanzierung jedenfalls muss die schrittweise Umsetzung der genannten Reformen nicht scheitern. Noch existieren auf jeder Bildungsstufe zu viele kleine, sehr aufwendige Einheiten. So könnte eine schulische Berufsausbildung mit den bisherigen Aufwendungen für das Übergangssystem finanziert werden. Ferner leistet sich Deutschland eine unnötige Zersplitterung von vielfältigen schulischen, Jugend- und sozialpädagogischen Einrichtungen oder Maßnahmen; ähnliches gilt für die getrennte Förderung des Sports und partiell auch der Kultur. Andere Politikfelder wie die Familien-, Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik müssen nicht nur als Bündnispartner, sondern auch als Finanzpartner gewonnen werden, wenn der Bildungssektor ihre Anliegen mit wahrnimmt und damit einen zentralen Beitrag für den vorsorgenden Sozialstaat leistet.