Das straflose Verbrechen
„Imagine if men were as disgusted with rape as they are with periods“, schreibt eine junge Frau aus Karlsruhe auf kleine Zettel. Sie befestigt die Botschaft auf Damenbinden und klebt diese an Laternenpfähle in der ganzen Stadt. Sie bringt damit die Misogynie einer Gesellschaft auf den Punkt, in der der weibliche Körper eine abstoßende, schmutzige Tabuzone ist, aber zugleich der Verfügungsgewalt der Männer unterworfen ist.
Diese Verfügungsgewalt ist derzeit noch im Sexualstrafrecht festgeschrieben. Es handelt sich dabei um einen in Gesetzesform geronnenen Vergewaltigungsmythos. Diesem Mythos zufolge werden Frauen vornehmlich durch unbekannte Männer in dunklen Parks vergewaltigt. Und: Sie haben sich an ihrer Vergewaltigung mitschuldig gemacht, etwa wegen ihrer Kleidung oder weil sie Alkohol getrunken haben und der Anti-Vergewaltigungs-Nagellack gerade nicht zur Hand war, der sich verfärbt, wenn jemand K.O.-Tropfen ins Getränk gekippt hat.
Aber der Fluchtweg war doch frei!
Da müssen sich die Betroffenen die Frage gefallen lassen, warum sie denn zu dem Täter in die Wohnung gegangen sind oder ihn in die eigene Wohnung gelassen haben, und warum sie sich nicht gewehrt haben. Und wo war eigentlich der Schlüssel? Die Tür war doch offen und der Fluchtweg frei! Diesen Mechanismus, die Beschuldigung und die Konzentration auf das Verhalten des Opfers, nennt man victim blaming. Andere Fragen treten dabei völlig in den Hintergrund – etwa wie gestört es eigentlich ist, einen anderen Menschen zu vergiften, um sich über dessen bewusstlosen Körper herzumachen.
Eine Erhebung der European Union Agency for Fundamental Rights hat 2014 ergeben, dass in Europa jede dritte Frau als Erwachsene körperliche oder sexuelle Gewalt erfährt; mit 35 Prozent liegt Deutschland leicht über dem europäischen Durchschnitt. Eine repräsentative Studie des Bundesfamilienministeriums (BMFSFJ) von 2004 weist noch höhere Zahlen aus: Demnach erlebt jede siebte Frau in Deutschland schwere Formen sexualisierter Gewalt. Zwischen 2001 und 2006 wurden in Deutschland jedes Jahr durchschnittlich 8 000 Vergewaltigungen angezeigt. Die Meldequote ist seit den achtziger Jahren kontinuierlich gestiegen. Hingegen wurden im selben Zeitraum nur 1 400 Anklagen erhoben, wobei sich diese Zahl trotz der gestiegenen Zahl der Anzeigen nicht erhöht hat. Die Verurteilungsquote von durchschnittlich 13 Prozent pro Jahr fällt im europäischen Vergleich ausgesprochen niedrig aus. Sie sinkt seit Jahren.
Im Jahr 2012 wurden nur 8,4 Prozent der Beschuldigten verurteilt. Etwa die Hälfte der vom BMFSFJ befragten Frauen haben Gewalt durch eine Person in ihrem persönlichen Nahbereich erlebt, beispielsweise durch den Ex-Partner; die Gewalt findet oft in der eigenen Wohnung statt. Viele Frauen sprechen mit niemandem über das Erlittene, die Anzeigebereitschaft ist äußerst gering. Expertinnen und Experten gehen daher von einer enormen Dunkelziffer aus. Die Quote der Falschbeschuldigungen wird hingegen als äußerst niedrig eingeschätzt; Jo Lovett und Liz Kelly kommen in ihrer Studie „Different systems, similar outcomes? Tracking attrition in reported rape cases across Europe” zu dem Ergebnis, dass gerade einmal drei Prozent der Anzeigen Falschbeschuldigungen sind.
»Ist ja nichts passiert«, sagte der Polizist
Das Eindringen in den Körper einer Frau, die zuvor eindeutig ihren Widerwillen geäußert hat, ist in Deutschland nicht strafbar. Vergewaltigung ist derzeit ein weitgehend strafloses Verbrechen. Und für das Grapschen an intimen Stellen gibt es überhaupt keinen Straftatbestand. „Ist ja nix passiert“, sagten die Polizisten zu meiner Freundin, der auf der Straße zwischen die Beine gefasst wurde. Schlicht und einfach unbegreiflich ist es, weshalb sich jemand durch eine einfache Geste wie das Tippen an die Stirn strafbar machen kann, während der Griff an die Brust oder zwischen die Beine meistens nicht bestraft wird, sofern diese Belästigung die so genannte Erheblichkeitsschwelle nicht überschreitet.
Kaum ein anderes Rechtsgut ist so lückenhaft geschützt wie die sexuelle Selbstbestimmung. Damit die Gerichte von einer Vergewaltigung ausgehen, muss die sexuelle Handlung entweder mit Gewalt, durch Androhung von Gefahr für Leib oder Leben oder unter Ausnutzung einer schutzlosen Lage der Betroffenen erzwungen worden sein. Sofern in der Vergewaltigungssituation selbst keine konkrete Gewaltandrohung ausgesprochen wird und keine schutzlose Lage besteht, beispielsweise weil andere Menschen in der Nähe sind oder Fluchtwege bestehen, müssen sich die Betroffenen körperlich zur Wehr setzen und ihre Unversehrtheit aktiv schützen – und dies vor den Gerichten ausreichend belegen. Tun sie dies nicht, geht der Gesetzgeber nicht von Vergewaltigung aus, weil der Täter den Widerstand der Frau nicht mit Gewalt brechen musste.
Selbst wenn dem Täter bewusst ist, dass kein Geschlechtsverkehr gewollt ist und dies selbst für die Gerichte unstrittig ist, werden Verfahren systematisch eingestellt. „Das Ausüben des Geschlechtsverkehrs gegen den Willen des anderen ist grob anstößig und geschmacklos, aber ohne den Einsatz eines qualifizierten Nötigungsmittels nicht strafbar“ – solche und ähnliche Sätze lesen die Betroffenen in den Einstellungsbescheiden, die ihnen von der Staatsanwaltschaft zugehen. Diese Bescheide hat der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland in der Studie Was Ihnen widerfahren ist, ist in Deutschland nicht strafbar ausgewertet.
Kritikerinnen und Kritiker der aktuellen Rechtsprechung ziehen vergleichend Eigentumsdelikte heran: Wird einer Person die Tasche oder das Auto geklaut, dann handelt es sich um Diebstahl. Es ist dabei vollkommen unerheblich, wie sich das Opfer verhalten hat, ob das Auto abgeschlossen war oder der Bestohlene sich gegen die Tat zur Wehr gesetzt hat, indem er versucht hat, die Tasche festzuhalten. Diebstahl bleibt Diebstahl. Aber nach geltender Rechtslage ist das, was man gemeinhin als Vergewaltigung bezeichnen würde, eben nur in ganz bestimmten Fällen wirklich eine Vergewaltigung.
Was der Fall Gina-Lisa Lohfink lehrt
Dabei unerheblich ist, warum sich eine Betroffene nicht zur Wehr gesetzt hat. Weil sie Schlimmeres befürchtete? Weil sie Angst hatte, diese Gewalt nicht zu überleben? Weil sie schwanger war und fürchtete, durch noch schlimmere Gewalt das Kind zu verlieren? Weil die Kinder nebenan schliefen und keine Angst bekommen sollten? Weil die gesamte Beziehung von Gewalt geprägt ist? Weil die ganze Situation ausweglos erschien, der Täter körperlich überlegen war? Weil der Täter damit drohte, zur Ausländerbehörde zu gehen, um die Ausweisung zu veranlassen? Weil sie schon früher missbraucht oder vergewaltigt wurde und mit dem in der Traumaforschung bekannten „Freezing“, dem Erstarren in einer akuten und als lebensbedrohlich empfundenen Angstsituation, reagierte? Dem Gesetz zufolge ist all dies irrelevant.
Vollkommen abstrus wird es dann, wenn eine Frau eine Vergewaltigung anzeigt, die Beschuldigten aufgrund der geltenden Rechtslage freigesprochen werden und in der Folge gegen die Frau Anklage wegen Falschbeschuldigung erhoben wird. So ist es derzeit im Fall von Gina-Lisa Lohfink öffentlich zu beobachten. Von der von ihr angezeigten Tat – ihrer Angabe nach eine Vergewaltigung durch zwei Männer unter Einsatz von K.O.-Tropfen – existiert sogar ein Video, das die Männer zuerst einem Boulevardblatt anboten und das sie, als dieses ablehnte und sogar die Polizei verständigte, über Facebook und den Nachrichtendienst WhatsApp verbreiteten.
Deutlich hörbar sagt die allem Anschein nach benommene Frau in dem Film immer wieder „Hör auf, hör auf“. Für einen Gutachter ist aber anhand des Videos nicht nachweisbar, dass Lohfink unter Drogen stand. Das Verfahren wegen sexueller Nötigung endete mit einem Freispruch, nur für die Verbreitung des Videos müssen sich die Männer verantworten. Man darf gespannt sein, wie die Verhandlung vor dem Amtsgericht endet und welche verheerenden Auswirkungen es auf die Anzeigebereitschaft hätte, sollte Lohfink schuldig gesprochen werden und 24.000 Euro Strafe zahlen müssen.
Plötzlich sind »unsere Frauen« in Gefahr
Die Absurdität des deutschen Sexualstrafrechts wurde den meisten erst im Zuge der Ereignisse am Kölner Hauptbahnhof bewusst. Die Schuldigen waren schnell gefunden: Schließlich waren es doch muslimische, nordafrikanische und arabisch aussehende Männer, die in der Silvesternacht massiv Frauen belästigt hatten. Da ist das eigene Wohlbefinden schnell wieder hergestellt, alles in bester Ordnung. Nur müssen „wir“ jetzt „unsere“ Frauen schützen. Damit wurde zugleich negiert, was die Zahlen seit Jahren belegen: dass körperliche und sexualisierte Gewalt viele Frauen in diesem Land betrifft, und das nicht erst seit den Flüchtlingsbewegungen in Richtung Deutschland und Europa.
Feministinnen, die seit Jahren eine Novelle des Sexualstrafrechts fordern, wurde postwendend vorgeworfen, sich aufgrund der Herkunft der Täter und des eigenen „Gutmenschentums“ nicht an der Debatte zu beteiligen. Dabei liegt es auf der Hand: Die Feministinnen hatten wohl einfach keine Lust, sich vor den rassistischen Karren von Birgit Kelle, Pegida und Co spannen zu lassen. Sie sahen stattdessen die Chance gekommen, eine Debatte über das straflose Verbrechen zu führen, an deren Ende hoffentlich ein besserer Schutz vor Vergewaltigung im Gesetz festgeschrieben sein wird.
Diese Debatte ist nun – trotz der rassistischen und irreführenden Zwischenrufe – in vollem Gange. Die beschuldigten Feministinnen veröffentlichten den Aufruf #ausnahmslos, später flankiert und ergänzt durch das breite Bündnis „Nein heißt Nein“, dessen Petition unter www.change.org/neinheisstnein unterzeichnet werden kann.
Die Bundesregierung will die 2011 unterzeichnete „Istanbul-Konvention“ des Europarats, ein Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, in nationales Recht umsetzen. Die Konvention verlangt, dass alle nicht einvernehmlichen sexuellen Handlungen unter Strafe zu stellen und effektiv zu verfolgen sind. Doch das Bundesjustizministerium sah zunächst keinen Handlungsbedarf, in der ersten von Justizminister Heiko Maas vorgelegten Novelle blieb der Paragraph 177 des Strafgesetzbuches unverändert. Silvester in Köln verhält sich aber zum Sexualstrafrecht wie Fukushima zum Atomausstieg: Quasi über Nacht vollzog sich bei dem einen oder anderen ein Sinneswandel, der in einer von den Grünen erzwungenen Geschäftsordnungsdebatte im März 2016 im Bundestag zutage trat. Da herrschte überraschende und erfreuliche Einigkeit darüber, dass der vorgelegte Entwurf des Ministeriums noch unzureichend ist, weil er nach wie vor zu stark auf das Verhalten und die Selbstverteidigung des Opfers rekurriert und „Nein“ in Zukunft auch für den Gesetzgeber wirklich „Nein“ heißen müsse. Die sonst so selten progressiv autretende CSU forderte sogar, dass Grapschen strafrechtlich verfolgt werden müsse und nicht einfach nur eine hinzunehmende, unangenehme Angelegenheit bleiben soll.
Angriff auf die Würde des Menschen
Eine Vergewaltigung ist ein Angriff auf die Würde eines Menschen. Vergewaltigung ist nicht ein bisschen ruppiger Sex, nach dem einer der Beteiligten hinterher feststellt, dass er ihn doch nicht so richtig wollte. Eine Vergewaltigung ist oft als existenziell und lebensbedrohlich erlebte Gewalt, sie ist Machtausübung, Demütigung und Grenzüberschreitung in einer unzivilisierten und abstoßenden Form. Sie dient dazu, den Willen zu brechen. Sie zielt auf das Intimste, den Körper, die Sexualität, die Selbstbestimmung und die Integrität der Betroffenen – meistens sind es Frauen.
Neben der Istanbul-Konvention kann sich der Gesetzgeber auch auf den ersten Satz des Grundgesetzes besinnen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Nach der derzeitigen Rechtslage müsste es eigentlich heißen: Die Würde des Menschen ist unantastbar – es sei denn, dieser Mensch hat eine Vagina und verteidigt sie nicht ausreichend gegen Angriffe von außen. Es ist daher dringend geboten und ein in seiner gesellschaftlichen Relevanz nicht zu unterschätzendes Signal, das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung in unserer Demokratie endlich besser und im Einklang mit geltendem europäischen Recht zu schützen.