Crisis, what crisis?

Hermann Scheer hat ein sympathisches Buch über Die Politiker geschrieben. Doch die Idee der Freiheit kommt darin zu kurz

Das Buch beginnt sympathisch, weil nachvollziehbar. Da schildert Hermann Scheer, einer der bekanntesten sozialdemokratischen Parlamentarier, engagiert, links und kritisch, eine Wahlkampfsituation, wie sie klischeehafter und provinzieller nicht sein kann. Eine Podiumsdiskussion in einem Freibad, mitten im heißen Sommer, keine geladenen Gäste, sondern genötigte, die sich anhören sollen, was sie nicht wollen - und deshalb schon durch die Art der Veranstaltung politikverdrossen werden müssen. Hermann Scheer schildert hier eine Situation, die von der Ratlosigkeit, aber auch der Instinktlosigkeit des politischen Geschäfts unserer Tage zeugt: nicht auf der Ebene der großen Politik, sondern auf jener der kleinen, jener der ehrenamtlichen Parteimitglieder, die sich zwar Mühe geben, aber eben doch der Politik selbst einen Bärendienst erweisen.Von solchen Paradoxien ist das Buch übervoll. Auf fast 300 Seiten schildert Hermann Scheer auf spannende und aufschlussreiche Weise die Probleme des gegenwärtigen Politikgeschäfts. Der Autor zeigt sich dabei als Essayist mit Lust am Formulieren wie am Kritisieren. Dabei berührt er alle Themen, die die vermeintliche Krise unseres gegenwärtigen Politikgeschäftes berühren: etwa die Globalisierung, die Entparlamentarisierung der Politik und ihre Verbürokratisierung. Auch die modernen Medien bekommen ihren Teil weg. Am schlimmsten erscheint Scheer aber der Prozess der Entdemokratisierung der Demokratien. Da macht sich ein überzeugter Demokrat wirklich Sorgen.

Die Demokratie ist bedroht, doch Rettung naht

Scheer hält die Demokratie für bedroht. Seine Hauptdiagnose lautet: Die Demokratien verzichten zunehmend auf die Gestaltung von Politik, weil sie sich in einer Art stillschweigendem Einverständnis übergeordneten Prozessen, den herrschenden Ideen von Marktfreiheit, Neoliberalismus und globalen Deregulierung beugen, und sich damit selbst ihrer eigenen Möglichkeiten der Interessenwahrnehmung berauben. Schlimmer noch: Sie entfernen sich von den Interessen der Menschen.Aber Hermann Scheer hat noch eine zweite Botschaft: In den zivilen Gesellschaften entwickeln sich Alternativen, die den tatsächlichen Interessen zur Durchsetzung verhelfen. Diese verschaffen sich ihr Recht, so oder so. Damit aber formuliert Scheer zugleich ein Argument für die Zukunftsfähigkeit der Demokratien. Sie haben eine Perspektive, sie sind nicht dem Untergang geweiht. Politik kann sich revitalisieren. Dafür, dass dies so ist, zeigt Scheer Beispiele auf. Und er belegt, dass die Politik sich auf neue Art und Weise selber hilft, sich gleichsam selbst zu ihrem Recht verhilft. Die Hinweise auf attac, auf Nicht-Regierungsorganisationen ganz allgemein und auf neue soziale Bewegungen sprechen eine klare Sprache. Ja, die Demokratie ist für Hermann Scheer permanent in Gefahr; doch nein, sie ist noch nicht am Ende. Das Buch ist sympathisch, weil der Mann sympathisch ist. Aber hat er auch immer Recht? Warum wird die Freiheitsbewegung im Osten Europas 1989/90 nur kurz gestreift? Warum wird dies in erster Linie als Verlust für die Sicherheiten der Menschen in Osteuropa dargestellt und als Gefahr für die EU? Warum ist die Entmachtung der Kommunisten für Scheer in erster Linie eine Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion? Bei alldem vermisst der Leser einen Rekurs auf die wichtigste Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung: die individueller Freiheit. Fragwürdig ist auch Scheers Misstrauen gegenüber dem Prozess der europäischen Integration. Es ist eben ein Unterschied, ob man in der Globalisierung, im Drang der Menschen nach Freiheit in erster Linie den Willen nach Teilhabe, nach Emanzipation, nach Gestaltungsmöglichkeiten und neuen Chancen erblickt - oder ob man hierin primär den Zusammen-bruch eines Systems sozialer Schranken und Sicher-heiten, den Verlust politischer Gestaltungsmöglich-keiten alter Art erkennt.Die unmögliche Situation der Podiumsdiskussion im Freibad klärte übrigens Scheer dadurch, dass er vor den Augen der verdutzten Organisatoren einfach aufstand und ging. Auf dieser Ebene war das eine angemessene und originelle Antwort. Doch vor den Themen, die Scheer in seinem Buch anschneidet, kann man nicht davonlaufen. Bekanntlich kann auch hemmungsloser Optimismus Blindheit erzeugen.

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