Damit die SPD wieder aus dem Keller kommt
» Eine Politik, die diesen fundamentalen „Klimawandel“ nicht berücksichtigt, macht einen großen Fehler. Die SPD muss einen positiven Grunddiskurs gegenüber Land und Leuten zum zentralen Subtext ihrer Kommunikation machen.
Es fehlt nicht an Policies, es fehlt an Vertrauen
2. Grundannahme: Politische Grundsatzentscheidungen sind Entscheidungen emotionaler Natur, des Unterbewussten – und nicht das Ergebnis rationaler Kosten-Nutzen-Kalküle. Die Probleme der SPD sind nicht auf Ebene der Einzelpolitiken zu suchen, sondern moralischer und habitueller Natur: Sie sind Ausdruck eines fehlenden Vertrauens. Viele Menschen aus traditionellen Stammwählermilieus der SPD fühlen sich von der Partei nicht mehr respektiert und in ihren Wertvorstellungen und Interessen vertreten.
» Jede Lösung muss hier ansetzen und die emotionale Beziehung zum Elektorat kitten. Zu diesem Zweck lohnt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Gehirn- und Verhaltensforschung sowie der Sozialpsychologie.
3. Grundannahme: Die Suche nach Anerkennung – ebenfalls keine rationale, sondern eine emotionale Kategorie – ist eine zentrale Determinante menschlichen Verhaltens, wie Axel Honneth in Kampf um Anerkennung gezeigt hat. Seitdem traditionelle Arbeitnehmermilieus in der SPD zurückgedrängt worden sind, hat es die Partei allerdings nicht geschafft, die Werte und Erwartungen der Durchschnittsbevölkerung zu würdigen. Im Gegenteil: Oft hat sie sich sogar ein überwiegend negatives Framing ihrer Wünsche und Bedürfnisse zu Eigen gemacht.
» Die SPD muss eine konsequente Rhetorik und Politik der (moralischen) Anerkennung praktizieren, die die Leistungen und Beiträge der „Normalbürger“ für den Wohlstand und die Wohlgeordnetheit Deutschlands systematisch hervorhebt und anerkennt. Dies gilt besonders für das Thema Einwanderung: Die Integrations- und Aufnahmeleistung, die die deutsche Gesellschaft seit Jahrzehnten erbringt, muss endlich angemessen gewürdigt werden.
Wandel und Reformen wollen die Leute nicht
4. Grundannahme: Der Reform-Begriff ist, ebenso wie der Begriff des Wandels, politisch verbraucht, wenn nicht kontraproduktiv geworden. In Zeiten großer Instabilität und Zukunftsunsicherheit wollen die Durchschnittsbürger keine Veränderung, sondern sie wollen das, was gut funktioniert, bewahren. Wandel und Reformen werden daher als potenzielle Bedrohung von vertrauten und bewährten Lebensverhältnissen empfunden.
» Die SPD muss als Bewahrerin eines erreichten Niveaus an politischer, ökonomischer und sozialer Stabilität auftreten, statt permanent die Wirklichkeit infrage zu stellen, die für die Mehrheit der Menschen hierzulande gut funktioniert. Wandel und Reformen sollten stattdessen der Verteidigung eines erreichten Niveaus an politischen, sozialen und kulturellen Rechten dienen.
5. Grundannahme: Die Frage der (sozioökonomischen) Verteilungsgerechtigkeit ist eine zentrale Determinante einer Politik der Gerechtigkeit. Wie Richard Wilkinson und Kate Pickett empirisch belegen, ist Verteilungsgerechtigkeit eine Schlüssel-größe für die Lösung zentraler politischer und gesellschaftlicher Herausforderungen; sie bestimmt indirekt auch den Umfang und Finanzierungsbedarf des Sozialstaates.
» Die Herausforderung für die SPD besteht darin, das Problem der Verteilungsgerechtigkeit auf eine Art und Weise zu thematisieren, die mit der gesellschaftlichen Grundstimmung in Deutschland kompatibel ist. Verteilungsgerechtigkeit muss als Mittel für die Lösung gesellschaftlicher und wirtschaft-licher Herausforderungen wahrgenommen werden. Das heißt: Die Verteilungsfrage sollte in erster Linie nicht als eine Frage der sozialen Gerechtigkeit behandelt werden, sondern als eine Frage makroökonomischer Rationalität und langfristiger Wachstumssicherung („wage led growth“, Dynamisierung des Binnenmarktes, Entlastung von Abgaben- und Sozialsystemen von Ausgleichszwängen und Kampf gegen Finanz- und Spekulationsblasen).
6. Grundannahme: Soziale Gerechtigkeit bleibt ein zentrales politisches Thema. Aber die Vorstellungen von Gerechtigkeit haben sich verändert. Gerechtigkeit ist im Wesentlichen eine moralische (und emotionale) Kategorie: Urteile über Fairness und Angemessenheit spielen ebenso eine Rolle wie die Frage der Zugangsberechtigung. Das heißt aber auch, dass in zunehmend heterogenen Gesellschaften der Begriff der Solidarität nicht mehr als ein von Begründungszwängen befreiter Begriff betrachtet werden kann, dessen universelle Akzeptanz feststeht.
» Ein politisch mobilisierbarer Gerechtigkeits- und Solidaritätsbegriff muss sich auf moralische Kategorien stützen können, die von der Mehrheit der Gesellschaft akzeptiert werden. Hier spielen die Reziprozitätslogik, bedingte (Gruppen-)Solidaritäten und Präferenzen für „Ähnliches“ eine große Rolle. Auch in dieser Frage ist eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Verhaltens- und wirtschaftspsychologischen Forschung wie der Ernst Fehrs notwendig.
Die SPD muss prüfen, inwieweit die zentralen politisch-institutionellen Instrumente und die jeweiligen SPD-Positionen diesen Erkenntnissen entsprechen.
Konkrete Lösungen sind sekundär
7. Grundannahme: Einzel- und Sektorpolitiken entscheiden nicht über den Erfolg oder Misserfolg bei Wahlen. Das heißt aber nicht, dass diese unwichtig sind. Sie sind wichtig für die Ex-post-Rationalisierung des emotionalen Urteils und als symbolische Konkretisierungen der Werteorientierung der Partei. Sie sind ein testimonial dafür, wie die Umsetzung der moralischen Grundprinzipien der jeweiligen Partei konkret aussehen kann. Aber ohne vorgeschaltete emotionale Akzeptanz des „Senders“ muss jede Botschaft unwirksam bleiben. Im Kern geht es beim Wahlakt um Vertrauen, nicht um rationale Nutzenoptimierung.
» Einzelpolitiken zu definieren ist keine prioritäre, sondern eine sekundäre Aufgabe. Sektor- und Einzelpolitiken übernehmen bestenfalls eine Hilfsfunktion hinsichtlich der Überzeugung der Wählerschaft – mehr nicht. Erst wenn die Vertrauensbasis wieder hergestellt ist, können sich Einzelpolitiken überhaupt auf das Wahlverhalten auswirken.