Demokratie heißt Konflikt. Wie lernt man das in der Schule?
Das politische System der Demokratie ist schwer zu begreifen, denn seine Konfliktlogik widerspricht unseren privaten Bedürfnissen nach Harmonie, erfüllenden Beziehungen und nach schützender Gemeinschaft. In der Demokratie hingegen sind Interessen- und Wertekonflikte legitim und notwendig. Um Entscheidungen wird gerungen. Konflikte und Konkurrenzverhältnisse bestimmen das politische Geschehen und werden auf der Basis eines Werte- und Verfahrens-Konsenses ausgetragen.
Ein Beispiel aus Sachsen-Anhalt illustriert das Problem. Im Jahr 2000 führten wir dort eine repräsentative Schülerbefragung durch. Zwar „wussten“ mehr als 70 Prozent der befragten Jugendlichen, dass die Opposition zur Demokratie gehört. Aber ebenfalls 70 Prozent stimmten der Aussage zu „Aufgabe der politischen Opposition ist es nicht, die Regierung zu kritisieren, sondern sie in ihrer Arbeit zu unterstützen“. Diese Auffassung wäre in einem autoritären System, das sich das Mäntelchen einer formalen Demokratie zu geben versucht, sicher hoch willkommen. Aber in einer Demokratie müssen die Bürger über bestimmte Kompetenzen verfügen wie die Perspektiven- beziehungsweise Rollenübernahme, die moralisch-politische Urteilsbildung, soziale und politische Partizipation, Fähigkeiten zur fachlichen Analyse und zum Konflikt. Diese Kompetenzen entwickeln sich vom privaten über das institutionelle Niveau zum Begreifen des komplexen Systems – und nur unter großen Anstrengungen der Lehrenden und Lernenden.
Seit langem ist es Konsens, dass im Unterricht nicht indoktriniert werden darf. Folglich dürfen die Lehrer keine bestimmte politische Auffassung als objektive „Wahrheit“ weitergeben. Konstruktiv gewendet: Kontroversen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik müssen als solche auch im Unterricht vorkommen. Dieses Postulat wird durch die Methoden und Verfahren im Unterricht eingelöst. Methoden sind vorstrukturierte Handlungs- und Unterrichtsabläufe, um Schüler wie Lehrer bei kontroversen Themen mithilfe klarer Regeln zu entlasten. Diese Unterrichtsform unterscheidet sich stark vom herkömmlichen Unterricht, denn der Lehrer wechselt zwischen Moderieren und Dirigieren und eröffnet den Schülern viele Möglichkeiten des Handelns und Steuerns. Deshalb müssen die Methoden in der Lehrerausbildung gelernt werden, genauso wie der Umgang mit Konflikten selbstverständlich werden muss. Ein Beispiel: Bei der Konfliktanalyse geht es darum, einen Konflikt – etwa die Diskussion um einen Mindestlohn – auf die in der Öffentlichkeit vertretenen Interessen hin aufzuschlüsseln und die Machtressourcen der Akteure zu ermitteln. Anschließend tragen die Schüler den Konflikt in einem Kontroversverfahren aus, etwa in Form einer simulierten Debatte.
Die Schüler müssen dort abgeholt werden, wo sie stehen. Der Lernprozess geht von den Subjekten aus. Gemeinsam werden Probleme, Konflikte und Dilemmata untersucht, welche die Schüler persönlich berühren. Auf diese Weise vermittelt die Schule zwanglos Wissen und stößt wichtige Reflexionen an. Beispielsweise knüpft das Prinzip der moralisch-politischen Urteilsbildung an der alltäglichen moralischen Empörung oder Sorge an, die vor allem auch durch Werte-Dilemmata hervorgerufen wird. Durfte der Frankfurter Polizei-Vizepräsident einem Verdächtigen Folter androhen, um das Versteck eines entführten Kindes herauszubekommen? Wie sollten Organspenden geregelt werden? Der Ausgangspunkt ist stets ein konkreter Fall, dessen moralische Widersprüche im Unterricht entfaltet und reflektiert werden. Es folgt die Phase der Politisierung: Das individuelle ethische Dilemma wird zur Frage an die Allgemeinheit und ihre politische Regelungskompetenz. Diese Perspektive überschreitet die Sicht von Individuen, weil sie viele mögliche Betroffene, politische und institutionelle Bedingungen und mögliche fernliegende Konsequenzen mit einbeziehen muss.
Bäume pflanzen auf dem Schulhof ist nicht genug
Die „Schule in der Demokratie“ würde sich selbst dementieren, wenn die Lernenden nicht auch demokratische Anerkennung und demokratische Prozeduren erlebten. Die Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern und auch zwischen den Schülern untereinander haben gemeinschaftlichen Charakter, der Unterrichtsstil und die Unterrichtsmethoden vermitteln zwischen Personen und der Institution Schule, und institutionalisierte Verfahren der Schülervertretung und des Schulparlamentes weisen über die zwischenmenschliche Ebene hinaus.
Wir wissen inzwischen, dass soziales Lernen nicht automatisch auch politisch-demokratisches Lernen darstellt. Es reicht nicht aus, auf dem Schulhof Bäume zu pflanzen. Für die Schulgemeinschaft und die Umwelt sind die Bäume wichtig, aber dieses Erleben transzendiert nicht ohne weiteres die Perspektive der unmittelbaren Gemeinschaft in die Perspektiven von Institutionen und politischem System.
Der Mechanismus der repräsentativen Mitwirkung durch die Schülervertretung, der über die einzelne Schule hinaus geregelt ist und deshalb das Handeln in den sichtbaren Kontext einer Institution stellt, bietet die Chance der tätigen Politisierung. Hier geht es nicht nur um die Beziehungen konkreter Menschen, sondern um institutionell gesicherte Rechte auf Mitwirkung und Pflichten, die Regeln zu achten. Weil Kinder und Jugendliche keine professionalisierten Interessenvertreter sein können, muss die Schülervertretung immer wieder neu durch die Lehrenden ermutigt und unterstützt werden. Die Schülervertretung muss jedes Jahr beharrlich zum Programm der Schule gehören – so wie das Bruchrechnen zum Unterricht in Mathematik gehört.
Der Politikunterricht kommt viel zu kurz
Nach meinen Erfahrungen aus vielen Jahren Politikunterricht gibt es drei Dimensionen, wie über Politik sinnvoll zu reden ist, damit die Demokratie gefördert werden kann. Dies gilt für Unterricht ebenso wie für die Diskussionen im Ortsverein und für die öffentliche Auseinandersetzung. Erstens ist in den Argumenten zu zeigen, wessen Interessen und welche Werte in einer politischen Frage zu Konflikten führen. Zweitens ist in den Argumenten zu unterscheiden, ob es sich um eine Sachfrage, eine Wertefrage oder eine Frage politischer Machbarkeit handelt. Drittens sind in den Argumenten die Folgen und die unbeabsichtigten Nebenfolgen einer vorgeschlagenen Regelung zu unterscheiden. Die Methoden des Politikunterrichts ermöglichen diese Differenzierungen. Für die reale politische Diskussion können die Punkte eine Art Check-Liste darstellen.
In Wirklichkeit kommt der Politikunterricht leider viel zu kurz. Natürlich ist die Situation von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich, aber insgesamt ist die Situation unbefriedigend. Im Durchschnitt finden in der Sekundarstufe I insgesamt nur anderthalb Wochenstunden Politikunterricht statt, das heißt rechnerisch etwa eine Stunde in jedem zweiten Schuljahr. Hinzu kommt, dass der Politikunterricht häufig – vermutlich insgesamt zu rund 50 Prozent – fachfremd unterrichtet wird, also durch Lehrer, die für andere Schulfächer ausgebildet wurden. Deren Engagement wird überall anerkannt, auch bilden sich viele Lehrer sicherlich erfolgreich fort. Aber diesen Lehrern dürfte der Umgang mit Konflikten, der für das demokratische System wesentlich ist, noch schwerer fallen als jenen, die eine gründliche Ausbildung erhalten haben.
Das Schulfach muss einen weiten Politikbegriff umfassen. Häufig verlangen Interessenverbände ein eigenes Schulfach für ihre Belange. Aber Wirtschaft darf nicht von Politik getrennt, sondern muss in ein sozialwissenschaftliches Fach integriert werden. Ähnliches gilt für die ethisch-moralische -Dimension, die wir nicht in spezialisierte Fächer abschieben dürfen.
Das Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften in Kiel hat beeindruckende Forschungsergebnisse zum Lernen und Lehren von Mathematik, Naturwissenschaften und Technik hervorgebracht. Ein Pendant für die schulische politische Bildung fehlt in Deutschland. Demokratie-Lernen in der Schule bietet Lernchancen für die Demokratie und für die jungen Bürger und Bürgerinnen. Wir sollten sie nutzen!