Den ersten Schritt vor dem zweiten tun
Daher liegt die strategische Analyse auf der Hand, dass die Grünen unter den neuen Bedingungen eines Fünf-Parteien-Systems andere Optionen in Betracht ziehen müssen als die klassischen Bündnis-Konstellationen Rot-Grün versus Schwarz-Gelb. Dass die Verhältnisse in Bewegung geraten, zeigen die schwarz-grünen Bündnisse in zahlreichen deutschen Kommunen, die Stefan Grönebaum in der vergangenen Ausgabe der Berliner Republik beschrieben hat. Der Zwang zur strategischen Neuausrichtung besteht jedoch für alle Parteien gleichermaßen, und zumindest die Parteistrategen haben das inzwischen erkannt: Die CDU weiß, dass sie über eine „Jamaika“-Koalition nachdenken muss, will sie ihre Optionen nicht auf die äußerst begrenzten Möglichkeiten einer Großen Koalition verengen. Selbst in der FDP spricht sich langsam herum, dass eine Jamaika- oder eine Ampel-Koalition die einzigen Konstellationen sein könnten, um wieder an die heiß ersehnte Regierungsmacht zu kommen – also in jedem Fall nur unter Beteiligung der Grünen. Und auch der SPD scheint nun klar zu werden, dass die tektonische Verschiebung der Parteienlandschaft strategische Konsequenzen haben muss.
Was sind eigentlich unsere Grundlagen?
Wenngleich sich das strategische Bewusstsein allerorten erweitert, bleibt ein essentieller Punkt für die Beantwortung der Koalitionsfrage bislang weitgehend unbearbeitet, nämlich ein inhaltlicher Abgleich der Grundsätze und Konzepte der Parteien. Dieses Defizit ist angesichts der offenkundigen programmatischen Orientierungsunsicherheit aller Parteien keine Überraschung. Doch für die Relation von Inhalten und Macht ist eine gründliche Bearbeitung der Frage zwingend, welche Inhalte eigentlich genau gemeint sind und welcher Wert ihnen beigemessen wird. Wenn es nicht um alles oder nichts, sondern um einen möglichst hohen Grad an Verwirklichung eigener Ziele geht, dann müssen die Parteien viel klarer benennen: Was sind unsere Grundlagen? Was sind unsere Konzepte? Und wo liegen die Prioritäten? An dieser Stelle verbindet sich die Koalitionsfrage mit der tiefgreifenden Frage nach grundsatzprogrammatischer Orientierung, ideellem Zentrum und konzeptioneller Ausrichtung. Damit tun sich die meisten Politiker ungeheuer schwer – und deshalb ist es für viele so attraktiv, den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun.
Der notwendige inhaltliche und konzeptionelle Abgleich würde zunächst ein grelles Licht auf die Pluralität und die Paradoxien innerhalb der einzelnen Parteien werfen und damit den internen Klärungsdruck erhöhen. Gleichzeitig würde deutlicher, dass sich aus inhaltlicher Sicht jede Überhöhung oder Stilisierung einer schwarz-grünen Option verbietet. Eher könnte das Ergebnis einer solchen (Selbst-)Aufklärung die Entdeckung gemeinsamer Fluchtpunkte zwischen SPD und Grünen sein – diesmal nicht auf der Basis von Projektion und Idealisierung, sondern auf der Grundlage einer nüchternen Analyse von Gemeinsamkeit und Differenz.
Deshalb leiden die Grünen gerade in den Südländern der Bundesrepublik besonders unter der Formschwäche der SPD. Das Dauertief der abgewirtschafteten Frankfurter SPD machte Schwarz-Grün zur einzig sinnvollen Alternative zum Stillstand einer Allparteien-Koalition. Und auch in Hessen tut die SPD momentan viel dafür, dass Roland Koch nicht ernsthaft in Gefahr geraten wird. Ähnliches gilt für die personelle und konzeptionelle Aufstellung der SPD in Baden-Württemberg und Bayern – wenn auch vor dem Hintergrund anderer struktureller Mehrheitsverhältnisse. All das ist aus grüner Sicht bedauerlich, aber hoffentlich nicht von Dauer.
Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass die koalitionäre Verständigung gerade aufgrund der konzeptionellen und kulturellen Distanz zwischen Schwarz und Grün auf kommunaler Ebene mitunter offener und fairer sein kann. Gewisse Themen werden in rot-grünen Koalitionsverträgen bislang eher ausgeklammert – vor lauter vermeintlicher Gemeinsamkeit.
Deshalb müssen sich SPD und Grüne von der Vorstellung lösen, sie seien eine Art weltanschauliche Gesinnungsgemeinschaft. Beide Seiten müssen sich von der Angst vor der Differenz emanzipieren. Die SPD kann die Grünen nicht zur eigenen Familie zählen und dann darüber jammern, dass die Kinder flügge geworden seien. Sehr wohl aber kann man beide Parteien in einem bestimmten Sinn in die Tradition einer demokratischen, freiheitlichen Linken stellen. Dabei ist es der Vorteil der Grünen, dass sie die neuen, veränderten Fragen einer freiheitsorientierten Linken klarer im Blick haben als die Sozialdemokratie – besonders in Sachen Ökologie. Die Frage jedenfalls, was es eigentlich heißt, in der Politik Gerechtigkeit und Selbstbestimmung unter radikal veränderten Bedingungen zu formulieren, erfordert so viel produktive Kreativität, dass es nicht möglich ist, a priori eine Gemeinsamkeit zu unterstellen.