Der letzte Träger der Aufklärung?
Grün, rot, gelb, schwarz – die „Bürgerlichkeit“, einer der politisch-gesellschaftlichen Schlüsselbegriffe unserer heutigen Republik, hat viele Schattierungen und weckt, je nach Blickwinkel und Bedeutungsassoziation, viele Fantasien. Das war bekanntlich nicht immer so. Noch Anfang der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts deuteten nicht wenige Sozialwissenschaftler in der Bundesrepublik den Faschismus als „Form bürgerlicher Herrschaft“ und disqualifizierten damit – in der Konsequenz – Bürgertum und Bürgerlichkeit. Bürgerlichkeit wurde eher einer Geschichtslogik des Verfalls subordiniert denn als zukunftsweisende Analysekategorie moderner Gesellschaften verstanden. Doch die Zeiten haben sich geändert. „Bürgerlichkeit“ hat, zumal als „Neue Bürgerlichkeit“, Konjunktur – und dies über Koalitionsspekulationen um schwarz-grüne oder gar schwarz-grün-gelbe Bündnisse hinaus. Man denke nur an aktuelle Protestbewegungen wie jene gegen „Stuttgart 21“, in denen eine kaum erwartete große Zahl an „Wutbürgern“ (Der Spiegel) die Frage nach veränderten Formen demokratischer Legitimation über das tradierte Legalitätsprinzip hinaus aufwirft.
Die verschiedenen gesellschaftlichen aber auch politischen Aspekte der gegenwärtigen Debatte um Bürgerlichkeit stehen im Zentrum eines Sammelbandes, den Heinz Bude, Joachim Fischer und Bernd Kauffmann unter dem beziehungsreichen Titel Bürgerlichkeit ohne Bürgertum herausgegeben haben. Beziehungsreich deshalb, weil in den 13 zumeist soziologischen Beiträgen des Bandes immer wieder auf Rainer M. Lepsius’ inzwischen klassische begriffsanalytische Unterscheidung von Bürgerlichkeit und Bürgertum, von Habitus und Lebensstilen einerseits und sozio-ökonomischer Verortung von Mittelschichten andererseits Bezug genommen und diese vereinzelt problematisiert wird. Hervorgegangen ist der Band aus zwei Tagungen zum Thema im Jahre 2007, die ihrerseits mit je unterschiedlichen Akzenten um die Frage kreisten, wie „bürgerlich“ die deutsche Gesellschaft heute überhaupt ist, sein will oder sein kann.
Ein Bürgertum als abgeschlossene Klasse gibt es empirisch nicht mehr
Der Tenor der meisten im vorliegenden Band abgedruckten Beiträge lautet: Ja, Bürgerlichkeit lässt sich als gesellschaftliche Größe heute zweifellos konstatieren, wenn man es als „Kultivierung privater Autonomie“ (Tilman Reitz) versteht beziehungsweise als ein „Regelsystem von Werten und Handlungsmustern, das sich an den Prinzipien der individuellen Selbständigkeit und Selbstvervollkommnung (Bildung) und der kollektiven Selbstorganisation (kulturelle Vergesellschaftung) ausrichtet“, wie Clemens Albrecht es formuliert. Und umgekehrt: Nein, ein Bürgertum, verstanden als abgeschlossene Klasse im gesellschaftlichen Kampf à la Bourgeoisie gegen Proletariat lässt sich empirisch kaum ernsthaft für die Gegenwart verifizieren. Denn an die Stelle klar abgegrenzter und kaum durchlässiger gesellschaftlicher Klassen des 19. Jahrhunderts, das in der historischen Perspektive bislang als Inbegriff des „bürgerlichen“ Jahrhunderts firmierte (ob zu Recht, wird in einem Beitrag von Andreas Fahrmeir problematisiert), sind in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark ausdifferenzierte soziale Milieus getreten, deren Grenzen wiederum immer volatiler geworden sind, ohne dass jedoch die Heterogenität der sozialen Lagen damit verschwunden wäre. Im Gegenteil zeigt die lebhafte Prekariats-Debatte der vergangenen Jahre, dass die Berliner Republik heute keineswegs ein Spiegelbild jener nivellierten Mittelstandsgesellschaft ist, die Helmut Schelsky 1953 heraufziehen sah. Und doch vermochten jene „Pumpwerke des Aufstiegs“, wie Arnold Gehlen 1957 höhere Schulen und Universitäten bezeichnete, ein Mehr an sozialer Durchlässigkeit zu ermöglichen, mit dem – nur scheinbar paradox – schließlich eine Verbürgerlichung gar jener Achtundsechziger-Generation erfolgte, die den „Abschied vom Bürgertum“ wie keine Generation vor oder nach ihr herbeigesehnt hatte.
Es ist nur folgerichtig, dass Bernd Kauffmann zu Beginn seines Beitrags neben Joachim Fest und Helmut Kohl auch Joschka Fischer als Verkörperung des Bürgertums im gegenwärtigen Deutschland benennt. Diese personifizierte „Dreifaltigkeit“ lässt tatsächlich gut erkennen, wie groß das Spektrum dessen heute ist, was als bürgerlich gilt. So unterschiedlich der individuelle Lebensweg, die jeweilige Sozialisation, die politische Ausrichtung sind – sie alle repräsentieren heute jenes Ethos des Gemeinwesens, auf das hin Bürgerlichkeit als Haltung, als Habitus angelegt ist: auf die freiheitliche Republik beziehungsweise auf die res publica. Mithin auf eben jenes Paradoxon, worauf der republikanische Diskurs von Böckenförde bis zurück in die Antike zu Aristoteles immer wieder verwiesen hat.
Nicht mehr die Herkunft zählt, sondern das Handeln für das Gemeinwesen
Doch Bürgerlichkeit im 21. Jahrhundert ist keine Sache der Herkunft (mehr), weniger eine des Vermögens oder der politischen Einstellung, sondern vor allem eine Sache der Haltung und des Handelns der Bürger für das Gemeinwesen, für das Gemeinwohl. „Der Bürger“ ist nach Norbert Bolz der „letzte Träger der Aufklärung, der das ‚sapere aude‘ in eine Lebenspraxis der Freiheit umsetzt“. Und wie Heinz Bude es formuliert, trägt er einerseits für sich selbst Sorge und fühlt sich „andererseits zum bürgerschaftlichen Engagement verpflichtet“. Das Verhältnis von Freiheit, Eigeninteresse und Gemeinwohl-Verpflichtung rekonstruiert sehr anschaulich Manuel Frey in seinem Beitrag über die Bürgergesellschaft als „historischer und aktueller Kern des Gemeinsinns“. „Hier“, so Frey, „handeln die Aktivbürger in überschaubaren Räumen und weitgehend unabhängig von staatlichen Direktiven, auch wenn ehrenamtliches Engagement heute nicht mehr in feste sozio-moralische Milieus eingebettet ist, sondern je nach Lebensphase wechselt und sich vorrangig an der Attraktivität konkreter Projekte orientiert.“
Die Revolution von 1989 – ein Projekt praktizierter Bürgerlichkeit
Dass eines dieser Projekte praktizierter Bürgerlichkeit, wenn nicht das Projekt schlechthin, von der soziologischen Theorie bislang nur unzureichend erklärt werden konnte, nämlich die Freiheitsrevolution(en) von 1989, stellt Joachim Fischer in das Zentrum seiner Analyse. Weder der Kritischen Theorie noch der Systemtheorie noch sonstigen Theorien einer reflexiven beziehungsweise zweiten Moderne gelinge es auf adäquate Art und Weise, die „alle überraschende deutsche Stunde der Civil Society“ zu erklären, „als in den ostdeutschen Städten Bürgerbewegungen innerhalb einer sozialistischen Moderne sich einen öffentlichen Raum ertasteten und ertrotzten, ein Gesellschaftssystem zum Einsturz brachten und den Spielraum der Wiedervereinigung Deutschlands stifteten“. Angesichts dieser „Theorienot der Soziologie in gegenwartsdiagnostischer Absicht“ gelte es, die Kategorie der Bürgerlichkeit für die Analyse der Gegenwartsgesellschaft(en) bis hin zur Weltgesellschaft heranzuziehen zur Beantwortung der vermeintlich so schlichten und doch so schwierigen Frage, die als Untertitel des Bandes fungiert: In welchem Land leben wir?
Die Bürgerlichkeits-Debatte spiegelt die großen Fragen dieser Republik
Dass die Antworten, die in den Beiträgen auf diese Frage formuliert werden, allesamt recht unterschiedlich ausfallen, ja dass selbst die inhaltliche Präzisierung der Begrifflichkeiten teils stark divergieren, soll nicht als Manko des Bandes verstanden werden. Viel eher als Inspiration für den Leser, jenen von den Herausgebern skizzierten Weg hin zu einem gegenwartsbezogenen „Bürgerlichkeits“-Paradigma der Gesellschaftstheorie mitzugehen. Denn eines vermag der Band überaus deutlich zu machen: Die Debatte um Bürgerlichkeit und Bürgertum in Deutschland ist offensichtlich deshalb so hartnäckig, weil sie verschiedene andere Debatten der Berliner Republik akkumuliert und assoziiert – jene um das Verhältnis zwischen 1968 und 1989, jene um die „neue“ gesellschaftliche Mitte samt ihrer Abstiegsängste, jene um die Zukunft des Sozialstaates und damit verbundene öffentliche Bildungsanstrengungen in Zeiten leerer Kassen, jene um neue Wege politischer Partizipation in einer repräsentativen Demokratie, nicht zuletzt jene um die Integration von Migranten. Die Herausforderungen, mit denen Deutschland konfrontiert ist, sind mithin groß. Die Potenziale einer Bürgergesellschaft, die nicht gegen, sondern in, mit und für den Staat aktivierbar sind, nicht minder. Es gilt sie zu fördern, zu fordern – aber zunächst zu erkennen. Der vorliegende Band weist genau in diese richtige Richtung. «