Das Zeitalter des Sowohl-als-auch ist vorüber
Am Tag der Landtagswahlen fanden, von den Medien unbeachtet, Nachwahlen für drei Sitze in der französischen Nationalversammlung statt. In zwei Wahlkreisen im industriellen Norden des Landes kamen die Kandidaten der Parti Socialiste (PS) nicht einmal in die Stichwahl. Sie lagen weit abgeschlagen hinter dem Front National. Im dritten Wahlkreis, gelegen im Pariser Speckgürtel, gelang es der PS immerhin, in die zweite Runde einzuziehen: mit 12,89 Prozent der Stimmen, einem baden-württembergischen Ergebnis. Gewinnen wird auch hier die (bürgerliche) Rechte.
Am selben Sonntag erlebte die SPD einen rabenschwarzen Wahltag: In zwei Bundesländern landete sie hinter der AfD. Dies allein wäre schlimm genug, aber wirklich beunruhigend ist die Wählersoziologie dieses Debakels. Baden-Württemberg ist das Bundesland mit dem höchsten Anteil der Industriebeschäftigten und dem höchsten Industrieanteil am Bruttoinlandsprodukt. Dennoch wählten gerade einmal 13 Prozent der Arbeiter, 11 Prozent der Angestellten und 14 Prozent der Arbeitslosen die SPD. Die entsprechenden Werte der „Professorenpartei“ AfD lauteten 30, 17 und 32 Prozent. In Sachsen-Anhalt haben viermal so viele Arbeiter für die AfD gestimmt wie für die SPD. Und in der Gruppe der Arbeitslosen wählten nur 12 Prozent die SPD, aber 38 Prozent die AfD. In Rheinland-Pfalz fiel das Ergebnis besser aus, aber auch hier ist der Einbruch der AfD und der CDU in die klassischen Kleine-Leute-Milieus deutlich zu erkennen. Bei den französischen Regionalwahlen im Dezember hatte sich ein ähnliches Muster gezeigt: Die PS kam dort insgesamt auf 22 Prozent der Stimmen. Der Front National erzielte 39 Prozent, die bürgerliche Rechte 15 Prozent.
Die französischen und deutschen Zahlen belegen einmal mehr eine Entwicklung, die in anderen Ländern Europas schon seit längerem stattfindet und nun auch Deutschland erreicht hat: Die linke Mitte erreicht die kleinen Leute nicht mehr. Ihr Weltbild korrespondiert immer weniger mit dem der Arbeiter- und Angestelltenmilieus, von dem des entkoppelten Prekariats ganz zu schweigen. Der fast ein Jahrhundert lang von der Sozialdemokratie vollzogene politische Spagat zwischen sozial engagierten Mittelschichten und einfachen Arbeitnehmermilieus ist zu breit geworden.
Der Weg in die zweite Liga ist verdammt kurz
Die Parteien der linken Mitte haben an dieser Entwicklung durchaus ihren Anteil. Sie haben sich verändert, ihr Weltbild und ihre Programmatik haben sich verschoben. Aber letztlich sind es tiefer liegende Prozesse in der Gesellschaft selbst, die das Problem bestimmen. Die Weltanschauungen der beiden großen soziologischen Säulen der sozialdemokratischen Wählerbasis sind einfach nicht mehr kompatibel. Weit wichtiger für diese Entwicklung als sozioökonomische Faktoren sind soziokulturelle Fragen. Der „kosmopolitische“ Linksliberalismus der Mittelschichten und die Alltagsliberalität der Unterschichten haben keine Berührungspunkte mehr. Letztere haben das Gefühl, in ihrer Lebenswelt immer stärker den Preis für den ideologisierten Realitätsverlust der ersteren zu zahlen: in ihrem Lebensumfeld, in ihrem Arbeitsamt, in ihrer Lohntüte, in ihrem Schwimmbad.
Diese Entfremdung konnte den Parteien relativ egal sein, solange sie sich lediglich in Wahlenthaltung artikulierte. Das „Verschwinden des unteren Drittels“ (Wolfgang Merkel) aus der parlamentarischen Demokratie hat die linksliberalen Kräfte nie wirklich gestört, im Gegenteil. Das Problem stellt sich allerdings völlig anders dar, wenn diese Leute am Wahltag plötzlich wieder auftauchen – als Wähler rechtspopulistischer Parteien. Für die SPD ist diese Entwicklung doppelt gefährlich. Ihre Zustimmungswerte waren schon vor dem Auftauchen einer ernsthaften rechtspopulistischen Kraft in Wahlen und Umfragen auf 25 Prozent abgesunken. Die Substanz der SPD ist geringer als etwa die der nordischen Sozialdemokratien, der Weg in die zweite Liga fällt entsprechend kürzer aus.
Wenn diese Analyse stimmt, hätte das für die Sozialdemokratie relativ bittere Konsequenzen. Denn es würde bedeuten, dass die Zeiten des „Sowohl-als-auch“ vorbei sind. Die linke Mitte wird sich entscheiden müssen, welche Bevölkerungsgruppen sie in Zukunft im politischen System vertreten will: linksliberale Segmente der Mittelschichten oder die „kleinen Leute“, also die Arbeiter- und Arbeitslosen, die Schwachen ohne Migrationshintergrund. Beides zusammen geht nicht mehr. Das ist eine schwere Entscheidung, denn sie impliziert eine ideologische Neuaufstellung der linken Mitte und einen Abschied vom Linksliberalismus der vergangenen Jahrzehnte und seiner Kernbotschaft einer glücklich entgrenzten und multikulturellen Welt.
Für die Funktionärs- und Mandatsträgerschicht wäre dies vermutlich eine schwer zu akzeptierende Entwicklung. Auch dies zeigt der Blick auf andere Länder. In Frankreich, wo die soziale und kulturelle Herausforderung durch den Front National sehr viel stärker ist, wurde dies schon vor Jahren vom linksliberalen Think Tank „Terra Nova“ klar auf den Punkt gebracht: Die PS, so die These, solle sich von den Arbeitermilieus verabschieden und aus urbanen Mittelschichten und migrantischen Milieus eine neue „progressive“ Mehrheit schmieden.
Das Problem der SPD ist, dass eine solche Reduzierung auf linksliberale Milieus in Deutschland nicht funktionieren wird (in Frankreich funktioniert sie übrigens auch nicht). Dieses Terrain ist schon vielfach besetzt: von den Grünen, Teilen der Linken, Teilen der FDP und Teilen der CDU. Als eine Art „Grüne“ für den öffentlichen Dienst würde die SPD keine wirklich gesellschaftlich relevante Kraft mehr sein. Und natürlich entspräche ein solches Abschenken der Arbeitermilieus auch nicht dem Anspruch, den die Partei erfreulicherweise immer noch hat: die Interessen der politisch und sozial Schwächeren zu vertreten. „Schutzmacht der kleinen Leute“ wird man aber nicht, wenn man deren Weltbild permanent ignoriert.
Schmerzfreie Lösungen gibt es nicht mehr
Natürlich kann die Sozialdemokratie diesen ideologischen Häutungsprozess verweigern, allerdings nur um den Preis der Selbstverzwergung. Oder sie stellt sich dieser Herausforderung und versucht, ihre programmatischen Positionen wieder stärker mit den Erwartungen und Interessen der sozial schwächeren Milieus in Einklang zu bringen, also mit Arbeitern, kleinen Angestellten und Arbeitslosen. Angenehm wird dieser Prozess nicht. Das Krötenschlucken wechselt die Seiten, nachdem die Funktionseliten der linken Mitte ihren Stammwählermilieus jahrzehntelang die ökonomische und kulturelle Modernisierungspeitsche gegeben haben. Dabei werden es nicht die sozioökonomischen Themen und die Verteilungsfragen sein, die den Lakmustest der programmatischen Erneuerung darstellen (so wichtig sie auch sind). Entscheidend werden jene Fragen sein, die das Kerngerüst der ideologischen Identität des Linksliberalismus ausmachen: Zuwanderung, Multikulturalismus, das Projekt der europäischen Integration wie auch das Verhältnis zum Nationalstaat. Schmerzfreie Lösungen (und dazu zählt auch die aktuelle Debatte um Sozialinvestitionen im großen Stil) werden dabei nicht funktionieren. Die Zeit des Durchlavierens ist schlicht vorbei. In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod.