Der blinde Fleck des Katechon
In den vergangenen Monaten hat ein Begriff zurück in die öffentliche Diskussion der Bundes-republik gefunden, dem noch vor zwei Jahrzehnten der Hautgout der Deutschtümelei anhaftete: der des „Patriotismus“. Noch im Verlauf des unseligen „Historikerstreits“ ließ Jürgen Habermas gegenüber seinen Kontrahenten keinerlei Zweifel daran, dass der einzige Patriotismus, der die Bundesrepublik dem Westen nicht entfremde, ein Verfassungspatriotismus sein könne. Heute spricht der Bundespräsident von der „Liebe zu unserem Land“. Die Zeiten haben sich geändert.
Wenn gegenwärtig weniger von Verfassung, dafür mehr von Patriotismus und Nation die Rede ist, von „deutschen Wegen“ und „deutschen Interessen“, von „tagtäglich praktiziertem Patriotismus“, dann bleibt der öffentliche Aufschrei nicht nur aus. Der überraschend harmonisch klingende Chor der Patrioten, der sich aus allen parteipolitischen Lagern zusammensetzt, findet gegenwärtig seine publizistischen Partituren vor allem jenseits des verdächtigen, „rechten“ Lagers. Etwa bei Eckhard Fuhr, der die Berliner Republik als ein „schönes und starkes“ Vaterland skizziert, oder in verschiedenen Beiträgen der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Hitler, so lesen wir dort in einem Aufsatz von Peter Grafe, bleibe „nicht länger als Negation identitätsstiftender Fixpunkt unserer Selbstbetrachtung“. Auch wenn sich die Union, derzeit ganz mit wirtschaftliberalen Themen befasst, solche geschichtspolitisch heiklen Positionen nicht zutrauen würde, drängt sich doch die Frage auf, ob Habermas angesichts einer solchen Renaissance des patriotisch-nationalen Diskurses den Historikerstreit nachträglich womöglich doch noch verloren hat.
Keiner der 16 Autorinnen und Autoren des vorliegenden „Plädoyers für die reflektierte Republik“ – allesamt Angehörige der Jahrgänge 1963 bis 1977 – würde so weit gehen, diese fast ketzerisch anmutende Frage zu bejahen. Mancher würde allein ihr Aufwerfen als Bestätigung dafür ansehen, dass die deutsche Erinnerungskultur „unkritisch zu werden droht“ (Uffa Jensen); andere wiederum nähern sich ihrer positiven Beantwortung geradezu lustvoll an. Bei diesen Autoren fällt die Unbefangenheit auf, mit der scheinbar sakrosankte geschichtspolitische Verbindlichkeiten in Frage gestellt werden. So zum Beispiel in dem höchst lesenswerten Beitrag über die verdrängte Gründungsrevolution der Berliner Republik von Alexander Cammann. Der Autor wendet sich darin sehr prononciert gegen eine „konservative Apologie der späten Bundesrepublik“ durch die deutsche Linke, kritisiert die Ereignisse des Novembers 1989 als „blinden Fleck“ in der Wahrnehmung des „Katechon“ Habermas und lässt seine Ausführungen mit der Empfehlung enden: „Es wäre klug, 1989 rechtzeitig auch außerhalb des – ohnehin sich verändernden – Schattens von 1945 betrachten zu können.“
Der Sonderweg im Sonderweg?
Wenn Jens Hacke in seinem luziden Beitrag über die „Aktualität des altbundesrepublikanischen Liberalkonservativismus“ keinen Zweifel daran lässt, dass sich „in der institutionell vermittelten demokratischen Praxis sowie in der unmittelbaren, ganz bürgerlichen Lebenswelt der Zivilgesellschaft in Deutschland der Gemeinsinn wieder eingeübt“ hat, so begreift er – ebenso wie Cammann – ganz offenkundig dasjenige als realitätsferne Chimäre, was wiederum für Albrecht von Lucke in seinem Schmitt-exegetischen Aufsatz über die „Normalität als Ausnahmezustand“ als ernste Gefahr gilt: dass sich „die ‚Bonner Republik‘ nachträglich zu einem Sonderweg im deutschen Sonderweg“ erweisen wird. Doch dasjenige, was bei von Lucke nach wie vor als wünschenswert angesehen wird, eben die Selbstannahme der Bundesrepublik als „postnationale Demokratie“ unter Nationalstaaten, ist mit der Revolution von 1989 und der anschließenden Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten unmöglich geworden.
Patriotismus als Selbstverbesserung
Deutschland ist und bleibt Nationalstaat, wenn auch europäisch integriert, und bedarf als solcher des solidarischen Gemeinwohlhandelns seiner Bürger – mithin eines modernen Patriotismus. Von dieser Annahme ausgehend und einem „neuen Realismus“ verpflichtet, widmen sich Undine Ruge und Daniel Morat, die Herausgeber des Bandes, gemeinsam mit den anderen Autoren – darunter Tobias Dürr, Elisabeth Niejahr oder Frank Decker – der Frage, welches die zentralen sozialen und politischen Herausforderungen sind, „die unser Gemeinwesen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten prägen werden und auf die es geeignete Reaktionsmuster entwickeln muss“. Sei es die Notwendigkeit eines Abschieds vom Sozialstaat Bismarckscher Prägung, sei es die Zwangsläufigkeit der Entstehung von „Räumen der funktionalen Irrelevanz“ (Tobias Dürr) infolge des Wandels der Arbeitsgesellschaft, oder sei es die Herausforderung der westlichen Gesellschaften und damit auch der Bundesrepublik durch einen „Provokationsterrorismus“ (Karsten Fischer) nach dem Muster des 11. Septembers 2001. Die Parameter, die hier angedeutet werden, werden erhebliche Rückwirkungen auf die gemeinwohlorientierte Praxis der gesellschaftlichen „Selbstverbesserung“, mithin den Patriotismus haben, den Paul Nolte zu Recht als notwendige Grundlage eines neuen Republikanismus in Deutschland benennt:
„Patriotismus ist Leiden und Leidenschaft: Er jubelt das eigene Land, die eigenen Zustände nicht hoch, sondern entzündet sich an den Fehlern der Vergangenheit ebenso wie an den Missständen der Gegenwart. Er verleugnet Emotionen nicht [...], aber gibt sich mit den Gefühlen nicht zufrieden, sondern vollzieht sich erst im praktischen Handeln. Dieses Handeln, schließlich, versteht sich nicht als ein Wettlauf oder Konkurrenzkampf von Individuen, sondern als ein gemeinschaftliches Handeln, das auch einen Gewinn für andere, einen Mehrwert für Dritte abwirft.“
Wie sehr sich also gerade der Patriotismus-Begriff in seiner neuzeitlichen Konnotation eignet, eine Antwort auf das Paradox des freiheitlichen, säkularen Staates zu formulieren, der bekanntlich von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht zu garantieren vermag, macht der vorliegende Band auf sehr erfreuliche, da intellektuell anregende Weise deutlich. Dass schließlich gar die „Leitkultur“ angeführt und von Jan-Werner Müller in ihrer liberalen Dimension insofern als sinnvoll anerkannt wird, als sie „produktiven Streit um Vergangenheit und um den Inhalt einer patriotischen Moralpsychologie“ bedinge, mag dann kaum noch überraschen.
Ein wichtiger Schritt zur Selbstanerkennung
Sollte der Band tatsächlich das markieren, was er beansprucht zu sein, nämlich der Beginn einer neuen konstruktiven, also über die Erfahrung des Nationalsozialismus hinausgehenden Reflexion der politisch-kulturellen Grundlagen unseres Landes, dann wäre ein wichtiger, richtiger Schritt getan. Hin zu einer Selbstanerkennung, ohne die das Land seine Gegenwart und Zukunft weder besteht noch versteht. Jenseits semantischer Spitzfindigkeiten, auf die letztlich die Differenzierung zwischen „selbstbewusst“ und „sich selbst bewusst“ hinausläuft, geht es um den verantwortungsbewussten Umgang mit jener Ebene, „die trotz überlappender Loyalitäten zur lokalen, regionalen und europäischen Ebene den zentralen Bezugspunkt für die politische Identität der Bürgerinnen und Bürger“ bildet (Ruge/Morat): die nationale. Wird das Katechon, letztere inzwischen ja durchaus anerkennend, diesen Schritt tun? Es wäre zu wünschen, nicht zuletzt um Europa willen.
Undine Ruge und Daniel Morat (Hrsg.), Beiträge für die reflektierte Republik, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, 206 Seiten, 19,90 Euro