Sicher leben in Europa - wie kriegen wir das hin?
Die Flüchtlingsfrage wühlt die öffentliche und private Diskussion auf wie schon lange kein Thema mehr. Was folgt daraus für die Innen- und Justizpolitik? Wie könnte ein erfolgreiches Regierungshandeln in diesen Politikfeldern künftig aussehen? Und welche Handlungsmöglichkeiten bestehen überhaupt? Dazu im Folgenden vier Thesen:
Für ein Europa konzentrischer Kreise
These I: Mehr Europa ist die Lösung – nicht das Problem. Eine zentrale Aufgabe zukünftigen Regierungshandelns wird darin bestehen, das europäische System der Innen- und Justizpolitik – vor allem das Schengener Abkommen – neu auszurichten. Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis der europäischen Verträge vergrößert sich kontinuierlich. Die Außengrenzen zu schützen ist eine Aufgabe, die seit jeher alle Mitgliedsländer betrifft; wie genau dieser „Schutz“ gewährleistet werden soll, ist aber zu keinem Zeitpunkt festgelegt worden. Verschärfend kommt hinzu, dass das Schengener Abkommen, das seit 1999 Teil der Unionsverträge ist, strenggenommen die gemeinsame Innen- und Justizpolitik der EU ergänzen sollte. Das proklamierte Ziel eines gemeinsamen „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ ist in der Praxis jedoch einer zerstückelten Landkarte gewichen. Großbritannien und Irland wenden das Schengener Abkommen nicht an, während Norwegen, Island und die Schweiz als Nicht-EU-Mitglieder an dem Abkommen teilhaben. Rumänien, Bulgarien, Kroatien und Zypern erfüllen hingegen die Voraussetzungen nicht. Einige EU-Länder wollen von einer Vergemeinschaftung der Innen- und Justizpolitik nichts wissen (Großbritannien), andere haben durchgesetzt, sich an bestimmten Integrationsmaßnahmen nicht beteiligen zu müssen (Dänemark). Das Dublin-Abkommen ist mittlerweile faktisch außer Kraft gesetzt, weil sich einige Länder auf ihre nationalen Interessen besinnen. Die europäische Integration droht an den Differenzen in der Innen- und Justizpolitik zu scheitern, selbst ein Auseinanderbrechen der EU scheint möglich.
Die Chance dieser Krise bestünde darin, die EU neu auszurichten. Ausgangspunkt könnte die Erkenntnis sein, dass zwar nahezu alle Mitglieder am Binnenmarkt teilhaben wollen – selbst Großbritannien –, sie aber sehr unterschiedliche und kaum miteinander vereinbare Vorstellungen davon haben, in welche Richtung sich die EU entwickeln soll. Es spräche einiges dafür, an ein Konzept anzuknüpfen, das in den neunziger Jahren diskutiert wurde: ein Europa der konzentrischen Kreise. Dies würde bedeuten, dass die EU-Mitglieder unterschiedliche Integrationsziele miteinander vereinbaren. Der erste Kreis wäre bestimmt von Ländern, die bereit sind, das gesamte Integrationsprojekt mitzutragen (den Binnenmarkt, eine gemeinsame Währung sowie eine gemeinsame Innen- und Justizpolitik sowie Außen- und Verteidigungspolitik). Die Mitglieder des zweiten Kreises würden sich auf den gemeinsamen Binnenmarkt einschließlich einer Zollunion beschränken. Dies könnte für Großbritannien ein Anreiz sein, im europäischen Verbund zu verbleiben. Der dritte Kreis würde Länder umfassen, denen eine Beitrittsoption für den Binnenmarkt eröffnet wurde und die sich in einem längeren Angleichungsprozess darauf vorbereiten könnten.
Standards müssen eingehalten werden
These II: Notwendig ist eine wirkliche europäische Innen- und Justizpolitik. Für den Schengenraum böte das Konzept der konzentrischen Kreise die Möglichkeit, einzelne Länder, die die Standards nicht einhalten können oder wollen, aus dem Verbund herauszunehmen, ohne ihre EU-Mitgliedschaft generell infrage zu stellen. Die Staaten des ersten Kreises dürften sich in der Flüchtlingspolitik allerdings nicht auf den Schutz der gemeinsamen Außengrenzen beschränken, sondern müssten ihr gesamtes Asylrecht harmonisieren. Das Ziel muss es sein, den Großteil der EU-Mitglieder, vor allem der Eurozone, dafür zu gewinnen, sich dem Zentrum des Kreises anzuschließen. Der politisch nachvollziehbare Wunsch, sämtliche Mitglieder der EU wie bisher in einer einzigen Union zusammenzuhalten, führt zunehmend zu dem ungewollten Ergebnis, dass vorhandene Standards durch Mitglieder, die nicht zur Integration fähig oder Willens sind, zunehmend an Substanz verlieren.
Nötig ist ein europäisches Asylrecht
Eine enger gefasste europäische Innen- und Justizpolitik würde sich, neben der bisherigen polizeilichen Zusammenarbeit, auf drei Aufgabenbereiche konzentrieren: Es gilt erstens, eine europäische Grenzpolizei einschließlich des Küstenschutzes zu organisieren. Zu klären wäre dabei, welche Rückwirkungen auf die nationalen Polizeisysteme zu erwarten sind. Zwei Varianten sind denkbar: eine eigenständige EU-Grenzpolizeibehörde oder ein europäischer Polizeiverbund, der sich aus nationalen Polizeikontingenten zusammensetzt. Die erste Variante, eine eigenständige polizeiliche Exekutivbehörde, die großflächig und – anders als Europol – auch mittels Zwangsmaßnahmen tätig wird, dürfte verfassungsrechtlich problematisch sein. Ihr würden die Legitimation und eine politisch verantwortliche Leitung fehlen. Realistischer wäre zunächst ein Abordnungssystem. In diesem Fall würden Polizisten des Bundes zu einer europäischen Grenzpolizeibehörde wechseln und auf einer gemeinsamen Rechtsbasis unterstützend tätig werden. Die Staaten an der EU-Außengrenze wären hier stärker gefordert und würden ihre Grenzpolizeien in den europäischen Verbund integrieren, ohne ihre souveräne Zuständigkeit zu verlieren. Das bisherige Frontex-System würde in diesem Fall also weiterentwickelt.
Zweitens muss das Asylrecht harmonisiert werden. Vonnöten ist ein einheitliches europäisches Registrierungssystem, das Mehrfachanträge ausschließt. Zudem müssten die Sozialleistungen, die für Asylbewerber geleistet werden, angeglichen werden. Dies betrifft auch die bislang widersprüchlichen Definitionen von als sicher eingestuften Herkunftsstaaten, ebenso wie die unterschiedlichen Abschiebungspraktiken von abgelehnten Asylbewerbern. Die Kriterien für eine gesteuerte Zuwanderung sollten hingegen weiterhin im Ermessen der Mitgliedsstaaten liegen.
Drittens ist es erforderlich, die „justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen“ in ihrer bisherigen Form weiterzuentwickeln. Intensivere Formen der polizeilichen Zusammenarbeit erfordern die Institutionalisierung eines gemeinsamen Strafprozessrechts, eines Strafrechts und einer europäischen Staatsanwaltschaft für die Deliktfelder, die europäisch bearbeitet werden. Der Vertrag von Lissabon hat diesen Weg zumindest theoretisch bereits eingeschlagen. Ihn in die Praxis umzusetzen, ist allerdings bislang nicht gelungen.
These III: Die Aufgaben des deutschen Sicherheitssystems müssen einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Der verstärkte Schutz der Außengrenzen wird ein zentrales Thema der zukünftigen Sicherheitspolitik sein. Die populistische Vorstellung, dass ein Zaun alle Gefahren bannt, entspringt dem Mythos des unüberwindlichen Limes am Rande der Zivilisation, der vor Eindringlingen schützt. Historisch hat sich diese Vorstellung stets als Illusion erwiesen. Kein Zaun der Welt kann große Wanderungsbewegungen aufhalten. Dieser müsste mit immensem technischem Aufwand gesichert und von zehntausenden Grenzbeamten rund um die Uhr bewacht werden – und wäre dennoch überwindbar. Die Außengrenze zu schützen, kann also realistisch nur bedeuten, illegale Grenzübertritte von Personen zu verhindern, indem diese mittels technischer Systeme gemeldet und durch Polizeipatrouillen in der Nähe der Grenze aufgegriffen und zu Registrierungsstellen gebracht werden. Auch im Falle eines integrierten Konzepts, das die Angleichung des Asylrechts und Sicherungsmaßnahmen beinhaltet, muss der Personalbestand der Polizei erheblich ausgebaut werden.
Es geht auch ums Grundvertrauen
An dieser Stelle offenbart sich ein zusätzliches Problem der Innen- und Justizpolitik. Denn angesichts der zunehmenden Angst vor Alltagskriminalität, besonders vor Wohnungseinbrüchen, Diebstählen und Vandalismus, sinkt das Vertrauen der Bevölkerung in die Leistungsfähigkeit des Staates – und dies völlig unabhängig von der Flüchtlingsfrage. Die Polizei ist in diesen Bereichen seit langem personell überfordert. Dies betrifft vor allem die dauerhafte und äußerst personalintensive Begleitung von Fußballspielen, bei denen es regelmäßig zu Gewaltausbrüchen kommt, ebenso wie die wachsende Zahl von konfliktintensiven Demonstrationen. Das Gefühl breitet sich aus, es gäbe No-Go-Areas, also bestimmte Bereiche wie U-Bahnen, Stadtviertel und Straßen, die nicht mehr gefahrlos betreten werden können. Dies ist ein ernstzunehmendes Alarmzeichen für den Rechtsstaat. Wahrnehmungen konstruieren auch soziale Realitäten.
Den widersprüchlichen Erwartungen können die Sicherheitsbehörden nicht gerecht werden. Die bundesdeutsche Sicherheitspolitik steht vor der Aufgabe, den Bestand der staatlichen Sicherheitsleistungen umfassend aufzunehmen und diese – auch angesichts veränderter Rahmenbedingungen auf europäischer Ebene – einer kritischen Prüfung zu unterziehen: Welche Aufgaben sollen die Polizeien des Bundes und welche die Landespolizeien künftig erfüllen – und welche Aufgaben können an europäische Behörden übergeben werden? Müssen beispielsweise an Bahnhöfen Bundes- und Landespolizisten und Sicherheitsdienste der Bahn tätig sein? In welchem Maße kann die Polizei auch weiterhin Veranstaltungen absichern? Vorschnelle Antworten verbieten sich. Es ist leicht gesagt, dass die Polizei dann eben keine Blechschäden bei Autounfällen mehr aufnehmen und bei Nachbarschaftsstreitigkeiten nicht mehr eingreifen möge. Dies würde aber das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei zusätzlich schwächen.
Was hilft gegen Niedergeschlagenheit?
Noch gravierender ist die zunehmende Einschätzung – sowohl in der Bevölkerung als auch in der Polizei selbst –, die Kriminalitätsbekämpfung bleibe häufig folgenlos. Demnach sei die Justiz zu tolerant und es verstreiche zu viel Zeit bis zum Urteil. Zudem sei die Justiz zu verständnisvoll, was zu immer neuen Bewährungsstrafen führe. Abgesehen davon, dass härtere Strafen auch keine Lösung sind (wie die USA zeigen), liegen die Probleme auch hier in der zu knappen Personalausstattung der Justiz. Eine reflexartige Stellenvermehrung wäre allerdings unsinnig. Besonders in zivilrechtlichen Fragen ist die Bereitschaft der Bevölkerung groß, Rechtsstreitigkeiten um Banalitäten aus reiner Prinzipienreiterei möglichst durch alle Gerichtsinstanzen zu verhandeln. Angemessener wäre es daher, zunächst Verfahrensprozesse zu überprüfen. Im Strafrecht spricht einiges dafür, die Zeit zwischen Tat und Urteil zu verkürzen, um etwaige kriminelle Karrieren zu verhindern. Letztlich bedarf es bei all diesen Fragen eines neuen Konsenses darüber, was der Rechtsstaat leisten soll und leisten kann.
These IV: Notwendig ist der Mut zur (pragmatischen) Vision. Sofern es in Europa überhaupt noch Visionen, zumindest optimistische Erwartungen gab, scheinen diese durch die Euro- und Flüchtlingskrise vollends zermahlen worden zu sein. Europa wirkt hilflos, schlimmer noch: resigniert. Für große Visionen ist sicherlich nicht die Zeit. Dennoch bedarf es einer Orientierung. Was liegt da näher, als an die Idee des demokratischen Rechtsstaates anzuknüpfen – ein Gedanke, der alle europäischen Nationen geprägt hat? Für die bundesdeutsche Entwicklung könnte dies konkret bedeuten, die Leistungsfähigkeit des Rechts- und Sicherheitssystems zu überprüfen, Defizite aufzuarbeiten, die Sicherheitsansprüche und -erwartungen der Bürger abzuwägen, Personal- und Sachressourcen dem Bedarf anzupassen, die Finanzierbarkeit zu klären und damit insgesamt Verlässlichkeit, Transparenz und Nachvollziehbarkeit (wieder)herzustellen.
Was spräche dagegen, auf Basis einer solchen rechtsstaatlichen Grundlage die Frage einer europäischen Verfassung im Kreis der Staaten, die dazu bereit sind, erneut zu diskutieren – ohne damit die Staaten, die dies aktuell oder dauerhaft nicht wollen, aus dem europäischen Verbund hinauszudrängen? Eine europäische Rechts- und Verfassungsunion ist kein Schönwetterthema für eine ferne Zukunft, wenn Europa keine Probleme mehr hat. Im Gegenteil: Sie wäre eine Antwort auf die drängenden und zum Teil existenzgefährdenden Herausforderungen, vor denen Europa und die europäischen Staaten heute stehen. Mehr Europa ist nicht die Ursache des Problems, mehr Europa ist ein Ansatz zur Lösung des Problems.