Deutschland 2017: Haus ohne Hüter?
Das Jahr 2016 war, um es einmal vorsichtig zu formulieren, kein gutes Jahr für die etablierten Parteien, weder in Deutschland noch anderswo. Das lässt auch für 2017 wenig Positives erwarten. In den Niederlanden, in Frankreich, möglicherweise in Italien und natürlich in Deutschland stehen Wahlen an. Und überall stellt sich dieselbe Frage: Wie sehr können die etablierten Parteien jener populistischen Welle widerstehen, deren jüngster Brecher gerade „The Donald“ ins Weiße Haus gespült hat?
Erfolgreiche Schadensbegrenzung bedarf der richtigen Interpretation der politischen Gefechtslage, des Zeitgeistes und der politischen Grundstimmung. Vieles deutet darauf hin, dass wir gerade einen Bruch des Globalisierungs- und Europäisierungsoptimismus erleben. Die Veränderungen dieser Jahre haben fast alle Lebensbereiche betroffen, ohne dass alle Teile der Bevölkerung der reicheren Industriestaaten diese Veränderungen als wirklich positiv empfunden hätten: die Umverteilung der Einkommen von unten nach oben, die Aushöhlung der politischen Macht der Bürger und der Handlungsfähigkeit der demokratischen Nationalstaaten, damit verbunden der Rückbau sozialer Errungenschaften und eine spürbare Veränderung von Lebenswelt und Alltagsräumen durch Migrationsprozesse sowie Multikulturalismus.
Change is a four letter word
Mit den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Finanzkrise hat die Kritik an diesen Entwicklungen zugenommen und findet tendenziell mehr Zustimmung. Hinzu kommen die Konflikte an den Rändern Europas, die dem Eindruck Vorschub leisten, dass sich die Welt im Chaos befindet – ein Chaos, das sich in Form von Terrorismus und Wanderungsbewegungen auch seinen Weg in unsere europäischen Gesellschaften bahnt. Die Politik hat in den vergangenen zehn Jahren vor allem gezeigt, was sie nicht geregelt bekommt: die Banken, die Schulden, die Einkommensverteilung, die Grenzen, die Konflikte dieser Welt und auch den Schutz der Bürger vor Terrorismus und religiös fanatisierter Gewalt.
Im Laufe dieser Entwicklung hat sich die Erwartung der Menschen an die Politik grundlegend gewandelt. Dies gilt besonders für diejenigen sozialen Milieus, die historisch gesehen dem sozialdemokratischen Wählerklientel zugehören. Das politische Versprechen der Veränderung – der Wesenskern „progressiver“ Modernisierungs- und Reformpolitik – ist keines mehr. In einer Welt, die im Chaos ist, bedeutet Veränderung keine Verheißung mehr, sondern eine Bedrohung: Change is a four letter word. Statt Öffnung und Wandel erwarten die Bürger Schutz und Bewahrung. Zugespitzt formuliert: Bisher erwarteten die Menschen von der Politik eine Steuerung von Globalisierung und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen. Jetzt sehnen sich viele nach deren Ende.
Die etablierte Politik hat auf diese veränderten Erwartungen bisher in keinerlei Form zu reagieren gewusst. Der britische Publizist David Goodhart hat dieses Auseinanderlaufen der Erwartungen von Bürgern und Politik einmal so beschrieben: „Ein implizites Versprechen moderner Demokratien lautet, dass -jeder Bürger sein eigenes Leben bis zu einem gewissen Grad selbst kontrollieren kann … (Das) postuliert implizit auch ein grundlegendes Recht auf eine gewisse Stabilität und Kontinuität in Bezug auf die Welt, in der man lebt und die eigene Lebensweise. In der heutigen Welt ist dies ein Versprechen, das demokratische Politik immer schwerer einlösen kann beziehungsweise einlösen will.“
Der Geist einer anderen Epoche
Diese Feststellung gilt besonders für die linke Mitte Europas. Wie gering das Sensorium der linken Mitte für die Veränderungen der vergangenen Jahre ist, zeigt sich nicht zuletzt an ihrer Reaktion auf die Erfolge der Rechtspopulisten. Immer wieder werden die Erklärungsversuche auf eine sozioökonomische Dimension reduziert: Der Neoliberalismus und die Finanzkrise hätten die Gesellschaft polarisiert und soziale Abstiegsprozesse in Gang gesetzt. Die Wähler reagierten nun politisch „irrational“, indem sie ihre Stimme den Populisten gäben. Natürlich ist die soziale Entwicklung ein Teil des Problems. Aber den Menschen geht es längst um viel mehr als um das Geld auf ihrem Bankkonto: Es geht ihnen um ihre Welt, so wie sie sie kennen und schätzen. Wolfgang Merkel hat auf diesen Zusammenhang nach der Wahl Donald Trumps hingewiesen: „Man mag bezweifeln, dass die wirtschaftliche Lage das treibende Motiv hinter der Stimmabgabe war. It’s not the economy, stupid.“
Die beginnende Debatte in der SPD über die Aufstellung für den Wahlkampf 2017 lässt – zumindest aus der Ferne betrachtet – nur begrenzt erkennen, dass die Partei diese grundlegende Veränderung des politischen Wettbewerbs zur Kenntnis nimmt. Die unter dem Titel „Wir schreiben Zukunft“ formulierten Thesen zur programmatischen Aufstellung für das kommende Wahljahr atmen eher den Geist einer anderen Epoche: als „Zukunft“ noch ein Versprechen war und die Gewissheit herrschte, dass die Kunst des Politischen im Wesentlichen im Feintuning des Sozialstaats bestand.
Das Amt des »Behüters« ist unbesetzt
Nichts an den Vorschlägen ist falsch an sich, aber in der Summe greifen sie viel zu kurz. Sie lassen wenig Gespür für das wachsende Verlangen nach Schutz, der Bewahrung von kultureller Identität und der Rückgewinnung von Kontrolle über die eigenen Lebensumstände erkennen. Sie vermeiden genau jene Art von Positionierung, um die es dem verunsicherten Teil der Bevölkerung im Kern geht: die Gewissheit, dass sich das handelnde politische Personal in erster Linie dem jeweiligen Land und seinen Bürgern verpflichtet fühlt. Es ist dieses Gefühl, das sowohl die Brexiteers als auch Trump bedient haben.
Es ist mir fast schon ein bisschen unangenehm, in diesem Zusammenhang erneut auf Jonathan Haidts The Righteous Mind zu verweisen. Haidt schildert in diesem Buch, wie sehr politische Überzeugungen und Loyalitäten auf emotionalen und moralischen Urteilen beruhen – und wie nachrangig „sachpolitische“ Argumente sind. Damit ist die sachpolitische Arbeit der Ebenen natürlich nicht entwertet: Irgendwann müssen Wertepositionen auch in konkrete Politik übersetzt werden. Aber die Frage nach dem großen Ganzen und den Werten und Menschen, denen sich eine politische Partei verpflichtet zeigt, ist entscheidend. Sie bestimmt über den Ausgang Wahlen. Und irgendetwas muss in dieser Hinsicht in den vergangenen zwanzig Jahren schief gelaufen sein: Sonst wäre die Zahl der SPD-Wähler nicht von 20 Millionen (1998) auf 11,2 Millionen (2013) gesunken.
Die weltweite Krise der Entgrenzungsideologien führt in Deutschland dazu, dass sich die Ausgangslage der vergangenen Bundestagswahl zuspitzt – mit dem Unterschied, dass das Vertrauen in die Funktionseliten damals noch deutlich intakter war. Bereits damals betrachteten die Deutschen ihr Land als „bedrohtes Paradies“, so die Formulierung des Rheingold-Instituts. Vor vier Jahren war es Angela Merkel, die dieses Lebensgefühl politisch aufzunehmen wusste und das Land, seine Ordnung und seine (zunehmend wieder positiv besetzte) Identität zu bewahren versprach. Die Kanzlerin hat seither ihr größtes politisches Kapital – das echte Vertrauen der Bürger, die knappste und wertvollste Ressource der repräsentativen Demokratie überhaupt – in einem verblüffenden Akt von politischem Harakiri weitgehend verspielt. Das Amt des „Behüters“ dieses Landes und seiner „kleinen Leute“ ist unbesetzt. Umso bedauerlicher ist es, dass die Sozialdemokratie in ihrer heutigen ideologischen Verfasstheit weder willens noch in der Lage ist, diese Rolle zu übernehmen. Andere werden diese Lücke füllen.