Die Krise der Ausbildung - eine deutsche Zeitbombe
Anders als viele glauben, ist Deutschland bei der Jugendarbeitslosigkeit international kein Vorbild. Nein, wir rechnen uns schön. Das Problem: Die Quote der Jugendarbeitslosigkeit im Staatenvergleich ist irreführend. Dabei wird die Zahl der jugendlichen Arbeitslosen auf die gleichaltrigen Erwerbspersonen bezogen, einschließlich der dual – nicht aber der schulisch – Auszubildenden. Deshalb führt unser umfangreiches Dualsystem dazu, dass die Jugendarbeitslosigkeit im Vergleich mit dem Ausland verharmlost wird. Statistisch sauber ist nur ein Vergleich der Erwerbslosenquoten: das Verhältnis der Erwerbslosen zur übrigen gleichaltrigen Bevölkerung. Bei der Erwerbslosigkeit der 15- bis 29-Jährigen liegen wir gerade mal auf Rang 14 von 31 Staaten. Und diesen Platz im Mittelfeld verdankt Deutschland auch nur der durch eine Vielzahl von Fördermaßnahmen hinausgeschobenen Jugenderwerbslosigkeit. Je älter die Heranwachsenden in Deutschland werden, desto kritischer für sie. Vergleicht man die Quoten der 25- bis 29-Jährigen, die sechs Monate und mehr arbeitslos waren, weisen zwei Drittel der OECD-Staaten bessere Werte auf als Deutschland.
Das Ziel der Fördermaßnahmen wird verfehlt
Die existierenden Fördermaßnahmen sollen die Ausbildungsreife fördern und eine Berufsausbildung ermöglichen – ein Förderdschungel mit diversen Maßnahmen unterschiedlicher Träger. Die bekanntesten sind das Berufsgrundbildungsjahr, das Vorbereitungsjahr, das Einstiegsjahr sowie diejenigen Berufsfachschulen, die zu keinem Berufsabschluss führen. Die Fördermaßnahmen sind keine Ausnahme, sondern trotz der geburtenschwachen Jahrgänge für mehr als ein Drittel der Jugendlichen die Regel. Schlimmer noch: An den Fördermaßnahmen nehmen keinesfalls nur Jugendliche ohne Abschluss teil. Rund die Hälfte besitzt einen Hauptschulabschluss und mehr als ein Viertel hat einen mittleren Abschluss. Nur knapp jeder zweite Neuzugang in die Berufsbildung beginnt mit einer dualen Berufsausbildung.
Hinzu kommt: Das Ziel der Fördermaßnahmen wird verfehlt. Nur ein Viertel der Abgänger erhält einen dualen Ausbildungsplatz. Selbst dieser Erfolg geht fast nicht auf die Fördermaßnahmen zurück. Realschulabsolventen, die eine Fördermaßnahme erfolgreich abschließen, erhalten nicht leichter einen Ausbildungsplatz als jene, die sie abbrechen. Hauptschulabsolventen erhöhen ihre Chancen nur, wenn sie einen höherwertigen Schulabschluss erworben haben oder eine schulische Ausbildung beginnen. Somit sind die Fördermaßnahmen Warteschleifen. Sie vergeuden Lebensarbeitszeit und verschwenden Ressourcen. Sie verhindern nicht, dass jährlich 150.000 Jugendliche ohne abgeschlossene Berufsausbildung bleiben.
Die angebotenen Ausbildungsplätze reichen nicht, um auch Jugendliche aus den Fördermaßnahmen zu versorgen. Die Ausbildungsbetriebe verlangen zunehmend höherwertige Abschlüsse. Hauptschüler haben es immer schwerer, sie überwiegen nur noch im unteren Segment der klassischen Handwerksberufe und konkurrieren selbst da mit Realschulabsolventen. In den mittleren Segmenten herrscht der mittlere Abschluss vor. Bei den anspruchsvollen kaufmännischen, Büro-, IT- und technischen Berufen überwiegen die Abiturienten. Höhere Abschlüsse, vor allem aber fehlende Ausbildungsplätze, führen dazu, dass die Auszubildenden nicht als Erwachsene beginnen. Im Durchschnitt sind sie 19,8 Jahre alt. Die verlorenen Jahre fehlen bei der Rente.
Trotz der gestiegenen Eingangsvoraussetzungen bleibt der Erfolg der Ausbildung unsicher: Mehr als 20 Prozent der Ausbildungsverträge werden vorzeitig aufgelöst, über 40 Prozent der Absolventen vom Betrieb nicht übernommen. Der Zugang zur Hochschule ist weithin blockiert, nur sechs Prozent der Studienanfänger kommen über berufliche Schulen und den zweiten und dritten Bildungsweg.
Kein Wunder, dass die duale Berufsausbildung kein Exportschlager ist. Nicht ein europäischer Staat hat unser System übernommen. Vielmehr stellt es eine Anomalie im internationalen Bildungsrecht dar: Es verbessert schulrechtlich nicht das Abschlussniveau, wird auch im Laufbahnrecht des öffentlichen Dienstes nicht als weiterführend anerkannt. Die schulische und die duale Berufsausbildung werden nicht – wie in den meisten anderen Staaten – der Allgemeinbildung gleichgestellt und vermitteln keine Hochschulreife.
Dabei ist eine qualifizierte Ausbildung für alle möglich. Niemand sollte mehr sitzenbleiben, und alle Schüler sollten einen Schulabschluss machen. Ab Klassenstufe sieben sollten alle Schüler ausführlich über die Berufswelt informiert werden. Die gymnasiale Oberstufe muss für alle Schüler mit mittlerem Abschluss offenstehen. Und die bestehenden Berufsfachschulen sollten in der Regel um ein Jahr verlängert werden und zu einem Berufsabschluss führen. Darüber hinaus sollten die Hochschulen für Ausgebildete geöffnet und mehr Studienplätze geschaffen werden.
Alle Schüler sollten einen Schulabschluss machen
Diese Maßnahmen würden die Bildungschancen verbessern, aber noch keine Berufsausbildung garantieren. Wer nach dem Abschluss keinen Ausbildungsplatz gefunden hat, muss eine öffentlich geförderte, betriebsnahe Ausbildung erhalten. Auch jene Jugendlichen, deren Ausbildungsverhältnis aufgelöst wurde. Eine solche Ausbildung würde bei einem Träger oder in der Schule stattfinden und für diejenigen, die nicht in eine betriebliche oder schulische Ausbildung wechseln, zu einem anerkannten Berufsabschluss führen. Ein solches Konzept wird in Hamburg verwirklicht, ähnliche Ansätze gibt es in Berlin.
Die gegenwärtige Sekundarstufe II verschwendet Lebensarbeitszeit und Geld. Fehlende oder nicht marktgerechte Ausbildungen belasten die Wirtschaftsentwicklung. Umgekehrt rentiert sich eine qualifizierte Ausbildung für den Einzelnen wie für die Volkswirtschaft. Zudem rechnet sich eine solche Reform finanzwirtschaftlich. Die jetzige Sekundarstufe II erzwingt Doppel- und Dreifachbesuche, um auf eine Ausbildung vorzubereiten, eine Berufsausbildung abzuschließen und höherwertige Abschlüsse zu erwerben. Durchschnittlich beginnt fast jeder Jugendliche in der Sekundarstufe II zwei Ausbildungsgänge. Diese Umwege und die Korrekturen der Ungleichheit kosten jährlich Milliarden Euro. Mit diesen Einsparungen könnte jedem Jugendlichen ein qualifizierter Ausbildungsgang angeboten werden, der auch das Studium ermöglicht. Entscheidend ist, die Mittel des Bundes einschließlich der Bundesagentur und der Länder zur Verwirklichung einer Ausbildungsgarantie umzuwidmen. Bund und Länder sind gefordert.
Fazit: Die Krise der Ausbildung und die Arbeitslosigkeit junger Erwachsener sind eine Zeitbombe. Eine qualitative Ausbildung für alle können wir sichern, wenn wir die schulische Berufsausbildung als Ergänzung zur dualen Berufsausbildung ausbauen. Und wenn alle Bildungsgänge der Sekundarstufe II zum Studium berechtigen.