Den eigenen Weg neu finden

Vor zehn Jahren starb Willy Brandt. Wurde mit ihm auch die Sozialdemokratie zu Grabe getragen, die der Bonner Republik ihr Gesicht gegeben hatte? Und will die SPD überhaupt noch "verankert sein in den Wünschen und Hoffnungen der Menschen"?

Auf einer Veranstaltung der Evangelischen Akademie zu Berlin über "Profile des Parlaments" im Französischen Dom sprach Bundeskanzler Gerhard Schröder am 21. August 2002 über Willy Brandt und würdigte dessen politisches Wirken "von der Emigration zur Einheit". In diesem Vortrag erinnerte er an Brandts große Abschiedsrede vor dem außerordentlichen Bonner Parteitag am 14. Juni 1987, in der dieser darauf hingewiesen hatte, dass er vielleicht der letzte SPD-Vorsitzende gewesen sei, der aus der Arbeiterschaft kam und in der alten Arbeiterbewegung aufwuchs. Schröder merkte dazu an, das zweite treffe zu. Die erste Vermutung hingegen sei mittlerweile widerlegt - durch ihn.


Indes war Willy Brandt - und das bedeutete das große Wort des konservativen Publizisten und Politikwissenschaftlers Hans-Peter Schwarz von der "sozialdemokratischen Jahrhundertgestalt" - in der "alten" Arbeiterbewegung, die sich selbst als "moderne Arbeiterbewegung" zu bezeichnen pflegte, nicht nur groß geworden; diese Bewegung wurde dem Vaterlosen und Emigranten auch über vier politische Systeme hinweg Familie und Heimat. Mit ihr häutete er sich. Und wie kaum ein anderer formte er ihren Wandel von der klassischen Arbeiterpartei zur linken Volkspartei. Nichts mag diesen Wandel so eindrücklich veranschaulichen wie der Vergleich von Brandts "Ankunft" in dieser Arbeiterbewegung und seinem "Abschied" vor zehn Jahren. Peter Merseburger beschreibt dies (und vieles andere) in seiner neuen Brandt-Biografie sehr eindrücklich.1


Vor 89 Jahren, in Bebels Todesjahr 1913, wurde Brandt in Lübeck in die deutsche Gesellschaft des Kaiserreichs "hineingeboren" - als uneheliches Kind einer proletarischen Mutter gleich doppelt unterprivilegiert. Fast 79 Jahre später erhielt er ein Staatsbegräbnis, wie es vor ihm nur Walther Rathenau und Gustav Stresemann zuteil wurde. Damit war nicht nur der in der Bundesrepublik vielfach von rechts angefeindete Emigrant definitiv nach Deutschland heimgekehrt, auch die deutsche Arbeiterbewegung war endgültig dort angekommen, wohin sie jahrzehntelang unter großen Opfern und gegen vielfachen Widerstand gestrebt hatte: in der Mitte der Nation. Das Staatsbegräbnis für den Bundeskanzler und nach Bebel bedeutendsten Parteiführer der deutschen Sozialdemokratie bestätigte "von Amts wegen" die historischen Verdienste der freiheitlichen Arbeiterbewegung für die Begründung und Ausgestaltung der zweiten deutschen Demokratie.

Die Partei als Heimat, nicht als Kirche

Jedoch fragt sich, ob mit Willy Brandt nicht auch eine SPD zu Grabe getragen wurde, die der Bonner Republik ihr Gesicht gegeben hat. Die auszehrenden Diadochenkämpfe der Enkel um die Parteiführung nach dem Rückzug des "Übergangskandidaten" Hans-Jochen Vogel vom Amt des Parteivorsitzenden stürzten die SPD zu Beginn der Berliner Republik in eine langwierige Führungskrise. Diese Krise drängte die Probleme der Neuorientierung in einer nicht länger durch den Ost-West-Gegensatz geprägten Weltgesellschaft, die Probleme der Globalisierung, aber auch jene der deutschen Einheit und des entstehenden Vier-Parteien-Systems in den Hintergrund.


Erst nach langen Jahren der Opposition gelangte die SPD 1998 zurück an die Regierungsmacht. Dass es um das Ansehen der unter Mitgliederverlusten und Orientierungsschwierigkeiten leidenden Partei nicht wirklich gut bestellt war, wurde von der erfolgreichen Abwahlkampagne gegen einen Bundeskanzler Kohl überlagert, den selbst weite Teile der eigenen Anhängerschaft nicht länger im Amt sehen mochten. Schon die Parole "Erst das Land, dann die Partei" - das von Tony Blair für New Labour intonierte Motto, das Gerhard Schröder im Wahlkampf 1998 aufgriff, um den Vorwurf der "Parteiwirtschaft" zu kontern und der verbreiteten Parteienverdrossenheit zu begegnen - wäre Willy Brandt schwerlich über die Lippen gekommen. Denn es war, wie Gunter Hofmann einmal treffend formuliert hat, der Parteivorsitz, der die Konstante seiner politischen Biografie bildete.


Nicht, dass Brandt deshalb unkritisch gegenüber der eigenen Partei gewesen wäre: Er hat sich an ihr gerieben. Für ihn war sie zwar ein Stück Heimat, aber keine Kirche. Er hat sie wegen ihres Immobilismus und ihres passiven Charakters im Kampf gegen die Präsidialdiktatur und die Nationalsozialisten sogar für einige Jahren verlassen und sich der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) angeschlossen. Er hat, mit Ernst Reuter und dem so genannten Bürgermeisterflügel der SPD, die Außenpolitik Schumachers und dessen rigiden Oppositionsstil abgelehnt. Er hat gegen den Typ der Funktionärspartei gekämpft, wie er ihn nach dem Krieg in Berlin vorfand. Die Abschiedsrede vom Amt des Parteivorsitzenden liest sich auch heute noch wie die scharfe Abrechnung mit einer provinziellen Engstirnigkeit in der Partei, die er für überwunden geglaubt hatte. Und nach der verlorenen Bundestagswahl von 1990 hielt er seiner Partei in von ihm längst nicht mehr gewohnter Deutlichkeit ihre Unwilligkeit und Unfähigkeit vor, als Volkspartei der deutschen Einheit zu agieren. Dennoch hätte er der Behauptung eines gleichsam naturwüchsigen Gegensatzes zwischen dem Wirken der eigenen Partei und dem Wohl des eigenen Landes energisch widersprochen.

Der Schock von 1999 ist nicht überstanden

Der schließlich von oben inszenierte Versuch, sozialdemokratischem Regierungshandeln nach dem schmählichen Abgang Oskar Lafontaines von allen politischen Ämtern, durch das so genannte Schröder-Blair-Papier neuen Sinn zu verleihen, schlug fehl. Seitdem hat die Partei mit einer amorphen Theorie der Zivilgesellschaft improvisiert, wenn es um tiefer schürfende Fragen nach der politischen Philosophie sozialdemokratischen Handelns ging.2 Der vollständige politische Motivationsverlust von weiten Teilen der aktiven Anhänger sozialdemokratischer Politik in und außerhalb der SPD im Jahr 1999 ist dagegen bis heute nicht wirklich überwunden worden.


Zwar war es richtig, die im Grunde unverhoffte rot-grüne Allianz, mit deren Zustandekommen bis zum Wahlabend der Bundestagswahl 1998 kaum jemand gerechnet hatte, nicht zu einem "historischen Bündnis" zu überhöhen, weil ein solches Bündnis - die von Brandt zustande gebrachte sozial-liberale Koalition - schon einmal auseinandergebrochen war. Doch als falsch erwies es sich, diese erste Mitte-Links-Koalition in der Bundesrepublik als lästige Pflichtübung oder reine "Vernunftehe" hinzustellen. Dieser Fehler wurde erst im Lauf der Wahlkampagne 2002 korrigiert, als sich angesichts verheerender Umfragezahlen das Motivationsdefizit der eigenen Anhänger erneut bestätigte. Jetzt erst wurde in nicht nur personeller, sondern auch in konstellärer Zuspitzung das Heil in der Mobilisierung der gebeutelten Mitte-Links-Wähler gesucht. Von einer Vernunftehe sollte eben nur im Fall einer Großen Koalition die Rede sein, nicht aber bei einer Konstellation, mit der sich ein Maximum an sozialdemokratischer Programmatik realisieren lässt.


Zur besonderen Schwäche der Sozialdemokratie in der Regierung und in Fragen der politischen Meinungsführerschaft trug dies ebenso bei wie die schwelende Orientierungskrise, die mit der Einrichtung einer neuen Grundsatzprogrammkommission "‚administriert" wurde, und der schleichende Niedergang der sozialdemokratischen Parteiorganisation. Insoweit erschienen die Anstrengungen, die SPD zur "Netzwerkpartei" zu machen oder die Parteistrukturen zu straffen, weniger als Aufbruch zu neuen Ufern denn als Kanalisierungsmaßnahmen zur Beschleunigung immer schwächer fließender Ströme und stehender Gewässer, die zudem die im Grunde unabweisliche neue Suche nach dem eigenen Weg umging.


Wäre solche Debatte nicht als Selbsttherapie, sondern als großer gesellschaftlicher Dialog über die Zukunft der Berliner Republik angelegt gewesen, wäre sie der Gefahr entgangen, in folgenlose Selbstbeschäftigung zu münden. Dabei wäre es keineswegs darum gegangen, erneut eine ergebnislose und wenig handlungsanleitende sozialdemokratische Debattenlust zu entfachen. Solche Debattenlust hatte man früher nicht selten mit der Behauptung gerechtfertigt, die Sozialdemokratie führe stellvertretend für die Gesellschaft Diskussionen, die andere Parteien verweigerten. Nach 1998 ging es vielmehr darum, dass die Sozialdemokratie nach langen Jahren des "Weiter so" für eine zunehmend irritierte bundesdeutsche Gesellschaft Diskussionsanstöße und Orientierungsangebote hätte liefern müssen - auch um eine weitgehend stillgelegte politische Kultur zu revitalisieren. Eben dies aber blieb die Partei der bundesdeutschen Zivilgesellschaft schuldig - um den Preis, dass sie die politische Lufthoheit in den Hörsälen und Lehrerzimmern, in den Betrieben und an den Bankschaltern weitgehend verlor.

Auf die Haltung kommt es an

Mit allerlei Bekundungen, Deutschland sei angesichts seines gleichberechtigten militärischen Engagements wieder ein "normales Land" geworden, und die SPD sei der natürliche Ausdruck dieses Wandels, machte man es sich viel zu leicht. Als die Partei dann noch Martin Walser zur Debatte mit dem sozialdemokratischen Bundeskanzler ins Willy-Brandt-Haus lud und bald darauf das geschichtlich uninformierte Wort vom "deutschen Weg" in die Welt gesetzt wurde, keimte unwillkürlich der Verdacht, hier werde nicht an die Bonner Republik angeknüpft, sondern die Weimarer Republik noch einmal durchgespielt - wenn auch ohne deren bitteres Ende. Dieser Traditionsriss und das Unvermögen, der eigenen Partei in der Gegenwart einen roten Faden aus der Vergangenheit in die Zukunft zu knüpfen, wurde wieder einmal durch die Konzentration aller Kräfte auf den Wahlkampf kaschiert.


Um nicht missverstanden zu werden: Wahlkampfzeiten sind schlechte Zeiten zur Selbstbesinnung. Aber sie taugen auch nicht gerade für eilig gestrickte und rein medial vermittelte Neuorientierungsversuche, welche die älteste Partei Deutschlands als traditionslose und präsentistische Vereinigung von wohlmeinenden Berufspolitikern hinstellen, die sich ganz in die Hand von Medien, Werbeagenturen und Meinungsumfrage-Unternehmen begeben. Es ist eben doch so wie bei den Fernsehduellen der Spitzenkandidaten: Entscheidend ist nicht allein, was gesagt wird, sondern auch, wie etwas gesagt wird. Anders formuliert: Es kommt nicht nur darauf an, Lösungen für Probleme zu präsentieren, es kommt auch darauf an, welche Haltung zu den Problemen eingenommen wird.

Parteienverdruss trifft vor allem die SPD

Das ist übrigens nicht als abgestandenes Plädoyer für eine sterile ideologische Aufladung gesellschaftlicher Problemlagen zu deuten. Vielmehr geht es, wie der Soziologe Heinz Bude in anderem Zusammenhang ausgeführt hat, um eine Haltung der Definition, eine Haltung der eigenen politischen Standortbestimmung und des intellektuellen Formats. Eben dies wurde aber eher durch äußere Faktoren erzwungen (besonders wo es um die internationale Rolle Deutschlands ging), als aus eigener Einsicht geliefert.


Somit sind wir an einem Punkt angelangt, an dem gefragt werden muss, wie die SPD - um es mit Willy Brandt zu sagen - den eigenen Weg unter veränderten Umständen neu findet. Letztlich geht es dabei um die Frage, ob das Selbstverständnis noch Gültigkeit besitzt, das Willy Brandt für die SPD der Bonner Republik in einer Rede aus Anlass des 35. Jahretages der Zwangsvereinigung von SPD und KPD annoncierte.3 In dieser Rede zur Identität der SPD setzte sich Brandt mit der anbrandenden Welle der neueren Parteienkritik auseinander, mit dem Ansehen und der Aufgabe von Parteien und - nicht zuletzt - mit den Besonderheiten der eigenen Partei. Dabei erkannte er hellsichtig, dass eine von rechts und links gleichermaßen geführte Kampagne gegen Großorganisationen im allgemeinen sowie den "Parteienstaat" und "die Parteien" im besonderen, vor allem diejenige politische Strömung in Deutschland treffen würde, die zur Verwirklichung ihrer Ziele in hohem Maße auf eine motivierte, handlungsfähige und lebendige Parteiformation angewiesen sei: die Sozialdemokratie.

Nicht bloß das Vorgefundene verwalten

Obrigkeitsstaatliches Denken und "abgestandener Wirtschaftsliberalismus" erhöben sich aber nicht nur über die Idee der Parteiendemokratie, sie diskreditierten auch jedwedes parlamentarisch-demokratisch fundierte staatliche Handeln und setzten auf diese Weise die durch den Sozialstaat eingeengte Macht des wirtschaftlich Stärkeren gegenüber dem Schwächeren wieder frei. Sollte dieser Durchmarsch gelingen, so argumentierte Brandt, dann werde die Sozialdemokratie ihrem historisch verbürgten und spezifischen Auftrag, die "breiten Schichten zu organisieren, ihnen zu politischem Bewusstsein zu verhelfen, ihnen politischen Einfluss zu verschaffen" nicht länger nachkommen können. Die SPD würde in einer solchen Lage zu einer Organisation, die sich ausschließlich in Mitgliedern, Funktionären und Mandatsträgern ausdrückt. Sie würde damit ihren Anspruch aufgeben, "eine breite, in der Gesellschaft wurzelnde und in den politischen Institutionen wirkende Willens- und Aktionsgemeinschaft" zu sein. Die SPD rekrutiere - wie jede Partei - politischen Nachwuchs für öffentliche Führungsaufgaben in einem demokratischen Gemeinwesen, sie müsse aber, so Brandt, mehr sein als eine Partei, die mit anderen allein darin konkurriere, wer die effektivere "Bedienungsmannschaft" für den Staatsapparat zur Verfügung stelle. Denn die Vorstellung, "Politik sei nur die möglichst kompetente Leitung und Verwaltung des Bestehenden" sei letztlich unpolitisch.


Zwei Seiten einer Medaille machten für Willy Brandt die Identität der SPD aus: mehr zu sein als nur ein geölter Parteiapparat und mehr zu sein als nur eine "schichtenspezifisch" indifferente Berufspartei zur Verwaltung des Vorgefundenen. Die SPD als "die Partei der Freiheit", die dort gekämpft habe, wo die Masse der "Bürgerlichen" nur erschrocken zugeschaut habe, müsse gemeinsames Handeln für das organisieren, was im "freien Austausch der Meinungen" zustande gekommen sei. Überhaupt erst dieser Austausch lasse sozialdemokratische Identität und Handlungsfähigkeit entstehen. Verantwortung zu übernehmen heiße, "verankert sein in den Hoffnungen und Wünschen der Menschen. Es heißt, sie formulieren und in demokratischer Willensbildung definieren zu können. Es heißt vor allem auch, widerstrebende Strömungen, die doch zusammengehören, einander vermitteln zu können. Es heißt, vor neuen Aufgaben die eigenen Ziele und die eigenen Wege wieder neu zu finden."

"Und nur wenig ist von Dauer"

Das mag, so wie es formuliert wurde, auf den ersten Blick abstrakt und auch ein wenig idealistisch klingen. Aber ist es nicht genau diese Aufgabe, der sich eine sozialdemokratische Partei stellen muss, wenn sie die Herausforderungen der Globalisierung, des "digitalen Kapitalismus (Peter Glotz) und der Dienstleistungsgesellschaft politisch annehmen will? Galt nicht genau dem die Aufforderung des Sterbenskranken in seiner Grußbotschaft an die Tagung des Büros der Sozialistischen Internationale im April 1992: "Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum - besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf der Höhe der Zeit zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll"?


Vor zehn Jahren, am 8. Oktober 1992, starb Willy Brandt. Die SPD sollte sich auf ihre Kraft besinnen und den Antworten, die ihre Zeit verlangt, nicht länger ausweichen.

Anmerkungen:

1 Peter Merseburger, Willy Brandt 1913-1992: Visionär und Realist, Stuttgart und München 2002.

2 Vgl. Richard Meng, Der Medienkanzler: Was bleibt vom System Schröder?, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002, S. 64.

3 Willy Brandt, Den eigenen Weg neu finden, in: Theorie und Grundwerte. Willy Brandt: Den eigenen Weg neu finden, hrsg. v. Vorstand der SPD, Bonn o. J., in Auszügen in: Willy Brandt: Die Partei der Freiheit. Willy Brandt und die SPD 1972-1992 (= Berliner Ausgabe, Bd. 5), bearb. von Karsten Rudolph, Bonn 2002.

zurück zur Ausgabe