Das Sicherheitsdilemma der SPD

In der Großen Koalition verstehen sich die Sozialdemokraten heute gern als liberale Bremser des Sicherheitsprogramms der Union. Was aber, wenn die SPD demnächst den Innenminister zu stellen hätte? Die Partei wäre vollkommen orientierungslos, warnt unser Autor

Die Innere Sicherheit gilt als konservatives Terrain; mit der SPD wird sie eher nicht verbunden. Das war nicht immer so. Bis in die neunziger Jahre galt das Thema als linksliberal. Während der sozial-liberalen Koalition von 1969 bis 1982 gelang es der FDP, auf diesem Gebiet ein sichtbares Profil zu entwickeln, von dem sie noch heute zehrt. Die SPD hingegen war stets ambivalent. Einerseits identifizierte sich besonders ihr linker Parteiflügel mit der Position, bei Sicherheitsfragen immer auch an den Schutz der Bürger vor staatlichen Übergriffen zu denken. Andererseits war den Sozialdemokraten das Thema nie ganz geheuer, da große Teile ihrer Wähler und Mitglieder der Diskussion um Bürger- und Individualrechte nur wenig abgewinnen konnten.

Nicht von ungefähr überließ die SPD das Innenministerium in allen sozial-liberalen Koalitionen auf der Bundesebene stets bereitwillig der FDP. In den beiden Großen Koalitionen fiel das Ressort ohnehin jeweils ganz selbstverständlich an die Union. Diese stillschweigende Arbeitsteilung, die sich häufig auch in den Ländern findet, änderte sich erst mit dem Aufkommen rot-grüner Koalitionen. Die Grünen lassen allein deshalb die Finger von diesem Ressort, weil ein grüner Innenminister immer der Gefahr ausgesetzt wäre, Polizisten gegen das eigene, demonstrationsfreudige Wählerklientel einzusetzen. In rot-grünen Regierungen ging das Innenministerium bislang immer an die SPD.

Mit Otto Schily saß erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ein sozialdemokratischer Innenminister am Kabinettstisch. Das Publikum kannte Schily noch aus seinen Jahren bei den Grünen und erwartete von ihm einen linksliberalen Kurs. In Wirklichkeit entwickelte er sich zu einem „strengen“ Innenpolitiker. Mit zwei Sicherheitspaketen und einer Rhetorik des „starken Staates“ besetzte Schily das Politikfeld Innere Sicherheit derart entschlossen, dass es den Unionsparteien buchstäblich die Sprache verschlug.

Gemessen am Wählervotum war diese Strategie äußerst erfolgreich. Beim Thema Innere Sicherheit gab die SPD gegenüber den Unionsparteien eindeutig die Linie vor. Der grüne Koalitionspartner wiederum schluckte Schilys Politik, wenn auch widerwillig. Der Verweis auf den 11. September und die akute Gefährdungslage erübrigte ausführliche Debatten über Ziele und Instrumente einer rot-grünen beziehungsweise sozialdemokratischen Politik der Inneren Sicherheit.

Otto Schily hinterließ kaum Spuren

Doch welche Wirkung hatte Schilys Vorgehen langfristig für die Politik und Handlungsfähigkeit der SPD auf diesem Themengebiet? Die Antwort wurde mit Antritt der Großen Koalition geliefert: Ungemein schnell gewann der neue Innenminister Wolfgang Schäuble die Begriffs- und Strategiehoheit über das Thema Innere Sicherheit zurück. Bald wurde sichtbar, dass Schily keine langfristig wirkenden Strukturen festgezogen, keine eigenständigen Eckpunkte, geschweige denn programmatische Leitideen einer integrierten Sicherheitspolitik hinterlassen hatte. Er hatte allenfalls den Rahmen gesetzt, den Schäuble nun konsequent mit dem altbewährten konservativen Programm des starken und entschlossen handelnden Staates ausfüllte.

Seither spielt die SPD eine undankbare Rolle. Sie reagiert nur, während die Union agiert. Auch gegen Widerstände aus der SPD geht Schäuble – strategisch gut durchdacht – einen Schritt nach dem anderen voran. Die SPD ist hilflos, weil sie sich ständig den Vorwurf gefallen lassen muss, unter Schily ebenfalls eine harte Haltung vertreten zu haben. So fällt der SPD die Rolle des bloßen Bremsers zu, der für eine gewisse Zeit weitere Zuspitzungen verhindern kann – mehr aber auch nicht.

Den Wettstreit nach diesem Muster kann die SPD nicht gewinnen. Wieder steht sie vor dem Dilemma, dass die Mehrheit ihrer Wähler und Parteimitglieder die konservative Sicherheitspolitik befürwortet. Sollte die Sozialdemokratie das Feld der Inneren Sicherheit also komplett räumen? Um diese Frage zu beantworten, lohnt ein Blick zurück.

Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 steht die Politik der Inneren Sicherheit ganz unter dem Eindruck des Kampfes gegen den Terrorismus. Bereits wenige Monate nach dem Anschlag wurden mit den Sicherheitspaketen I und II eine Vielzahl von Kompetenzen der Sicherheitsbehörden erweitert, sicherheitsrelevante Gesetze verschärft, biometrische Ausweispapiere beschlossen, die Sicherheitsüberprüfungen auf eine Reihe von Berufsgruppen ausgeweitet, der Zugriff der Strafverfolgungsbehörden auf Daten der Sozialbehörden erleichtert. Damit sind die Grundsteine für die weiteren Jahre gelegt worden. Vier Tendenzen sind zu nennen:

Zentralisierung. Die Befugnisse der Sicherheitsbehörden des Bundes werden kontinuierlich ausgebaut. Es ist das erkennbare Ziel der Bundesregierung, dem Bundeskriminalamt bei schweren Kriminalitätsfällen sowie bei der Terrorismusbekämpfung die alleinige beziehungsweise federführende Zuständigkeit zu übertragen – zulasten der Länder und der Landeskriminalämter. Auch bei der Bundespolizei gibt es Zentralisierungstendenzen. Übte ihr Vorgänger, der Bundesgrenzschutz, neben den Grenzschutzaufgaben jahrzehntelang eine Reihe ergänzender polizeilicher Spezialtätigkeiten aus (etwa den Schutz von Botschaften und Bundesorganen), wird hier eine eigene Polizeihoheit des Bundes reklamiert. Die Terrorismusbekämpfung hat sich dabei als ein sehr wirkungsvolles Argument gegenüber den Ländern erwiesen. Dass sich die Aufgaben mit den Länderpolizeien überlappen, ist programmiert. Genau deshalb werden immer wieder Forderungen laut, die Landeskriminalämter auf wesentlichen Gebieten dem Bundeskriminalamt zu unterstellen oder die Bundespolizei mit dem Schutz der landesübergreifenden Verkehrswege (Wasser, Straße, Schiene, Luft) zu beauftragen. Die Länderpolizeien blieben dann für die allgemeine Gefahrenabwehr sowie kleine und mittlere Kriminalitätsformen zuständig. Der Einsatz der Bundeswehr für besondere Aufgaben im Inneren ist die logische Fortführung dieses Denkansatzes.

Relativierung des Trennungsgebotes. Die ursprünglich strengeTrennung zwischen den Aufgaben der Polizei und denen der Nachrichtendienste wurde im Laufe der bundesrepublikanischen Geschichte relativiert. Beispielsweise wurden die Nachrichtendienste immer stärker in die Beobachtung der organisierten Kriminalität einbezogen. Und das, obwohl das Trennungsgebot erstens ein moralischer Imperativ ist, der sich aus der deutschen Geschichte ableitet, zweitens auf faktisch sehr unterschiedliche Tätigkeiten zurückgeht und drittens auch aus guten Gründen der demokratischen Kontrolle sensibler Kompetenzen gilt. Der 11. September war nicht der Grund für die neuen Aufgabenzuweisungen, er erweist sich jedoch als ihr Katalysator.

Gefangen in der Zuspitzungsspirale

Umfassende Verschärfung der Sicherheitsgesetze. Darüber hinaus wurden nach dem 11. September nahezu alle Sicherheitsgesetze verschärft. Die Zugriffsmöglichkeiten der Sicherheitsbehörden auf Datenbestände haben enorm zugenommen, Grundsätze der informationellen Selbstbestimmung sowie das Bankgeheimnis wurden in vielen Punkten aufgeweicht. Besonders auffallend ist, dass jeder vereitelte Anschlag in Deutschland – eigentlich ein Erfolg, der für die Qualität der bestehenden Sicherheitsorgane spricht – zum Anlass genommen wird, weitere Verschärfungen und Kompetenzerweitungen zu reklamieren. Welche konkreten Ergebnisse die immer neuen Befugnisse bringen, wird in dieser „Zuspitzungsspirale“ zur Nebensache.

Zunahme der gesellschaftlichen Kontrolle. Mit den rechtlichen und organisatorischen Änderungen geht auch eine Ausweitung der gesellschaftlichen Kontrolle einher. In den neunziger Jahren gab es noch Grundsatzdebatten über Videokontrollen auf öffentlichen Plätzen. Heute sind diese nur noch eine Frage des rechtlichen Rahmens beziehungsweise der Finanzierbarkeit. Das gleiche gilt für die fortschreitende Vernetzung der Datenbestände.

Vor diesem Hintergrund lautet das Problem der SPD, dass sie ihre eigene sicherheitspolitische Position nicht entlang ebenso eindeutiger wie nachvollziehbarer Prinzipien aufzeigen kann. Müsste sie heute das Bundesinnenministerium übernehmen, wäre sie vollkommen orientierungslos. In einer Ampelkoalition wüsste sie nicht, ob sie diese Konstellation nutzen sollte für eine andere Politik der Inneren Sicherheit, oder ob sie die Rolle des gemäßigt konservativen Bremsers übernehmen sollte. Sie wäre aber auch nicht vorbereitet auf eine weitere Großen Koalition mit einer Union, die sich bei einem guten Wahlergebnis bestätigt sähe und das konservative Sicherheitsprogramm entschlossener denn je weiterentwickeln würde. Der SPD bliebe dann die Rolle des gemäßigt liberalen Bremsers. Gestalterisch wären beide Rollen nicht. Innerparteilich und im wahlpolitischen Wettbewerb vor dem Wähler würde es sie weiter zerreißen.

Welche Optionen bleiben? Im Prinzip nur die, den liberalen Sicherheitsdiskurs aufzugreifen und ihn mit dem sozialdemokratischen Staatsverständnis zu verbinden. Die SPD müsste die Zukunft des deutschen Sicherheitssystems aus staatlicher Perspektive entwickeln – anders als die von zivilgesellschaftlichen Prinzipien geleiteten Grünen und die Linksliberalen in der FDP mit ihren Rechtsprinzipien. Was heißt das genau?

Mehr als Polizei und Nachrichtendienste

Erstens sollte sich die SPD einer integrierten Sicherheitspolitik zuwenden. Innere Sicherheit umfasst mehr als Polizei und Nachrichtendienste. Längst haben sich auch die Kommunen zu „Sicherheitsproduzenten“ entwickelt, etwa indem sie kriminalpräventive Räte oder Ordnungs- und Sicherheitspartnerschaften organisieren. Der Katastrophenschutz ist zu einer eigenständigen Säule im Sicherheitsverbund geworden. Die private Sicherheitswirtschaft boomt und drängt immer stärker in den öffentlichen Raum. Auch das Feld der Unternehmenssicherheit ist längst über den betulichen Werkschutz hinausgewachsen und hat professionelle Strukturen herausgebildet. Integrierte Sicherheit bedeutet nicht, alles irgendwie miteinander „zu vernetzen“, sondern vor allem klare Aufgabenabgrenzungen und Kompetenzbeschneidungen zu formulieren, wenn nicht ein undurchschaubarer Sicherheitsmoloch das Ergebnis sein soll.

Damit ist zweitens verbunden, das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft neu zu bestimmen. Denn der Staat hat kein Monopol mehr auf dem Gebiet der Sicherheitsproduktion, immer stärker gerät er unter den Druck privatwirtschaftlicher Sicherheitsanbieter. Die Grenze zwischen öffentlicher und privater Sicherheit ist fließend. Der Staat sollte definieren, mit welchen rechtsstaatlichen und qualitativen Standards privatwirtschaftliche Sicherheit produziert werden darf.

Schluss mit dem eindimensionalen Denken

Drittens müssen die Aufgaben im faktisch vorhandenen europäischen Sicherheitsverbund neu abgrenzt und die Zuständigkeiten zwischen Kommunen, Ländern, Bund und EU trennschärfer verteilt werden. Die Kommunen scheinen besonders gut geeignet, Formen der lokalen Kriminalprävention zu organisieren. Die Länder sollten weiterhin der Hauptakteur in der Inneren Sicherheit sein, sich aber dort zurücknehmen, wo es um europäisch und international ausgerichtete Sicherheitsleistungen geht. Bundesaufgaben sollten die Länder dort akzeptieren, wo verbesserte Koordinierung sinnvoll ist, wie im länderübergreifenden Katastrophenschutz. Der Bund wiederum sollte sich auf diese Koordinierungsleistungen sowie auf Spezialtätigkeiten konzentrieren. Er muss keine flächendeckende Bundespolizei aufbauen. Seine Aufgaben liegen vor allem in europäischen und internationalen Zusammenhängen. Der EU schließlich wird die Aufgabe zukommen, die Standards der europäischen nationalen Sicherheitssysteme anzugleichen und den europäischen Mehrebenen-Sicherheitsverbund auf ein rechtsstaatliches und demokratisch akzeptables Niveau zu bringen.

Es ist viertens dringend geboten, von der „Eindimensionalität“ des Sicherheitsdenkens Abstand zu nehmen. Im Blickpunkt steht immer die eine große Gefahr: der Terrorismus der RAF, die Organisierte Kriminalität, der Rechtsextremismus – oder jetzt der internationale Terrorismus. Auf diese Gefahr wird das Sicherheitssystem dann solange ausgerichtet, bis eine neue Gefahr alle Aufmerksamkeit und Ressourcen auf sich zieht. Anstelle einer aktionistischen, kurzatmigen Problemsicht ist die „Mehrdimensionalität der Leistungsfähigkeit“ gefragt.

Sicherheitspolitik als Gesellschaftspolitik

Fünftens muss die SPD diskutieren, wie der sich inkrementalistisch entwickelnde Sicherheitsverbund angesichts seiner europäischen, internationalen, staatlichen, gesellschaftlichen und privatwirtschaftlichen Verflechtungen überhaupt noch demokratisch – besonders parlamentarisch – kontrolliert und gesteuert werden kann. Die bestehenden Instrumente reichen dazu nicht aus; sie sind an die tradierten Vorstellungen eines staatlichen Gewaltmonopols geknüpft, das es in dieser überschaubaren Form nicht mehr gibt. Hier müssen neue Instrumente entwickelt beziehungsweise stärker genutzt werden, seien es zeitliche Befristungen von Sicherheitsgesetzen, unabhängige Evaluationen, Gesetzesfolgenabschätzungen, Gesetzes-Controlling, die Schaffung von Polizeibeauftragten oder die Rückbesinnung auf Prinzipien des Datenschutzes. Aufgrund seiner immensen Eingriffsmöglichkeiten in die Rechte und das Eigentum der Bürger ist der Sicherheitsverbund ein grundlegender Pfeiler einer demokratischen Gesellschaft. Gerade deshalb muss er die Gewalten, die er legitimiert, in einer beständigen Balance halten.

Kurz: Die SPD muss aufzeigen, dass die Politik der Inneren Sicherheit nicht nur in der Variante des konservativen Sicherheitsstaates gedacht werden kann, sondern auch Teil einer (sozial-)liberalen Gesellschaftspolitik sein kann. Darin bestünde die Alternative zum derzeitigen Dilemma der Sozialdemokratie, nur Bremser von Entwicklungen zu sein, die andere definieren und lenken.

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