Der Adressat sind wir selbst
Nach 60 Jahren ist das Grundgesetz ein symbolisches Leichtgewicht geblieben. Daran hat eine nicht abreißende Kette von Jahrestagen, Festschriften und Lobreden nichts geändert. Sicherlich wird das Grundgesetz in der offiziellen Erinnerungskultur in Deutschland vergleichsweise häufig angerufen. Wer immer mit dem Grundgesetz professionellen Umgang pflegt, als Politiker, Ministerialbeamter, Richter, Anwalt oder Hochschullehrer des Rechts oder der politischen Theorie, dürfte das Grundgesetz als eine bemerkenswert gelungene Verfassung schätzen, die, obwohl sie dem recht klar bestimmbaren Typ westlicher Verfassungen zugehört, nicht nur einen eigenen Stil, sondern auch eine Fülle rechtstechnischer Eigenheiten hat, die ihm so etwas wie eine unverkennbare Individualität in der Familie demokratischer Rechtsstaaten verleihen. Wer immer im Ausland mit interessierten Personen spricht, wird gleichfalls regelmäßig nur Gutes über das Grundgesetz hören, nicht selten klar über die Grenzen des Höflichen hinaus. Damit allerdings dürfte der Kreis der Liebhaber unserer Verfassung auch schon enden.
Verfassungspatriotismus? Den gibt es nicht
Schon bei nichtjuristischen Funktionseliten wird die Frage nach dem Grundgesetz eher auf Verwunderung stoßen, und wirklich populär ist unsere Verfassung ohnehin nie geworden. So typisch bundesrepublikanisch " und damit ist keinesfalls gesagt: schlecht " die Idee des Verfassungspatriotismus als einer Art aufgeklärtem Nationalismusersatz auch ist, so gut sie auf die deutschen Zustände passte und auch nach der Wiedervereinigung weiterhin passt, so deutlich sollte man sich klarmachen: Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland keinen Verfassungspatriotismus. Das allgemeine Interesse am Grundgesetz bleibt gering, sein Identifikationswert für Mehrheiten sehr beschränkt.
Diese Gleichgültigkeit ist zunächst einmal eher zu verbuchen, als zu beklagen. Demokratische Verfassungen können eine allgemeine Anhänglichkeit erzeugen, sie liefern dafür ja sehr gute Gründe, aber das Recht auf affektive Indifferenz gegenüber der eigenen politischen Ordnung ist nicht das unwichtigste Kennzeichen eines liberalen Staats: In einem solchen muss man sich an die Regeln halten, man muss aber noch nicht einmal so tun, als würde man diese Regeln auch mögen.
Irritierend ist diese Gleichgültigkeit also nicht, weil verfassungspatriotisches Pathos grundsätzlich besonders wünschenswert wäre. Irritierend ist sie schon eher, weil das Grundgesetz auf der anderen Seite im politischen Leben der Bundesrepublik einen ganz ungewöhnlich präsenten Platz einnimmt. Die Berufung auf grundgesetzliche Garantien wie die Menschenwürde, die Sozialstaatlichkeit oder das Verbot des Angriffskrieges ist in der politischen Rhetorik der Bundesrepublik wohl auch im Vergleich zu anderen europäischen Staaten bemerkenswert geläufig. Auch dies ist für demokratische Ordnungen nicht notwendig verfehlt, die Verfassung soll in diesen ja gerade als ein unerfülltes Versprechen gelten, um das die politische Auseinandersetzung immer weiterzuführen ist.
Doch verwundert nicht allein eine gewisse Maßstabslosigkeit bei der Berufung auf verfassungsrechtliche Grundsätze: Bei allem Respekt vor individueller Not ist eine Kürzung von Sozialleistungen wohl doch nicht mit staatlicher Folter gleichzusetzen und konstituiert daher keinen Verstoß gegen die Menschenwürde. Warum es gegen die Religionsfreiheit verstößt, an einem Sonntag einkaufen zu dürfen, solange man stattdessen in die Kirche gehen kann, bleibt jedenfalls nicht auf den ersten Blick plausibel. Sicherlich: Alle dürfen in einer freien Ordnung alles verlangen, und auch in anderen Verfassungskulturen mag man solche Übertreibungen entdecken.
You can"t always get what you want
Darum besteht das Problem nicht allein darin, dass das Grundgesetz als ein Anspruchskatalog verstanden wird " so kann man eine Verfassung durchaus lesen ", als vielmehr darin, dass die Art der Ansprüche, die das Grundgesetz bietet, weitgehend verkannt geblieben ist und zwar sowohl nach ihrem Adressaten als auch nach dem Inhalt: Adressat verfassungsrechtlicher Ansprüche sind wir selbst, niemand anderes, und so dürfte die schmerzhafte Einsicht, dass wir alles, was wir vom Grundgesetz wollen, nur auf eigene Kosten bekommen können und nicht von einem weit entfernten Staat erhalten, der nichts mit uns zu tun hat, keine unwichtige Erkenntnis darstellen.
Inhalt der grundgesetzlichen Ansprüche aber ist nicht mehr und nicht weniger als die Freiheit. Freiheit ist ein durchaus riskantes Gut, das uns mit den Folgen unserer eigenen Entscheidungen allein lässt und uns nicht die Sicherheit gibt, genau das zu bekommen, was wir wollen. Insbesondere gewährt uns die Freiheit des Grundgesetzes die Möglichkeit, an politischen Prozessen mitzuwirken, sie ersetzt diese Prozesse aber nicht. Im Normalfall erhalten wir, was wir von der demokratischen Gemeinschaft wollen, durch demokratische Entscheidungen, die das Grundgesetz ermöglicht. Nur in seltenen Ausnahmen bekommen wir es durch Grundrechte in einem Gerichtsverfahren.
Die unterbelichteten Kosten der Freiheit
Aber auch unser Verhältnis zu grundrechtlichen Garantien erscheint nicht ohne Widersprüche. Man bedenke nur den seltsamen Umstand, dass das Bundesverfassungsgericht zwar einerseits das mit Abstand beliebteste Verfassungsorgan in der Bundesrepublik bleibt, dass aber andererseits die Verachtung gegenüber Bürokratie, Regeln, Verfahrensdauer und staatlicher Umständlichkeit allgemein verbreitet ist. Hier wird eine Institution aus denjenigen politischen und juristischen Zusammenhängen gerissen, ohne die sie nicht funktionieren kann; denn es sind all diese Förmlichkeiten, in denen allein sich verfassungsrechtliche Standards verwirklichen können. Es sind die Pflichten zu Gleichbehandlung und Eigentumsschutz, die viele umständliche Verfahren erzeugen. Dass es sich dabei um Kosten der Freiheit handelt, also um gut angelegte Zeit und Geld, bleibt seltsam unterbelichtet.
Die politische Diskussion um das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz lieferte hier ein anschauliches Beispiel: Es dürfte gute Gründe dafür geben, beispielsweise einem Vermieter die Pflicht aufzuerlegen, bei der Auswahl eines Mieters bestimmte Kriterien, etwa der Herkunft oder des Geschlechts, nicht zu verwenden. Es mag aber auch gute Gründe dafür geben, dem Vermieter die Freiheit zu lassen, sich seine Mieter einfach selbst auszusuchen. Hier geht es um schwierige Probleme des Freiheitsverständnisses, um politische Fragen. Debattiert wurde diese Regelung in der Öffentlichkeit aber fast ausschließlich unter der Perspektive der durch sie verursachten Bürokratie und der Kosten. Weil die Regelung europarechtlich vorgegeben war, spielte das Grundgesetz in diesem Fall keine besondere Rolle. Aber gerade deshalb wäre es ein Indiz einer dem Grundgesetz würdigen Verfassungskultur gewesen, diese Regelung als Problem der angemessenen Freiheitsverteilung zu diskutieren.
Wenn es eine Grundregel im Umgang mit dem Grundgesetz gibt, dann lautet sie also: Jedem steht das an Rechten zu, was auch allen anderen zusteht. Aus diesem Grund sind die meisten Versprechen des Grundgesetzes Versprechen nicht auf einen bestimmten Inhalt, sondern auf ein Verfahren. Wie wenig verbreitet diese Einsicht ist, zeigt sich schließlich auch in dem verbreiteten Bedürfnis, möglichst vieles möglichst für immer im Grundgesetz festzuschreiben, so als würde die Einfügung ins Grundgesetz einen bestimmten Zustand einfach festhalten können.
Eine solche Haltung überschätzt und verkennt eine Verfassung zugleich. Sie überschätzt sie, weil keine Garantie im Grundgesetz sich einfach von selbst ohne zusätzliche politische Mühen verwirklichen lässt. Sie verkennt das Grundgesetz, weil sie nicht versteht, dass es gerade eine der wesentlichen Funktionen demokratischer Verfassungen ist, Entscheidungsprozesse nicht abzuschließen, sondern offenzuhalten. Ein Recht auf ein gutes Leben enthält das Grundgesetz aus guten Gründen nicht.
Dieser Text ist dem neuen Buch des Autors entnommen: Christoph Möllers, Das Grundgesetz: Geschichte und Inhalt, München: Beck 2009, 122 Seiten, 7,90 Euro.