Bleib wie du bist, und gestalte mit!
Die Integration in Deutschland schreitet voran. Vieles verbessert sich schnell, manches langsam, wenig stagniert, kaum etwas wird schlechter. Aus Sicht der Forschung verbessern sich gesellschaftliche Teilhabe, Lebenschancen und die politische Partizipation von Migranten stetig. Gleichzeitig wird der öffentliche Diskurs durch eine gegensätzliche Wahrnehmung bestimmt. Die gesellschaftlichen Folgen dieser Diskrepanz können verheerend sein. Hier kann ein Perspektivwechsel helfen, bei dem die Mehrheit und ihre Selbstbilder betrachtet werden, statt sich immer nur auf migrantische Minderheiten zu fokussieren.
Von unseren Kindern erwarten wir, dass sie sich vertragen und artig sind. Erwachsene hingegen fahren die Ellenbogen aus und können auch mal intrigant sein. Dazwischen liegt das, was Biologen Pubertät nennen – eine Zeit, in der vieles „ätzend“ und noch mehr „scheißegal“ ist, in der es schwerfällt, langfristig zu denken und in der sich Frustrationstoleranz sowie die Fähigkeit zur Kompromissbildung noch entwickeln müssen. In dieser Zeit hätte man gerne alles – sich selbst eingeschlossen – anders, als es ist.
Der Kindertraum ewiger Harmonie
Genau in dieser Situation, zwischen naiv-kindlichem Egozentrismus und pragmatisch-gelassener Reife, steckt Deutschland. In seiner Kindheit konkurrierten zwei Idealbilder: Die einen lebten ausdrücklich nicht in einem Einwanderungsland – vielmehr sollten die arbeitenden Gäste in ihre Heimat zurückkehren oder durch unsichtbare Assimilationskräfte zu Deutschen werden. Die anderen beschworen den Multikulti-Kult, nach dem kulturelle Vielfalt unter einem (Staats-)Dach schlichtweg etwas Tolles ist. Diese Positionen sind zwar extrem unterschiedlich, aber an entscheidenden Stellen auch identisch. So herrschte zwischen Mono- und Multikulti stillschweigende Einigkeit darin, dass man erstens durch intendiertes Nichtstun die – wie auch immer vorgestellte – Integration von Migranten bewerkstelligen wird, dass sich zweitens die so genannte Mehrheitsgesellschaft nicht ändern muss, und dass drittens eine konfliktfreie Gesellschaft in Harmonie und Gleichgewicht der Gradmesser für erfolgreiche Integration ist. Diese drei Gemeinsamkeiten haben für das Einwanderungsland nachhaltige Folgen.
Seit den fünfziger Jahren wurden die Auswirkungen von Immigration weitgehend ignoriert. Doch in den neunziger Jahren endete diese naive Kindheit abrupt. So wurde nach mehreren Brandanschlägen, Pogromen und Morden an türkeistämmigen Migranten, Flüchtlingen und anderen „Ausländern“ ein Zuwanderungsgesetz beschlossen, das nicht zu Unrecht häufig als Zuwanderungsvermeidungsgesetz bezeichnet wird. Die dahinter stehenden Bemühungen, die Entwicklung zu einem Einwanderungsland zu stoppen, wurden allerdings durch den 1998 eingeführten Begriff „Migrationshintergrund“ nachhaltig erschüttert. Der Begriff schloss eine Lücke zwischen Statistik und Alltagswahrnehmung: Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft, die im Lebensalltag aber als Ausländer galten, wurden durch ihren „Migrationshintergrund“ nun auch statistisch als nicht-so-richtig-deutsch registriert. Von einem Tag auf den anderen verdoppelte sich damit die Zahl dieser Menschen – und die Illusion des Nicht-Einwanderungslandes konnte nun auch mit größter Mühe nicht mehr aufrecht erhalten werden. In der Folge begannen Diskussionen unter Titeln wie „Multikulti ist gescheitert“ oder „Wir brauchen eine Leitkultur“, die bis heute immer wiederkehren.
Die Frage hinter diesen Debatten lautet: Was macht ein Einwanderungsland aus? Realitäten, die seit Jahrzehnten existierten, mussten in wenigen Jahren thematisiert und verarbeitet werden. Unter den Stichworten „Sprachkompetenz“, „Kopftuch“ oder dem „Nicht-Mitsingen der Nationalhymne“ wurden dieselben Positionen vertreten wie im Streit zwischen Mono- und Multikulti.
Während medial immer wieder dramatisiert wurde, etablierten sich auf politischer Ebene neue Ideen, die schon deshalb begrüßenswert erscheinen, weil sie sich nicht auf Migranten und ihre Kinder beschränken: Inklusion und Diversity sind die prominentesten Begriffe, interkulturelle und interreligiöse Dialoge wurden forciert, Integrationsgipfel organisiert, Migrations- und Integrationsbeauftragte installiert, Preise verliehen, Bildungsoffensiven gestartet – mit messbarem Erfolg. Die allgemeine Wahrnehmung, dass sich die deutsche Gesellschaft bereits weitreichend verändert hat, mündet also langsam in einem neuen Modus politscher und professioneller Strategien.
Erwachsen sein heißt Konflikte lösen
Die deutsche Öffentlichkeit hat gegen alle Widerstände mittlerweile begriffen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und eine aktive Integrationspolitik benötigt. In einem zweiten Schritt wurde akzeptiert, dass sich die Gesellschaft durch Einwanderung nicht nur verändert, sondern dass sich zudem die Institutionen, vor allem des Bildungswesens, für diese Entwicklung öffnen müssen. Insofern lässt sich festhalten: Es hat sich unheimlich viel und in sehr kurzer Zeit zum Positiven entwickelt! Der wohl schwierigste Schritt ist aber, anzuerkennen, dass Gesellschaften – ganz besonders Einwanderungsgesellschaften – konflikt-reich sind. In der Öffentlichkeit wird jedoch nach wie vor an der Idee festgehalten, dass erfolgreiche Integrationspolitik zu einer harmonischen Gesellschaft führen müsse. Hält man an dieser Zielvorgabe fest, wird es eine dauerhafte und womöglich immer stärkere Diskrepanz zwischen der gemessenen Integration und der Wahrnehmung im Alltag geben. Denn wenn nur die Überwindung von Konflikten, eine zunehmende Homogenisierung sowie allgemeine Harmonie als zentrale Kriterien erfolgreicher Integration gelten, werden die Erwartungen aller Beteiligten dauerhaft enttäuscht bleiben. Auf diese Weise wird eine verbesserte gesellschaftliche Teilhabe von Migranten eher zu „Differenzerfahrungen“ führen, zum Beispiel wenn Frauen mit Kopftuch in gehobenen Positionen arbeiten. Denn zweifellos werden sich Minderheiten selbstbewusster zu Wort melden, eigene Ansprüche erheben und ihre Interessen vertreten. Verteilungs- und Interessenkonflikte werden eher zunehmen.
Dieser Schritt der Anerkennung von Konflikten ist der schwierigste. Aber zum Erwachsenwerden gehört eben auch, desillusioniert zu werden, Konflikte auszutragen und sich pragmatisch mit Disharmonien zu arrangieren. In diesem Punkt kann man der Politik einen Vorwurf machen. Denn die politischen Akteure suggerier(t)en, dass sich durch politische Bemühungen eine konfliktfreie Gesellschaft organisieren lässt. Stattdessen sollte es in Zukunft vielmehr darum gehen, integrationspolitische Bemühungen stärker auf die so genannte Mehrheitsgesellschaft auszurichten. Das bedeutet, Überzeugungsarbeit zu leisten statt falsche Versprechungen zu machen.
Wenn in fast allen Bereichen Fortschritte zu verzeichnen sind – warum nimmt der Diskurs über Migration und Integration seit der Jahrtausendwende trotzdem an Schärfe zu? Eine Erklärung dafür findet sich in den Ereignissen und Einschnitten des ersten Jahrzehnts seit dem Jahr 2000 – eine Zeit, die von zunehmender sozialer Verunsicherung und Orientierungslosigkeit in Deutschland geprägt war. So musste das „Land der Dichter und Denker“ durch den PISA-Schock 2001 lernen, dass es über ein relativ ineffektives und sehr ungerechtes Bildungssystem verfügt. Zugleich sorgten die Terroranschläge des 11. Septembers für allgemeine Unsicherheit und die Skepsis gegenüber Muslimen stieg weltweit. Mit dem (gefühlten) Abbau des Sozialstaats infolge der Hartz-Reformen erodierte ab 2005 ein weiteres positives Selbstbild der deutschen Gesellschaft. Und nach der Erkenntnis, ein Einwanderungsland zu sein, gerät durch die aktuelle Euro- und EU-Krise – als Folge der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise – auch noch die große Zukunftsvision ins Wanken: Europa. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind für Deutschland somit prekär geworden – und die ökonomisch prächtige Lage hilft nur bedingt gegen das Gefühl der Orientierungslosigkeit. Wie immer, wenn es an Orientierung fehlt, werden Schuldige gesucht. All dies geschah, bevor im Herbst 2010 das Buch Deutschland schafft sich ab erschien. Und die über ein Jahrzehnt entstandene Spannung entlud sich in der Sarrazin-Debatte.
Tiefgreifende Unsicherheitsgefühle sind überaus plausibel, wenn positive Selbstbilder, sinnstiftende Narrative und Zukunftsperspektiven fehlen. In Zeiten voller bildungs-, sozial- und europapolitischer Verwerfungen fand der erste offen geführte Diskurs um Migration und Integration sowie die nachholende Integrationspolitik statt. Das kann die Menschen nur überfordern. Darüber hinaus sind die Printmedien Anfang des neuen Jahrhunderts in eine tiefe Krise geraten, der sie mit polarisierender Berichterstattung begegnen. Das hat nicht unwesentlich zur Verschärfung des Diskurses beigetragen. Zeitgleich begingen die Attentäter des NSU ihre Untaten und die Sicherheitsdienste zeigten sich – gelinde gesagt – nicht von ihrer besten Seite. Auch dies brachte neue Brisanz in den Diskurs. Trotzdem hat sich im Jahr 2013 die Lage offenbar entspannt, die wilde Jugend scheint überwunden. Immer stärker wird über die Potenziale von Migration gesprochen. Dabei werden überwiegend funktionale Argumente angeführt, besonders mit Bezug auf demografische Entwicklungen und den Fachkräftemangel. Aber es wird immer noch zu wenig darüber gesprochen, was es bedeutet, ein Einwanderungsland zu sein. Einwanderungsgesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie alle Formen der Integration umfassen: Assimilation, Inklusion, Separation. Diese Begriffe suggerieren, dass Integration eine Einbahnstraße ist. Durch Migration wandelt sich die Gesellschaft aber insgesamt, und zwar in einer beschleunigten Eigendynamik.
Kein Fortschritt ohne Kontroversen
Die Politik muss Räume schaffen, in denen Teilhabe und Partizipation möglich sind, ohne eine bestimmte Form der kulturellen Integration als Ziel zu idealisieren. Denn auch selbstbestimmte Exklusion ist ein Bürgerrecht, das für alle Menschen gleichermaßen gilt. Diese Form des politischen Liberalismus macht Einwanderungsländer wie Kanada so attraktiv, besonders für hochqualifizierte Migranten. Man kann es als Gedankenexperiment an sich selbst testen: Wenn ich die Wahl habe, gehe ich in ein Land mit der Aufforderung „Pass dich an!“ oder in eines mit dem Motto „Bleib wie du bist, und gestalte mit!“?
Reife Einwanderungsgesellschaften zeichnen sich nicht durch konfliktfreie Gleichgewichte aus, sondern eher durch neue Kontroversen, zunehmende Differenzerfahrungen, neue Normalitäten sowie eine Vielfalt an Lebensentwürfen und Wechselbeziehungen. Je stärker die Integration voranschreitet, umso größer werden die Interessen- und Ressourcenkonflikte, einfach weil viel mehr Menschen teilhaben wollen und können. In starken Organisationen vertreten Interessengruppen und Minderheiten ihre Anliegen immer selbstbewusster, zugleich wächst die Zahl von Menschen mit Einwanderungsbiografie in Spitzenpositionen – beides Belege für eine gute Entwicklung. Die Tatsache, dass die Ablehnung in Teilen der Bevölkerung trotz (oder wegen) immer besser gelingender Integration zunimmt, kann auch auf (Kultur-)Rassismus hinweisen, der nicht verschwindet, wenn man ihn ignoriert. All diese Aspekte deuten darauf hin, dass die sogenannte Mehrheitsgesellschaft in den Fokus politischer Überzeugungs-arbeit rücken sollte.
Dabei ist einem großen Teil der deutschen Gesellschaft durchaus klar, dass es nicht um einen Kampf der Kulturen, Religionen oder Ethnien geht, sondern um unterschiedliche Interessen, Bedürfnisse und Teilhabeansprüche von Menschen beziehungsweise Gruppen. Akzeptanz und Konfliktfreudigkeit münden in eine konstruktive Konfliktbewältigung, die zu gesellschaftlichem Fortschritt und Zusammenhalt führt. Dennoch kann es auf dem Weg zur erwachsenen Einwanderungsgesellschaft mittelfristig noch zu Rückschlägen kommen. Die Jugendphase kann also durchaus länger dauern, als man es gern hätte, aber sie muss ein konstruktives Ende nehmen. Denn der Traum von der ewigen Jugend wäre in diesem Fall ein Alptraum.
Die Thesen dieses Beitrags führt der Autor in seinem 2014 erscheinenden Buch weiter aus: Aladin El-Mafaalani, Migrationssensibilität: Zum Umgang mit Globalität vor Ort, Beltz Juventa.