Das Ende der Angststarre: Deutschland braucht einen neuen Konsens der Parteien



Man muss CDU und CSU dankbar sein. Sie demonstrieren, zeitlich versetzt, die Schwierigkeiten, die auch die Regierung Schröder hatte bei dem Versuch, die Politik den neuen Realitäten anzupassen. Jenseits des aktuellen Reformstreites stellt sich aber die grundsätzliche Frage, ob die Parteiendemokratie, wie wir sie kennen, noch in der Lage ist, den Wandel konstruktiv zu gestalten.


Die Parteiendemokratie beruht auf zwei Prinzipien, die in ständiger Spannung zueinander stehen: Im Parteienwettbewerb muss jede Partei versuchen, möglichst viele Stimmen zu erhalten. Verhalte Dich so, dass Dich möglichst viele Wähler wählen – so lautet die eine Maxime. Es ist legitim für Parteien, an den eigenen Vorteil zu denken. Ohne Parteienwettbewerb und die damit verbundene Parteiräson ist Demokratie nicht denkbar. Aber auf Dauer ist sie auch nicht denkbar ohne den Blick aufs Ganze und in die Zukunft. Früher sprach man vom Gemeinwohl, später von der Staatsräson. Damit Parteien und Demokratie ihre Legitimität nicht verlieren, müssen Regierungen handlungsfähig und in der Lage sein, die wichtigsten Probleme zu lösen.


Die Agenda 2010 und der Reformstreit in der Union werfen nun die Frage auf, ob in der gegenwärtigen „Verfassung“ des Landes ein Ausgleich zwischen Partei- und Staatsräson leichter, schwieriger oder ziemlich unwahrscheinlich geworden ist. Jede Regierung, welche die Last der notwendigen Veränderungen alleine auf ihre Schultern nimmt, läuft Gefahr, bei den folgenden Wahlen einzubrechen. Da dies so ist und Regierung und Opposition es auch wissen, werden sie aus eben diesem Grunde lieber auf (weiter reichende) Reformen verzichten. Wenn das aber alle so machen, wird zwar immer weiter gewählt, aber immer weniger entschieden. Während früher Demokratien von außen bedroht waren durch extreme Gruppen, Parteien, Verfassungsfeinde, besteht die künftige Gefahr für Demokratien darin, dass sie von innen korrodieren – durch Entscheidungsschwäche und deren negative Folgen für Wohlstand und Wohlfahrt.


Der Bundestagsabgeordnete Norbert Röttgen hat jüngst auf die „Angststarre“ hingewiesen, welche Regierung, Opposition und Bürger lähme. Die Politiker verweisen auf die Wähler, die sich aus dem Staube machen, wenn es bei Reformen konkret wird. Die Wähler werfen den Politikern vor, dass sie die Probleme nicht lösen. Beide sind voneinander ziemlich frustriert. Die Regierung starrt furchtsam auf die Opposition, die bei jeder Gelegenheit eine möglichst große Rendite all der Unzufriedenheiten einzufahren versucht, die stets mit einer unpopulären Politik verbunden sind. Am Ende sind sie dann alle in einer Art hypnotischer Angststarre vereint – in einer ganz großen Koalition der Furchtsamen und der Kleingläubigen.


Bisher haben sich die Blockaden immer wieder auflösen lassen, etwa durch eine freiwillige Kooperation, also durch das Verhalten der Beteiligten. Vetospieler können blockieren oder kooperieren. Unter welchen Bedingungen werden sie eher das eine oder das andere tun? Freiwillige Kooperation ist immer auch von kulturellen, sozialen und ökonomischen Faktoren abhängig: Die eigenen Erfahrungen haben es den Kriegs- und Nachkriegsgenerationen leichter gemacht, freiwillige Kooperation zu praktizieren und die Partei- oder Verbandsräson zu transzendieren. So haben Gewerkschafter nach 1945 zugunsten von belasteten Unternehmern ausgesagt, schließlich wollte man gemeinsam die Fabrik und das Land wieder aufbauen. Die Honoratioren der alten Parteien waren vermutlich eher zu einer freiwilligen Kooperation in der Lage als ihre Nachfolger, die in Ochsentouren aufgestiegen sind. In wirtschaftlich guten Zeiten fällt freiwillige Kooperation leichter als in schlechten Zeiten.

Wer macht es billiger?

Blockaden lassen sich auflösen, eine vernünftige Politik sich leichter durchsetzen, wenn es gelingt, die Bedingungen der politischen Rationalität zu ändern, durch Wissenschaft, Medien, politische Aufklärung. Auch Denkwerkstätten und politische Zeitschriften wie die Berliner Republik spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Druck aus der Öffentlichkeit macht Reformen leichter möglich. Eine Partei, der die eigenen Machtinteressen wichtiger sind als die Zukunftsinteressen des Landes, würde dann ihre Wahlchancen verschlechtern. Der politische Unterbietungswettbewerb („Wer macht es billiger?“) ließe sich des weiteren unterbrechen, indem man den Parteienwettbewerb für eine gewisse Zeit außer Kraft setzt, um auf diese Weise zu verhindern, dass eine Partei (die jeweilige Opposition) die kurzfristigen Nachteile einer langfristig richtigen Politik für ihre Zwecke ausbeutet. Schließlich gibt es noch den „politischen Unternehmer“ im Sinne Schumpeters, der eine „riskante“ Politik anbietet, dafür um Zustimmung wirbt und damit Erfolg hat oder scheitert. Ein solcher „politischer Unternehmer“ kann sich in einer straff geführten Partei wie der SPD leichter durchsetzen als in der Union, deren Konstruktionsprinzip (zwei unabhängige Parteien) eine starke Führung der Union gerade verhindert.


Vor der Alternative, entweder bei Wahlen zu scheitern oder angesichts der Zukunftsprobleme, können Parteien und Parteiendemokratie nicht einfach so weiter machen wie bisher. In welcher Konstellation auch immer: Durch starke Persönlichkeiten und/oder durch eine Große Koalition ist ein neuer, in die Zukunft weisender Konsens zu organisieren, der in vielerlei Hinsicht einer Neugründung der Republik gleichkommt.

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