Das Ding ist gestorben. Oder doch noch nicht?
Wer in den vergangenen Wochen mit Menschen sprach, die sich aus parteipolitischen oder journalistischen Gründen mit dem Stand der rot-rot-grünen Dinge beschäftigen, blickte zumeist in skeptische Gesichter. Und das ist noch ziemlich zurückhaltend formuliert. „Das Ding ist gestorben“ – dieser Satz war mehr als einmal zu hören. Er bringt mehrere Aspekte auf einen Nenner: eine Ernüchterung mit Blick auf die Frage, ob 2017 eine parlamentarische Mehrheit links der Union aus SPD, Grünen und Linken praktisch wirksam werden könnte; eine enttäuschte Erwartung über Akteure in den jeweils anderen Parteien; vielleicht auch eine Irritation über die Dynamik von medial getriebenen Debatten vor dem Hintergrund außenpolitischer Fragen.
Es kommt noch etwas hinzu: Die rot-rot-grüne Diskussion, wenn man von einer solchen sprechen möchte, bewegt sich nicht zum ersten Mal entlang einer Art Fieberkurve. Mitunter liegen nur ein paar Tage zwischen großen Hoffnungen darauf, dass sich etwas ändert, damit sich endlich etwas ändert, und tiefer Resignation angesichts der politischen Entzündlichkeit alter und neuer Wunden.
Über Rot-Rot-Grün freut sich nur Angela Merkel so richtig
Freilich: Hier und da lebt Rot-Rot-Grün in einer Art Keimform bereits, es werden Treffen abgehalten und es wird über die Kooperation bestehender Netzwerke diskutiert – nicht selten in Hinterzimmern. Ein Anliegen einer Mehrheit der Gesellschaft, so hat es Horst Kahrs unlängst im neuen deutschland formuliert, ist diese Bündniskonstellation derzeit keineswegs, sondern bisher lediglich „eine Spielmarke des politisch-medialen Betriebs“. Oder anders gesagt: Für die SPD ist die Dreierkonstellation eine nachrangige machtpolitische Variante, für die Journalisten ein mehr oder weniger schlagzeilenträchtiges Thema, für die Linkspartei ein Schwungrad innerparteilicher Aushandlungsprozesse, für die Grünen eine Hintertür, durch die man gehen könnte, wenn es mit der Union doch nicht klappt. Und so freut sich über Rot-Rot-Grün wohl am ehesten Angela Merkel: Je unmöglicher diese Option erscheint, desto sicherer ist ihre Machtposition. Abgesehen davon, dass es immer noch Unionspolitiker gibt, die glauben, mit Verweis auf diese Farbkombination vor dem sozialistischen Untergang des Abendlandes warnen zu können.
Warum es dennoch lohnt, über Rot-Rot-Grün nachzudenken? Das liegt meines Erachtens auf der Hand, und zwar dreifach: Es ist angesichts der realen Verhältnisse, der sozialen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen nötig; es ist angesichts des vorhandenen Potenzials für Veränderungen verschiedener Reichweite möglich; und es ist im Vergleich zu anderen vorliegenden Optionen sinnvoll.
Es ist hier nicht der Platz, eine große Analyse der gegenwärtigen Welt aufzuschreiben. Wer Nachrichten schaut und die eine oder andere Studie liest, wird sich aber über den real existierenden Kapitalismus nicht allzu große Illusionen machen können. Alex Demirovic hat es einmal so formuliert: „Neben der Krise des Finanzmarktes und der Wirtschaft sind auch die gesellschaftlichen Naturverhältnisse in vielen Hinsichten gestört: Klima, Energie, Wasser, Ernährung; krisenhaft sind die städtischen Lebensformen, die Mobilität, die Bildungs- und Ausbildungsprozesse oder die Formen der Reproduktion des Subjekts. Der Bedarf an Reformen ist demnach groß und geht über Maßnahmen zur Bewältigung allein der gegenwärtigen wirtschaftlichen Krise weit hinaus. Mehr noch, er geht über die Krisensituation selbst hinaus, denn auch das, was als normal gilt, ist in vielerlei Hinsicht reformbedürftig.“
Rot-Rot-Grün ist als eine Option zu diskutieren, die auf diese Herausforderungen eine zeitlich und politisch begrenzte Antwort finden könnte. Im Grunde sind die Ziele, die bereits im Rahmen des ersten Crossover-Treffens in den neunziger Jahren – damals noch zwischen SPD, Grünen und PDS – formuliert wurden, immer noch aktuell: sozial-ökologischer Umbau der Industriegesellschaft, neuer planetarer Ausgleich zwischen Rohstoff- und Ökosystembesitzern auf der einen sowie industriellen Produzenten auf der anderen Seite; Neuverteilung der bezahlten Erwerbsarbeit und der unbezahlten Reproduktionsarbeit sowie der Einkommen; Entfesselung anderer gesellschaftlicher Innovationsmechanismen als denen der privaten Warenproduktion; Demokratisierung zur Sicherung von Freiheitsrechten auf neuer Grundlage und so fort.
Die drei Parteien setzen bei Zustandsbeschreibung, Kritik und Schlussfolgerung unterschiedliche Akzente. Das macht die Sache freilich nicht einfacher, es muss jedoch kein Hindernis sein. Die divergierenden Motive, Teilschritte, Interessensverbundenheiten, strategischen Ansätze, politischen Spielarten könnten sich, dieser Zweckoptimismus sei gestattet, in einem Raum des linksreformerisch Möglichen verbinden lassen. Regierungsbündnisse sind Teil dieses Raumes. Sich einzubilden, es handele sich dabei schon um das „ganze Haus“ wäre ebenso falsch wie der Glaube, man müsse sich in der (Partei-)Politik ausschließlich darauf konzentrieren, wer „in der Küche“ den Hut auf hat, wer Kellner ist und was auf dem Speiseplan einer Legislaturperiode steht.
»Sie kennen mich«, sagt die Kanzlerin. Wille zur Veränderung klingt anders
Gesellschaftliche Veränderung ist eine Aufgabe anderer Dimension. Sich dessen bewusst zu sein, wäre ebenso hilfreich wie anzuerkennen, dass ohne eine weitgehende sozial-ökologische Transformation, ohne deutliche Eingriffe in die Akkumulations- und Regulationsweise, ohne die erfolgreiche Konfrontation mit mächtigen Kapitalfraktionen, ohne einen grundlegenden Wandlungsprozess der demokratischen Beteiligungsformen, ohne den Konflikt mit bestehenden privaten Verfügungsrechten nicht zu haben sein wird, womit sich schon heute die Wahl- und Grundsatzprogramme der rot-rot-grünen Parteien schmücken. Man wird sich nichts vormachen dürfen: Darunter ist es nicht zu machen.
Auch wenn es nicht unbedingt immer danach aussieht, kann davon ausgegangen werden, dass ein großer Teil der Bevölkerung für Veränderungen ansprechbar ist. Dies ist nicht dasselbe wie die schon bestehende Zustimmung zu Verfahren, Zielen, Zwischenschritten. Die jüngsten Wahlen haben gezeigt, dass „Veränderung“ eher zurückhaltend betrachtet wird. Angela Merkel ist vergleichsweise erfolgreich, weil sie genau das Gegenteil verkörpert. In dem von der Kanzlerin im TV-Duell vor der Bundestagswahl ausgesprochenen Leitmotiv ihrer damaligen Kampagne – „Sie kennen mich“ – kam das ebenso wunderbar wie erschreckend zum Ausdruck.
Womit sich die politische Linke (von mir aus auch: das Mitte-links-Lager, oder soll man eher sozialstrukturell und dann also von einem „Mitte-unten-Bündnis“ reden?) konfrontieren muss: Trotz der unübersehbaren Krisenfolgen auch hierzulande, aber vor allem in Südeuropa, trotz mit Händen zu greifender Ungleichheit weltweit, aber auch in Deutschland, trotz der drängenden Signale, die für einen sozialen und ökologischen Kurswechsel sprechen – ein übergroßer Teil der Bevölkerung signalisiert bei aktuellen Wahlen derzeit keine große Veränderungsbereitschaft.
Die Frage ist, ob das schon ein Urteil über das „gesellschaftliche Bewusstsein“ erlaubt, über die Bedürfnisse und Wünsche von Mehrheiten, die deren Erfüllung womöglich aus schlechter Erfahrung nicht mehr so ohne Weiteres an das aktuelle parteipolitische Angebot adressieren. Das gegenwärtige Krisenbewusstsein in der Gesellschaft könnte man als sehr widersprüchlich ansehen. Es wechselt zwischen den Polen „Noch einmal davongekommen“, Aggressivität nach unten (Klassismus, Rassismus) und gegen außen (Nationalismus) sowie einer durchaus starken Ablehnung der herrschenden Imperative des Krisenkapitalismus.
In den vergangenen fünf Jahren sind viele Umfragen veröffentlicht worden, in denen Mehrheiten zum Ausdruck brachten, sie würden sich vom real existierenden Kapitalismus weder die Lösung globaler Probleme noch die Gewährung persönlicher sozialer Sicherheit versprechen. „Ein auf Solidarität und soziale Gerechtigkeit setzender neuer Linksreformismus“, so haben es Christoph Jünke und Daniel Kreutz schon unter dem Eindruck der seit 2007 laufenden Wirtschafts- und Finanzkrise, die zu einer Staatsschuldenkrise gemacht wurde, formuliert, könne eine reale Option sein, „wenn er im wirklichen Leben Gestalt annimmt, in gemeinsamer solidarischer Aktion und als soziale Bewegung“. Die zu beobachtende „Apathie und Einpassung in den Status quo bedeutet nicht, dass es kein sichtbares Potenzial für Veränderungen gäbe. Große Teile der deutschen Bevölkerung lehnen die herrschende Politik zumindest in wichtigen Einzelfragen ab. Und dies, ohne dass große Bewegungen in den Betrieben und auf der Straße die Kritik in die Köpfe ‚hineindemonstriert‘ hätten.“
Aber kommen wir an dieser Stelle wieder auf die rot-rot-grünen Parteien zurück – und werden wir skeptischer. Der Streit um die Außenpolitik, der Ukraine-Konflikt, die Diskussionen rund um die Bundestagsabstimmung zum Einsatz der Bundeswehr bei der Chemiewaffen-Vernichtung im Mittelmeer, die Reaktionen auf die außenpolitische Rede des Bundespräsidenten Joachim Gauck, der Beschluss der SPD zur „Öffnung“ gegenüber der Linken und das seither anhaltende Hinhalten von europapolitischen, sicherheitspolitischen, außenpolitischen Stöckchen, über welche die Linkspartei zu springen habe – all das scheint gegen ein linksreformerisches Bündnis zu sprechen. Der zu Beginn zitierte Satz „Das Ding ist gestorben“ hat derzeit vorderhand mit der schieren Unmöglichkeit einer gemeinsamen rot-rot-grünen Linie in der Außenpolitik zu tun.
Was ist »verantwortungsvolle« Europa- und Außenpolitik?
Im so genannten Öffnungsbeschluss der Sozialdemokraten wird auf eine „verantwortungsvolle Europa- und Außenpolitik im Rahmen unserer internationalen Verpflichtungen“ bestanden. Was in diesem Sinne „verantwortungsvoll“ ist, kann die SPD nicht allein aus ihrer bisherigen Praxis ableiten, die oft auch die Fortsetzung von anderen eingeschlagenen Wegen war. Das wäre keine Politik mehr, die ja immer auch eines zum Ziel haben muss: Es besser, anders zu machen. Gründe dafür gibt es zuhauf. Ebenso wenig wird sie sich hinter bestehenden internationalen Verträgen verstecken können. Diese lassen sich ändern, wenn man das will und es mit einer Perspektive verbunden ist, die im Sinne eines linksreformerischen Projektes wäre – die also zum Beispiel die Sorgen anderer Staaten berücksichtigt, welche keineswegs in Jubel ausbrechen werden, wenn die Bundesrepublik nicht mehr im transatlantischen Militärbündnis eingehegt wäre. Eine Fortentwicklung der Europäischen Union, gegebenenfalls auch durch eine Neuformulierung ihrer konstitutionellen Grundlagen, ist nicht per se Unfug, im Gegenteil. Es ließe sich ein demokratischer Prozess vorstellen, der soziale, ökologische und bessere wirtschaftliche Imperative verankert. In der Begrenzung von Waffenexporten und Rüstungsindustrie in Verbindung mit Konversionsstrategien für die Beschäftigten sind Schnittmengen vorhanden, gleiches gilt für die Entwicklungspolitik und die vorausschauende Konfliktbewältigung.
Es hat Ansätze gegeben, die Debatte über die Schwierigkeiten rot-rot-grüner Außenpolitik aus dem parteipolitischen Sandkasten herauszuholen. Alle Beispiele können hier nicht aufgezählt werden. Niels Annen und Stefan Liebich haben in der Zeitschrift spw über die „Stolperfalle Militäreinsätze“ diskutiert. Von der Potsdamer Zeitschrift Welttrends wurde im vergangenen Jahr eine ganze Sammlung von Diskussionsbeiträgen aus SPD, Grünen und Linken dokumentiert – versehen mit dem Hinweis, „dass eine argumentative Auseinandersetzung mit den vermeintlich unvereinbaren Positionen nach wie vor aussteht“. Nach der Bundestagswahl haben Liebich und die Sprecherin für Sicherheitspolitik und Abrüstung der Grünen, Agnieszka Brugger, einen rot-rot-grünen Aufbruch in der Außenpolitik gefordert und erklärt, ein „Weiter so“ der sozialdemokratischen Außen- und Sicherheitspolitik der vergangenen Jahre werde es „mit uns nicht geben“. Sozialdemokratische Linke antworteten prompt: Vieles, so Hilde Mattheis und Ute Finckh-Krämer, könne man unterschreiben und es sei ja auch SPD-Programm. „Ja, wir müssen uns bewegen“, schrieben die beiden Sozialdemokratinnen. „Aber ihr euch auch.“
Richtig: Appelle dieser Art machen noch keinen politischen Frühling. Und dass in der Frage der Außenpolitik große Knackpunkte liegen, gilt lange schon als erster Hauptsatz linker Regierungsdynamik. Schärfere Rhetorik, gerade zwischen Linkspartei und Grünen, hört man sonst selten. Aber auch die SPD verweist gern und laut darauf, dass die Linkspartei außenpolitisch isoliert sei. An dieser Stelle ist nicht der Platz, diesen Stellungskampf aufzulösen. So wenig es vernünftig ist, wenn vor allem die SPD die Linkspartei bei diesem Thema wie eine Schwererziehbare behandelt, die erst dann politisch satisfaktionsfähig wird, wenn sie dieselben Positionen wie die Sozialdemokratie eingenommen hat, so richtig ist der Hinweis darauf, dass eine Aufstellung der Linken an ihren „roten Haltelinien“ auch noch kein Problem löst und einige schwierige, offene Fragen hinterlässt.
Ist die SPD überhaupt bereit, den Reichtum anders zu verteilen?
Eine Anmerkung sei aber gestattet: Die Diskussion über die Unmöglichkeit außenpolitischer Einigkeit hinterlässt mehr und mehr den Eindruck, als komme das vor allem denen zupass, die dahinter eine ganz andere Frage zum Verschwinden bringen können: die der Umverteilung. Ist die SPD eigentlich noch bereit, eine Kehrtwende in der gesellschaftlichen Reichtumsverteilung einzuleiten, die diesen Namen auch verdient? Werden sich bei den Grünen womöglich diejenigen durchsetzen, die von Steuererhöhungen nichts mehr wissen wollen? Welche Nachwirkungen hat die Akzeptanz des Prinzips „Schuldenbremse“? Während der französische Ökonom Thomas Piketty mit einem Buch über das strukturelle Auseinanderklaffen zwischen Oben und Unten Furore macht, das auf eine steuerpolitische Pointe zuläuft, wachsen Zweifel daran, dass im rot-rot-grünen Lager hier der längste Hebel angesetzt werden wird. Dabei liegen doch gerade hier die größten Erwartungen an ein rot-rot-grünes Bündnis. Es geht um Dinge, die das Leben der Mehrheit stärker betreffen als die Außenpolitik: die Finanzierung von Kommunen, das Fundament öffentlicher Teilhabe, die Gestaltungsmöglichkeiten von Politik überhaupt. Das Problem eines echten Kurswechsels in der Außenpolitik verschwindet deshalb natürlich nicht. Aber ist es das Thema, das eine gesellschaftliche Linke, die sich für „die zentralen ökonomischen und sozialen Frage von morgen“ interessiert, wie es die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, unlängst formulierte, in den Vordergrund stellt?
Es ist im Sommer 2014 nicht weniger richtig als im Herbst 2013: Wer über die Schwierigkeiten einer Mehrheit links der Union reden möchte, findet dazu viel leichter Anlässe als jene, die Argumente für die Praktikabilität eines sozial-ökologischen Politikwechsels suchen. Ein „linkes Lager“ existiere auch als Eventualität nicht, hat Arno Klönne nach der Bundestagswahl bilanziert. Und ebenso wenig eine „linke Mehrheit“ in der politischen Mentalität der Bevölkerung.
Die Diskurshoheit liegt derzeit rechts der Mitte
Andere Beobachter haben unter dem Rubrum „linkes Lager“ etwas optimistischer auf die Möglichkeit einer Kooperation von Parteien links der Union verwiesen. Benjamin Mikfeld sieht wiederum eine Mehrheit der Wahlbürger, welche „die von den Konservativen propagierte ökonomische Stabilität, ergänzt um die eine oder andere sozialpolitische Korrektur“ möchte. „Die Diskurshoheit über die zentrale Frage der Wohlstandssicherung liegt derzeit rechts der Mitte.“ Und richtig ist auch, dass die in Wahlergebnissen zum Ausdruck kommende gesellschaftliche Basis für eine Mehrheit links von der Union im Herbst 2013 so schmal war wie seit 1990 nicht mehr.
Wie in den Jahren zuvor grüßt täglich das rot-rot-grüne Murmeltier mit Vorbedingungen, Vorhaltungen, Vorurteilen. Wenn, um nur ein Beispiel von vielen zu nennen, der Sozialdemokrat Ralf Stegner seine Ankündigung, einen dauerhaften Gesprächsfaden zur Linkspartei zu knüpfen, mit dem Ultimatum verbindet, diese müsse sich zunächst gravierend ändern, ja gewissermaßen in zentralen Fragen zu einer SPD werden, wird eine gegenseitige Blockade reproduziert, deren Überwindung angeblich auf der Tagesordnung steht. Die Kritik ließe sich freilich auch in Richtung der Linken formulieren, wo es einige offenbar als ihre Hauptaufgabe ansehen, der SPD deren Vergangenheit vorzuhalten.
Wichtig wäre deshalb eine drastische Entideologisierung von Rot-Rot-Grün. Nie und nimmer wird das zu einem „gemeinsamen Projekt“ in dem Sinne, der heutzutage darunter noch verstanden wird. Je nüchterner betrachtet wird, was eine parlamentarische Zusammenarbeit auf Bundesebene bedeutet, welche Grenzen sie hat und was dabei trotzdem im Sinne der durchaus unterschiedlichen Zielsetzungen von Partnern herauskommen kann, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Versuch dennoch unternommen wird.
Er kann – natürlich – in der Praxis dennoch scheitern. Was müsste eine linksreformerische Regierung dafür tun, dass man sie für „gelungen“ hält? Sie müsste mehr sein als eine Regierung. Das will erklärt sein:
Nicht nur, aber vor allem auf parteipolitischer Ebene sollten sich die Akteure weniger als „Regierungslinke“ denn als „Transformationslinke“ verstehen. Das bedeutet: Eine Koalitionsbeteiligung sollte nicht länger als bloß machtpolitisch gedachte Verwaltungsfrage angesehen werden, die bessere Voraussetzungen für kommende Wahlen bietet – und, ach ja, auch ein paar Regelungschancen, die nach der Logik der Bedienung von Kernwählerschaften ins Werk zu setzen sind. Sondern vielmehr als Möglichkeit realer Transformation, also eines gesellschaftlichen Umbaus, der weder binnen einer Legislaturperiode zu schaffen ist, noch auf Regierungshandeln allein begrenzt sein kann. Eine solche Mitte-links-Regierung würde die Unterschiedlichkeit der Ausgangspunkte akzeptieren können, hätte jedoch stets im Blick, dass die Interessenlagen einer sie stützenden Mehrheit divergieren – und müsste sich daran messen lassen, ob sie die Bedingung für sozialen und ökologischen Umbau, für die Entstehung von neuen Räumen der Selbstermächtigung, der Selbstorganisierung, von Inseln solidarischer Ökonomie verbessert. Ohne diese Keime des Neuen im Alten nämlich wird eine Mitte-links-Regierung nichts sein. Außer eine Regierung.
Für eine Kultur des gewollten Kontrollverlustes
Die Begrenztheit des parlamentarischen Wirkens wird auch eine Mitte-links-Koalition sehr deutlich spüren, sie wird unter dem Druck starker Interessengruppen agieren, die nicht einfach verschwinden werden, unter dem Eindruck institutioneller Mechaniken, die sich nicht sehr schnell verändern lassen, unter den Bedingungen des von anderen Überlassenen, das beim Atommüll losgeht und bei den tiefe Spuren hinterlassenden strukturellen Ungleichheiten noch nicht aufhört. Gesetze, Traditionen, Verträge, Handlungslogiken, das Nicht-Wissen um die langfristige Wirkung eigener Projekte, die Beharrungskraft der Bürokratie – all das gehört zu den Bedingungen linksreformerischer Parlamentspolitik. Umso zentraler ist es, dass diese Begrenztheit offensiv politisiert wird, dass sie zum Thema gemacht und zu einem Gegenstand dauerhafter Aufklärung wird. Dazu gehört, dass jene nicht als „Feind“ oder Schlechtredner betrachtet werden, die von Anfang an oder aus Enttäuschung aufgrund ausbleibender schneller Erfolge Anhänger eines grundlegenden Oppositionsparadigmas werden oder bleiben. Ohne ihren Druck, ohne ihre Kritik und ohne ihre stets über den Horizont des gerade gefundenen Kompromisses hinausgehenden Forderungen wird eine Mitte-links-Regierung nichts sein. Außer eine Regierung.
Dies in Rechnung gestellt, werden die Akteure einer linksreformerischen Koalition nicht Zuflucht in politischen Wagenburgen suchen, wenn das „eigene Klientel“ oder die jeweiligen Organisationsteile auf die Barrikaden gehen. Das bedarf einer Kultur des gewollten Kontrollverlustes, der Wiederaneignung wirklicher demokratischer Verfahren, eines gelassenen Verständnisses von den unterschiedlichen Rollen von Bewegungen, Wählern, Parteien, Fraktionen und der Regierung selbst. Eine gesellschaftliche Veränderungsdynamik nach links wird nicht in Gang kommen, wenn die möglichen Bremshebel für daran interessierte Akteure weiterhin so leicht erreichbar bleiben: Fraktionszwang, Parteidisziplin, Machthierarchien und so weiter. Dagegen mögen Rotationsmodelle, die Trennung von Amt und Mandat oder andere institutionalisierte Gewichte gegen Tendenzen der Bürokratisierung und Beutementalität helfen, entscheidend aber ist die Bereitschaft der Beteiligten zu akzeptieren, dass man immer auch „zu sich selbst in Opposition“ treten muss, wie es Thomas Seibert formuliert. Eine Mitte-links-Regierung, die Kritik entweder als Majestätsbeleidigung oder parteipolitische Blutgrätsche eines Partners begreift, und die sich der Rolle der veröffentlichten Meinung in einem solchen Prozess nicht bewusst macht, wird nichts sein. Außer eine Regierung.
Eine linksreformerische Regierung müsste ein völlig neues Verhältnis zu (alten und neuen) sozialen Bewegungen einnehmen, diese als Antreiber und Verteidiger zugleich betrachten. Dabei geht es nicht nur um die großen Fische. Gesellschaftliche Konflikte nehmen heute nicht mehr gleich immer die Dimension sozialer und politischer Großauseinandersetzungen an wie jene um die Atompolitik. Sie sind oft „kleiner“, betreffen begrenzte Klientele und Fragestellungen, sie sind deshalb aber für eine transformatorische Praxis nicht weniger wichtig. Eine linksreformerische Koalition wird das auf der Straße und in den Betrieben bestehende Druckpotenzial, das ja nicht bloß wegen eines Regierungswechsels verschwindet, sondern dann erst zu einer neuen Rolle findet, als Motor begreifen müssen. Hier liegt die Messlatte für die eigene Politik, hier wächst das Treibmittel für neue Veränderungen, hier entsteht auch die Bastion, die im Zweifel zur Verteidigung von Veränderungen bereit ist. Dabei geht es nicht darum, Bewegungen „auszurufen“ oder administrativ zu „organisieren“, sie zu umschmeicheln oder lobbyistisch einzuhegen.
Sondern es geht um eine Praxis, die der Beteiligungsrhetorik der Parteien links der Union überhaupt erst entspricht. Ohne eine lebendige, kritische, oppositionelle und oft auch nervige Gesellschaft der Selbstbewegung wird eine Mitte-links-Regierung nichts sein. Außer eine Regierung.
Transformatorischer Populismus als Treibstoff wirklicher Veränderung
Und schließlich müsste sich auch eine Regierungsmehrheit links der Union, wenn sie denn etwas anderes sein will als nur eine etwas sozialere und ökologischere Variante der Verwaltung des Bestehenden, eines „transformatorischen Populismus“ bedienen. Dabei geht es gerade nicht um Vereinfachung, um die Instrumentalisierung des Denkens, von Gefühlen, von Konflikten, sondern darum, die Basis für wirkliche Veränderung zu verbreitern. Bisherige Mitte-links-Regierungen sind oft als Koalitionen der nachholenden Korrektur gebildet worden. Vorherige Regierungen hatten Sozialabbau betrieben, Haushalte ruiniert, den Interessen gesellschaftlicher Minderheiten gedient oder soziale und kulturelle Umbauten im Sinne besserer Kapitalverwertung organisiert. Bisweilen wurden Korrekturen auch erreicht, wurden Gesetze rückgängig gemacht. Oft aber erreichte die Politik jener Mitte-links-Regierungen (wenn sie nicht ohnehin einem ganz anderen Paradigma etwa des neoliberal inspirierten Standortdenkens verpflichtet waren) nicht die Ebene gesellschaftlicher Veränderung „nach vorne“, also über die Grenzen des Bisherigen hinaus.
Eine Mitte-links-Regierung wird in der kurzen Frist ihrer Koalitionszeit Themen besetzen und Projekte anschieben müssen, in denen „Utopie wohnt“, die auch jenseits ihrer unmittelbaren Wirksamkeit erkennen lassen, dass Veränderung möglich ist, welche die Angstbesetztheit sozialen und ökologischen Wandels durch die praktische Erfahrung überwindet – dass es nicht nur geht, sondern auch Spaß macht und sinnvoll ist. Es geht um Attraktivität über den unmittelbaren Kreis der von linksreformerischen Veränderungen Begünstigten hinaus, auch um mediale Aufmerksamkeit. Ohne einen „transformatorischen Populismus“ wird eine Mitte-links-Regierung nichts sein. Außer eine Regierung.
Dieser Text basiert in Teilen auf der Flugschrift "Linke Mehrheit? Über Rot-Rot-Grün, politische Bündnisse und Hegemonie", die 2014 im VSA-Verlag erschienen ist.