Der Sinn von Feminismus ist Freiheit

In Deutschland existieren Ungleichheit und Ungerechtigkeit - und eine krasse Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit. Wer von diesen Verhältnissen profitiert, hat allen Grund, Feminismus als lächerlichen »Wahn« zu karrikieren. Wer aber Freiheit und Gleichheit will, muss (auch) feministisch denken

Der Feminismus ekele sie an, überschrieb die junge Redakteurin Ronja von Rönne ihren viel besprochenen Meinungsbeitrag im Feuilleton der Welt. Man kann ihr da nur zustimmen, aber aus ganz anderen Gründen als jenen, die sie aufzählte. Ihre These: Der Feminismus schaffe sich selbst ab, denn: Die Feminismusdebatte sei langweilig geworden. Diese Sichtweise ist in vieler Hinsicht unzutreffend. Was langweilig ist, sind Beiträge, die einzig von der Form einer Debatte handeln, nicht aber von ihrem Gegenstand. Die sich also auf einer Metaebene bewegen und nur dazu dienen, von den Anliegen einer gesellschaftspolitischen Bewegung abzulenken. Der Feminismus – falls man angesichts der äußerst heterogenen Positionen von einem solchen überhaupt sprechen kann – muss nicht aufregend oder gar „sexy“ sein, wie manche fordern. Menschen, die sich als Feministin oder Feminist bezeichnen, fragen und diskutieren, wie wir in unserer Gesellschaft zusammen leben wollen. Sie analysieren die Ursachen und Folgen von Ungleichbehandlung für die Mitglieder unserer Gesellschaft. Und sie fordern Anerkennung und gleiche ­Teilhabe. Insofern kann man sagen: Der Feminismus ekelt mich an, denn wer diese Brille erst einmal aufgesetzt hat und unsere Gesellschaft durch sie hindurch betrachtet, der kann sie nicht mehr absetzen. Wer diese Brille trägt, sieht strukturelle Ungleichbehandlung und Ungerechtigkeit – und die krasse Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit. Das ist nicht immer vergnüglich. Dass eine junge Frau diese Schranken, die auch sie selbst betreffen könnten, nicht sehen kann oder will, ist verständlich. Dies ändert aber nichts daran, dass diese Schranken existieren.

Immer geht es um die gleichen Themen

„Das F in Feminismus steht für Freiheit“, schreibt eine andere junge Frau, die Medienberaterin, Aktivistin und #aufschrei-Initiatorin Anne Wizorek. Sie beschreibt damit den kleinsten gemeinsamen Nenner der Debatten, in denen es nicht ausschließlich um die Freiheit von Frauen geht, sondern auch um die Freiheit von homo-, trans- und intergeschlechtlichen Menschen, people of colour und vieler anderer marginalisierter Gruppen.

In diesen Debatten geht es immer um die gleichen Themen: die Verteilung von Einkommen und Vermögen auf der einen und die Verteilung der unsichtbaren und unbezahlten Arbeit im Haushalt und bei der Kindererziehung auf der anderen Seite. Gleiche Bezahlung für gleichwertige Arbeit. Die ­Chance, gewaltfrei zu leben – und auf Gerechtigkeit, wenn Gewalt erfahren wurde. Die Möglichkeit, an Diskursen teilzunehmen, Debatten zu gestalten und gehört zu werden. Die Selbstbestimmung über den eigenen Körper.

Antifeministen und Neoliberale sind Verwandte

Die Mantren derjenigen, die die strukturellen Ungleichheiten nicht sehen wollen, beginnen meist mit „Frauen müssen“. ­Frauen müssen besser verhandeln. Frauen müssen Netzwerke bilden. Frauen müssen sich Gehör verschaffen und durchsetzungsfähiger werden. Frauen müssen mehr MINT-Fächer studieren, wollen sie besser verdienen. Frauen müssen sich zwischen Kind und Karriere entscheiden. Oder: Frauen müssen mindestens sechs Monate stillen. Frauen müssen sich zur Wehr setzen, wenn sie sexuell belästigt werden. Frauen müssen das Kopftuch abnehmen, wenn sie Lehrerin werden wollen. Und um noch tiefer in die Mottenkiste zu greifen: Frauen müssen längere Röcke tragen, wenn sie sicher unterwegs sein wollen.

Diese Mantren verklären die strukturelle Ungleichbehandlung zu einem individuellen Problem, für das jede und jeder selbst verantwortlich sei. Dabei werden die ungleichen Ausgangsbedingungen verschiedener Menschen in unserer Gesellschaft missachtet und dadurch verschleiert. Der anti­feministische geht mit dem neoliberalen Diskurs, demzufolge jeder und jede für das eigene Glück verantwortlich ist, eine unheilige Allianz ein.

Klassische bis reaktionäre Rollenvorstellungen sowie die enorm widersprüchlichen Anforderungen, mit denen ­Frauen heutzutage konfrontiert sind, materialisieren sich als Unterhaltungsformat zur besten Sendezeit in der Castingshow Germany’s Next Topmodel (GNTM). Abgesehen von den für die meisten Menschen vollkommen unerreichbaren Schönheits­idealen sind die Botschaften, die Heidi Klum und ProSieben jeden Donnerstagabend in schrillem Ton an ein junges, weib­liches Publikum richten, klar: Sei niedlich, sei kindlich, sei harmlos. Sei schön, sei sexy, streng dich an. Sei durchsetzungsstark – im Deppen-Denglisch von Klum und ihren Jurykollegen heißt das „Personality“. Aber bitte nicht zu viel „Personality“, denn eine eigene Meinung und widerständiges Verhalten werden nicht geduldet. Wenn eine Kandidatin die für eine Fotoproduktion hinzugebetenen männlichen Models gerne knutscht, wird sie gegängelt und zurechtgewiesen. Sexy sein: Ja. Eigenes Begehren: Nicht akzeptabel. Wenn eine Kandidatin über ihr Aussehen mitentscheiden will, wird mit dem Ausscheiden gedroht. An erster Stelle gilt es zu lernen: Du bist Objekt. Du gehorchst. Du genügst nicht, in Klumschen Worten: „Schönheit allein reicht nicht“. Deshalb gilt es, sich selbst zu optimieren und optimiert zu werden, „denn nur eine kann Germany’s Next Topmodel werden“. Die jungen Frauen, die als Kandidatinnen das Millionengeschäft der „Modelmama“ ankurbeln, werden bei Gruppenkonflikten dazu angehalten, sich gegenseitig zu denunzieren. Dass Frauen Netzwerke bilden, dass sie sich gegenseitig unterstützen, sich womöglich gar gemeinschaftlich verweigern, liegt außerhalb des Möglichen. GNTM ist nicht nur Sexismus als Unterhaltungsshow, GNTM ist ein Anpassungsprogramm für junge Frauen. Trotzdem muss klar sein: Diese Sendung hat den Sexismus, den sie reproduziert, nicht erfunden, sondern existierende gesellschaftliche Anforderungen an junge Frauen aufgegriffen, überzeichnet und in ein Fernsehformat gefasst. Würde GNTM nicht an bestehende Erfahrungswelten anknüpfen, hätte das Format womöglich keinen so großen Erfolg. Würde es einfach nur um allgemeine gesellschaftliche Anforderungen gehen, dann würden auch junge Männer über den Laufsteg wackeln.

Öffentlich-rechtlich gegen die Emanzipation

Wenn sie ihren Objektstatus nicht im Fernsehen erlernen, ­können sich Frauen desselben aber auch in alltäglichen Situa­tionen immer wieder versichern. Unter dem Hashtag Aufschrei berichteten Menschen in sozialen Netzwerken über ihre Sexismus-­Erfahrungen. Ähnlich funktioniert die Plattform www.ihollaback.org. Dort teilen Menschen ihre Erlebnisse mit Belästigung im öffentlichen Raum. Wird dieser Sexismus kritisiert, dann heißt es nur allzu oft: Stell dich nicht so an. Nimm das nicht so ernst. Oder: Frauen, die sexistische Bemerkungen kritisieren, können einfach nicht mit Komplimenten umgehen. Dieses ­Argument bemühte auch die Schauspielerin Sophia Thomalla in der Polit-Talkshow Hart aber fair. Unter dem Titel „Nieder mit den Ampelmännchen – Deutschland im Gleichheitswahn“ wurden – wie in solchen Talkshows üblich – die Kontrahentinnen und Kontrahenten regelrecht aufeinander losgelassen. Dass die öffentlich-rechtlichen Sender angesichts der Forderungen nach gleichen Rechten und gleicher Teilhabe den inzwischen durch rechtskonservative Kräfte wie der AfD geprägten Begriff „Wahn“ aufgreifen, steht für sich. Gegen die Redaktion von Hart aber fair haben die ­Gleichstellungsbeauftragten des Landes ­Nordrhein-Westfalen daher beim WDR Programmbeschwerde eingelegt, weil das „gesamte Themenspektrum um Geschlechterforschung und Gleichstellungspolitik gezielt ­lächerlich gemacht werden sollte“.

Auch Menschen, die sich öffentlich zu emanzipatorischen Themen äußern, werden Opfer von Beschimpfungen, Diffamierungen, Verleumdungen und Gewaltandrohungen – zum Teil feinsäuberlich anonymisiert. Hate speech nennt sich dies neudeutsch. Dabei handelt es sich nicht etwa um eine Randerscheinung. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat dem Thema kürzlich eine ganztägige Konferenz mit dem Titel „Wessen Internet? Geschlechterdebatten im Netz“ gewidmet. Bestimmten gesellschaftlichen Kräften ist es offenbar ein besonderes Anliegen, andere Menschen durch Hass zum Schweigen zu bringen. Die, die den Hass nicht ertragen können oder länger erdulden wollen, schalten die Kommentarfunktion ihrer Blogs ab, lassen ihre Mailkonten von Freunden vorsortieren oder verlassen soziale Netzwerke wie Twitter oder Facebook. Der Hass, den die Forderung nach Gleichheit provoziert, bringt Menschen zum Schweigen und isoliert sie. Die Ratschläge „don’t read the comments“ und „don’t feed the trolls“ verlagern die Verantwortung zu denjenigen, die abfällige und hasserfüllte Kommen­tare ertragen müssen – und sind dabei nicht minder platt und irreführend wie die Forderung nach längeren Röcken. Wieder heißt es: Frauen müssen die Kommentarspalten meiden. Oder: Frauen müssen es vermeiden, die Trolle zu animieren.

Die Rückzugsgefechte der einst Privilegierten

Geschlechterdebatten und die Kämpfe um Gleichheit und Freiheit werden deshalb so erbittert – in scharfem Ton und auf unversöhnlichem Terrain – geführt, weil es um Privilegien geht. Wenn Menschen Care-Arbeit nicht mehr freiwillig und unbezahlt leisten; wenn sie sich auf dem Arbeitsmarkt um Stellen, Beförderung und Gehälter bemühen; wenn sie über ihre Körper und ihre Reproduktion frei entscheiden – dann werden sie zu Gleichen auf Augenhöhe und damit zu Konkurrentinnen im Spiel um Privilegien, Einfluss und Deutungshoheit. Wenn Menschen gleichberechtigt und unabhängig von ihrem Geschlecht oder ihrer sexuellen Identität lieben, steuerliche Vorteile genießen und Kinder großziehen wollen, wenn Menschen sich nicht für eine der beiden Geschlechtskategorien entscheiden können oder wollen und wenn Frauen selbstbewusst Entscheidungen treffen, sich Unabhängigkeit erkämpfen und diese verteidigen, dann werden sie zu einer Herausforderung für diejenigen, die es sich in der alten Geschlechterordnung eingerichtet haben. Sie sind ein Angriff auf das Selbstverständnis derer, die mit der Erfahrung leben, dass ihnen nur wenige Hindernisse und Diskriminierungen im Wege stehen – ein Privileg, dass sie auf Kosten anderer genießen.

Die Zurschaustellung und Reproduktion von Sexismus in den Medien, Belästigung, Grenzüberschreitung und Gewaltausübung auf der Straße (die man inzwischen sogar in Seminaren von so genannten Pick Up Artists lernen kann) und im Netz, ­homophobe verbale Angriffe in der Öffentlichkeit oder sexistische Diskriminierung, die überwiegend Frauen von überwiegend männlichen Kollegen an ihrem Arbeitsplatz erleben – dies sind die Rückzugsgefechte derjenigen, die ihre Privilegien nicht aufgeben wollen. Dabei wären Selbstreflexion und das Anerkennen der eigenen privilegierten Position der erste Schritt in Richtung einer freiheitlicheren Gesellschaft. Denn Privilegien werden nicht verdient, sie sind Glückssache.

Um Freiheit und Gleichheit muss es gehen

Sexistische Diskriminierung funktioniert als Platzverweis, weil sie die überkommene Geschlechterhierarchie wiederherstellt und reproduziert. Im Arbeitsleben stellt sie ein unfaires Konkurrenzverhalten dar, in der Öffentlichkeit ist sie Machtausübung und Machtdemonstration. Dies erklärt auch, warum viele Menschen sich nicht schulterzuckend über ein angeb­liches „Kompliment“ freuen, sexistische Medienformate, Werbung und hate speech im Netz anprangern oder über vermeintlich witzige Bemerkungen nicht lachen, sondern sich in ihrer Integrität und Selbstbestimmung, eben in ihrem Gleichsein als Mensch, angegriffen fühlen. Anstelle von Debatten, ob der Feminismus nun langweilig oder ekelig sei, sollten wir daher feministische Debatten führen: Debatten über Freiheit und Gleichheit.«

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