Einheit? Spaltung? Vielfalt!



1 Parteien entstehen, haben ihre große Zeit und schwinden dann dahin. Sie sterben nicht durch äußere Feinde, sondern an innerer Auszehrung. Es sei denn, sie schaffen es, sich neu zu erfinden. Ist die Sozialdemokratie dazu in der Lage? Man darf zweifeln. Zu den bekannten Ursachen für den Niedergang der Volksparteien kommen bei der Sozialdemokratie erschwerende innere und äußere Umstände hinzu. „Die Genossen sind Gefangene ihrer Traditionen“ (Hans-Jürgen Arlt). Sie haben es nicht gelernt, auf produktive Weise mit Vielfalt umzugehen.

Die Stärke der SPD kommt aus einem traditionellen Organisationsverständnis mit Oben und Unten, Drinnen und Draußen, ein Ziel, ein Weg – und sonst nur Irrtum oder Verrat. Im Zeitalter des Internet hingegen dominiert das Netzwerk, in dem solche Grenzen nur noch Blockaden sind. Die SPD ist eine Programmpartei. Nirgendwo sonst wird so leidenschaftlich (und unversöhnlich) über Absätze, Nebensätze, Spiegelstriche eines Grundsatzprogramms debattiert. Grundsatzprogramme interessieren heute aber niemanden mehr. Die Kommunikation in der Gesellschaft läuft nicht länger von oben nach unten über Programme. Die SPD denkt die Gesellschaft aus der Perspektive der Partei, nicht die Partei aus der Perspektive der Gesellschaft. Nirgendwo ist die Binnenfixierung so stark wie hier. Parteien aber werden für die Menschen immer marginaler; sie sind schon lange nicht mehr das Maß aller politischen Dinge. Die SPD sieht sich als Zentrum, von dem aus die Politik in die „richtige“ Richtung gesteuert wird. Die moderne Gesellschaft lässt sich aber von keinem Zentrum aus mehr steuern.

2 Wie kommt die SPD wieder auf die Beine? Schröder und Müntefering haben es mit der Agenda 2010 versucht. Die Folgen sind bekannt. Ein ähnlicher Versuch in diese Richtung ist innerparteilich auf lange Sicht verbrannt. Sigmar Gabriel und Andrea Nahles haben die Agenda 2010 abgewickelt und so die Partei erst einmal konsolidiert. Das hat Ruhe an der Front, aber keinen Aufbruch gebracht. Die SPD als Schutz und Schirm der Schwachen, als eine Art Transfergemeinschaft von Hartz IV oder als Betriebsrat der Nation – das ergibt zwar eine Marke, aber keine Mehrheit. Also sagen die Wohlwollenden: Ergänzt doch das soziale Angebot nach unten durch eine Wachstumsperspektive nach oben, die auch die modernen urbanen Schichten anspricht. Das ist gut gedacht, es gibt nur ein Problem: Innerhalb des traditionellen Parteienbildes der SPD ist eine Ergänzung beider Positionen auf dem Papier leicht möglich, in der konkreten Politik aber werden die beiden Positionen von den jeweiligen Hardcore-Anhängern als gegensätzlich erlebt – und die alten Kontroversen brechen sofort wieder auf, so unversöhnlich und feindselig wie bisher. Auf der Suche nach einer falschen Einheit und Geschlossenheit findet die gebeutelte SPD keinen Königsweg in die Zukunft.

Aber auch Spaltung und Abwanderung helfen der SPD nicht wieder auf die Beine. Die Grünen hat die SPD schon vor dreißig Jahren verloren – das hat die SPD nur älter und ärmer, aber nicht geschlossener gemacht. Später sind in die Linkspartei aus den Altkadern die Falschen gegangen, aber aus der SPD nicht alle, die in der Linkspartei besser aufgehoben gewesen wären. Das erschwert nach außen Koalitionen und sorgt innen für Lähmung und Stillstand.
Liegt die Zukunft der SPD vielleicht gar nicht in der weiteren Einheit und Geschlossenheit um jeden Preis, sondern ganz im Gegenteil in ihrer Vielfalt und Verschiedenheit? Kann, darf oder sollte man sich die SPD besser als Dach von beispielsweise zwei oder drei unterschiedlichen Richtungen denken, die nicht insgeheim auf ihren Einigungsparteitag warten, von dem alle wissen, dass er nie kommt, sondern die sich gegenseitig in ihrer Verschiedenheit anerkennen und respektieren und nur das Notwendige (Verfahren für Spitzenpositionen wie zum Beispiel für die Auswahl des Kanzlerkandidaten) gemeinsam regeln und, wenn auch das nicht mehr geht, die Sphären politisch und regional trennen – oder über die Partei „das Los werfen“?

Die positiven Folgen eines solchen Paradigmenwechsels wären nicht auszudenken. Dann könnten die Linken in der SPD endlich einmal richtig links sein und ihre Politik der sozialen Gerechtigkeit konsequent ausformulieren. Dann könnten endlich einmal die Stones und Netzwerker demonstrieren, wie eine moderne Sozialdemokratie aussehen müsste, die Wachstum und Wohlstand mit sozialem Ausgleich verbindet. Der Zwang zu inhaltsleeren Formelkompromissen wäre für alle vorbei; die Botschaften aus der SPD wären so vielstimmig wie bisher, aber um vieles interessanter. Die diversen Grüppchen, Richtungen und Fraktionen investieren ihre beträchtlichen Ressourcen an Zeit, Geld und Loyalitäten nicht länger darein, wie Warlords in unbesiedelten Gebieten Geländegewinne zu machen und den innerparteilichen Gegner niederzukämpfen. Stattdessen arbeiten sie daran, ihre Positionen in der Sache und in der Öffentlichkeit stark zu machen. Die einen versuchen nicht länger zu verhindern oder zu verwässern, was den anderen politisch wichtig ist, sondern punkten mit der eigenen Stärke und Überzeugungskraft. Den Rest besorgen die öffentliche Debatte und die Wahlergebnisse.

Dieser Paradigmenwechsel ist in der SPD wie auch in anderen Parteien noch jenseits aller Vorstellungen. Zwischen den Parteien, Schwarz-Gelb sei dank, bahnt er sich freilich ganz langsam an. Die gegenwärtige Regierungskoalition hat deutlich gemacht, wohin der Glaube an falsche Gemeinsamkeiten („Traumkoalition“) führen kann. Wo die Gemeinsamkeiten fehlen, versucht jeder zu verhindern, was dem anderen wichtig ist: Die CDU verhindert Steuererleichterungen, die FDP verhindert eine sozial ausgewogene Politik – und so schrumpfen sie denn beide gemeinsam. Die Alternative wäre eine Koalition der Verschiedenen, die sich auf intelligente Weise ergänzen und voneinander lernen.

3 So wird es natürlich nicht kommen. Allen Parteien fällt es schwer, sich von den Mustern der Vergangenheit zu lösen, aber der SPD mehr als der CDU und den Grünen. Der Ballast der Tradition hängt an ihr wie Bleigewichte, und so wird sich nicht viel ändern. Das schließt nicht aus, dass sie da und dort mal mitregiert, in manchen Städten (Hamburg, Bremen) auch mit guten Ergebnissen. Sie darf auf den Zufall hoffen und darauf, dass sich eine Regierung mit der Zeit verbraucht und sie dann vielleicht sogar den Kanzler stellt. Aber aus eigener Kraft wird sie nicht mehr lange ganz oben mitspielen. Das mag man bedauern. Ohne Flankierung durch die SPD tragen Union und Grüne die soziale Gerechtigkeit in zerbrechlichen Gefäßen. Der Wettbewerb der Systeme und der Wettbewerb der einstigen Volksparteien haben Deutschland gut getan. Aber das ist Geschichte. «

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