Das Kopftuch ist nicht die Gefahr
Das alles, weil unsere Kinder von netten, intelligenten, gut Deutsch sprechenden Lehrerinnen arglistig zum Islamismus verführt werden. Diese halten zwar alle deutschen Gesetze und die Lehrpläne unserer Bildungsbürokratie ein. Aber ein bestimmtes Kleidungsstück, das die emanzipierte deutsche Frau heute nur noch im Fahrtwind des Audi TT Cabrio trägt, wollen sie partout nicht ablegen. Und damit also werben sie subversiv für ihre Gesinnung? Ich glaube ja schon fast nichts - und jetzt soll ich ausgerechnet das glauben?
Ich hatte einen Traum. Die Bundeswehr ist in Bayern einmarschiert, Stoiber verhaftet, die Schulen sind besetzt. Weil sich die Landesregierung weigerte, die Kruzifixe aus öffentlichen Gebäuden zu entfernen und christliche Nonnen in voller Verhüllung als Lehrkräfte einsetzte. Aber wir sind ja, obwohl auch bei uns Kirchen und Staat getrennt sein sollen - Adenauer und Godesberger Programm sei Dank - nicht in der kemalistischen Türkei oder im laizistischen Frankreich. Trotz der christlichen Hinrichtungssymbole in öffentlichen Gebäuden verlassen die Leute scharenweise die Kirchen. Trotz der Kreuze hat unsere Jugend (hoffentlich geschützten) Sex vor der Ehe. Und das ist auch gut so. Also abhängen, ablegen oder nicht, aber bitte, bitte, das Ganze tiefer hängen!
So gefährlich wie die Lieder von Cat Stevens
Diese Debatte hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner "Kopftuch-Entscheidung" provoziert, gewollt oder ungewollt. Es hat den Streit über Leitkulturen, Integration oder Assimilierung, um das staatliche Neutralitätsgebot erst so richtig angefacht. Weil unser Grundgesetz ein Kopftuchverbot nicht fordert, wohl auch nicht deckt und, meines Erachtens, auch verbietet. Vielleicht auch in der Hoffnung, es werde unterschiedliche Landesgesetze, Umsetzungen in der Praxis und jede Menge Klagen geben. Warum auch nicht, die Gerichte sollen ja was zu tun haben. Die Länder sind zuständig, als öffentliche Arbeitgeber und Kultusbehörden; der Bund nur, wenn es um Bundesbedienstete geht oder wenn Bundespolitik und Bundesparteien diesen Streit zum Thema machen wollen.
Für die CDU/CSU scheint mit Blick auf die Europawahlen und gegen Rot-Grün der Zeitpunkt günstig, die Ängste vor Terror und Islamismus sowie den EU-Beitritt der Türkei mit einer Anti-Kopftuch-Kampagne zu verbinden. In Nordrhein-Westfalen bemüht die CDU sogar die christliche Orientierung der Landesverfassung aus guten alten Nachkriegszeiten, als die Union noch mit absoluten Mehrheiten regierte. Damals wären Kopftücher wohl nicht verbannt worden.
Sie gehörten, wie die Straffreiheit der Züchtigung und Vergewaltigung von Ehefrauen, zu den durchaus üblichen Gewohnheiten der christlichen Kulturgemeinschaft und zum normalen Straßenbild. Wie die Verhüllung von Frauen überhaupt eine gemeinsame Tradition vieler Weltreligionen und besonders der abrahamäischen Religionsgeschwister, Islam, Christen- und Judentum ist. Nicht wenige Aussiedlerinnen deutscher Abstammung sind auch heute noch Mitglieder und Anhänger traditioneller christlicher Sekten, die das alte Frauenbild bewahren, viele Kinder bekommen und in der Öffentlichkeit immer Kopftuch tragen. Wir wollen Sie integrieren.
Was ist, wenn sie demnächst in städtischen Kindergärten arbeiten wollen, aber vielleicht genauso lange für ihren sozialen und kulturellen Wandel brauchen, wie einst die Mehrheit unserer Gesellschaft und viele - nicht die Mehrheit - der muslimischen Frauen in Deutschland? Die engagierten Frauen haben Recht, wenn sie das Kopftuch als das Symbol der Frauenunterdrückung ablehnen. Aber können sie ihre Auffassung allen Frauen aufzwingen, unabhängig von deren Biografie, Herkunft, Religion und individuellen Moralvorstellungen? Nein. Auch Frauenbewegte, die selbst einst Miniröcke und Büstenhalter ablehnten und sich in wallende, modeverweigernde Gewänder hüllten, während wir Jungs selbstverständlich mit Palästinensertüchern und Che-Guevara-Mützen auf die Penne gingen, sollten individuelle Biografien und Motive der muslimischen Mädchen und Frauen für ein Kopftuch akzeptieren.
Die islamische Welt ist so differenziert wie das Christentum. Ja, es gibt auch Zwänge, wie die Kindstaufe in die elterliche Glaubensgemeinschaft. Aber nicht immer ist es Zwang. Oft ist die zur Schau getragene Religion die einzige Gemeinsamkeit, die noch mit den Eltern bleibt. Die Frauen bewahren sie, obwohl sie sich längst an unserer Mehrheits-Kultur orientieren und dennoch die Eltern nicht verlieren wollen. Was spricht eigentlich gegen eine aufgeklärte und selbstbewusste muslimische Frau, die das Kopftuch genauso bewusst aufgrund ihrer eigenen Moral und Integrität gegen lüsterne Männerblicke tragen will?
Ich halte das für übertrieben, aber ich kann und darf das nicht für diese Frau entscheiden. Ihr Recht dazu werde ich im Sinne Voltaires und Rosa Luxemburgs mit meinem Leben verteidigen. Gelassener und frei nach dem Alten Fritz: Jede soll nach ihrer Fasson selig werden. Wir verehren Cassius Clay auch als Muhammad Ali, und wir hören immer noch die alten Songs von Cat Stevens, obwohl der schon lange Yusuf Islam heißt. Könnten Kopftuch tragende Lehrerinnen oder Erzieherinnen gefährlicher sein? Ich halte das für eine Hysterie, die die Würde der Betroffenen verletzt.
Macht alle Kinder stark!
Die Arbeitgeber, egal ob öffentlich oder privat, können Dienst- und Kleiderordnungen erlassen. Das ist ihr Recht und meist zweckmäßig. Für Beamtinnen mit hoheitlichen Aufgaben ergeben sich auch besondere Pflichten. Aber all das muss mit der Verfassung und den Gesetzen konform gehen, die alle einhalten sollen. Es darf nicht von aktuellen Stimmungen, Interessen, Ideologien oder Verschwörungstheorien abhängen.
Wir würden ja - wie absurd - genau die Sichtweisen, Propagandamittel und Spielregeln religiöser Fundamentalisten übernehmen, wenn wir alle muslimischen Kopftuchträgerinnen über einen Kamm scherten und in eine politisch gesteuerte islamistische Ecke stellten. Unsere demokratische Gesellschaft wird sich gegen Extremismus und totalitäre Ideologien nur wehren können, wenn sie nicht nur durch innere Sicherheit, sondern auch in ihren Rechten und Pflichten für alle, ihrer Pluralität und Streitkultur eine attraktive, überlegene Alternative für die Menschen darstellt.
Also: Entweder alle religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisse und Symbole in Schulen verbieten - oder sie zulassen und gleich behandeln. Wir müssen alle Kinder, die hier leben und lernen, stark machen, aufklären und ihre Entwicklung zu kritischen, mündigen Staatsbürgerinnen und -bürgern fördern. Dies funktioniert nicht ohne die gegenseitige Akzeptanz der unterschiedlichen kulturellen Identitäten und Symbole und den unbedingten Willen zur gewaltfreien, demokratischen Konfliktlösung.
Statt Kopftücher zu verbieten, sollten sich Gesellschaft und Staat intensiv um solche Nischen kümmern, in denen es immer noch - nicht nur zur religiösen - Erziehung gehört, Kinder zu schlagen. Dazu zählen oft private Koranschulen. Manche Eltern wollen die Züchtigung ihrer Kinder. Das wird auch in der angeblichen Leitkultur leider nicht von allen abgelehnt. Die Wurzeln dieses Übels sind identisch.
Zum Schluss: Ich glaube doch etwas. Die Länderparlamente werden entscheiden, je nach Interessen, Einflussnahme und Mehrheiten. Klagen werden folgen, Gesetze kassiert werden. Die ganze Debatte wird mitsamt den Betroffenen, gegen die Absicht der interessierten Fundamentalisten aller Seiten, schon bald im modernen pluralistischen Europa der gleichberechtigten Regionen und Kulturen des 21. Jahrhunderts landen. Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Nationalis-mus, also der politische Missbrauch kultureller Unterschiede wird nicht mehr toleriert und unter schwere Strafe gestellt. Wenn es helfen würde, trüge ich dafür im Bundestag sogar ein Kopftuch.