Ein Minimum von maximaler Sprengkraft
Kein Zweifel, Frank Schirrmacher versteht es nicht nur, Themen zu besetzen. Er vermag es auch, diese für ein breiteres Publikum anschaulich aufzubereiten. In seinem Bestseller Methusalem-Komplott (2004) ging es um die dramatische Überalterung der deutschen Gesellschaft und die möglichen Generationskonflikte, die hieraus entstehen könnten. In seinem neuen Buch Minimum widmet sich der für das Feuilleton zuständige Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen nun den „drei großen F“, wie es ein Rezensent der Süddeutschen Zeitung treffend formulierte: Familien, Frauen, Fruchtbarkeit. Wer angesichts dieser Agenda eine konservative Streitschrift erwartet, wird enttäuscht – oder missversteht den Autor.
Die große Hitze von Chicago
Schirrmacher geht es weder um parteipolitisches Kleinklein, noch um ideologische Scheingefechte. Hier wird keine Front zwischen „bürgerlichem Rollback“ auf der einen und der „Rettung der emanzipierten Selbstbestimmung“ auf der anderen Seite geführt. Das Thema des Buches siedelt, so sehr die Ausführungen auch mit statistischen Angaben angereichert sind, auf einer abstrakteren, grundsätzlichen Ebene. Im Mittelpunkt steht die Frage, welcher Minimalkonsens bestehen muss, damit die Zukunftsfähigkeit unseres Landes gesichert werden kann.
Schirrmacher fokussiert seine Analyse auf die bundesdeutsche Gesellschaft und bettet diese immer wieder in ländervergleichende und historische Bezüge ein. Auftakt und Schlusspunkt des Buches markieren dramatische Ereignisse der amerikanischen Gesellschaft: Am Anfang beschreibt er die Tragödie am „Donner-Pass“ im Jahr 1846: Ein Treck amerikanischer Siedler auf dem Weg nach Westen wird an dem Pass vom plötzlichen Schneeeinbruch überrascht und muss monatelang ums Überleben kämpfen. Am Ende des Buches schildert Schirrmacher die große Hitze von Chicago im Juli 1995, wo sich zwei bedeutsame Befunde bestätigten, die bereits 150 Jahre zuvor am Donner-Pass zu Tage getreten waren: Die Rate der männlichen Opfer übertraf deutlich jene der weiblichen Opfer, zum anderen erhöhte die Einbettung in Familienstrukturen die Überlebenschancen des Einzelnen signifikant.
So unterschiedlich der jeweilige historische Kontext – für den Autor lassen beide Katastrophen keinen Zweifel an der quasi naturgesetzlichen Bedeutung familialer Einbettung des Menschen. An die Stelle von Patchworkfamilien oder „Einmalgeschiedenenzweikinderlebensabschnittspartnerschaften“ (Frankfurter Rundschau) setzt Schirrmacher das gesellschaftliche Ideal der Mehrkinderfamilie. Zugleich möchte er das postmoderne gesellschaftliche Konglomerat autonomer Ichlinge schonungslos ersetzen durch das Ideal sozial integrierter Kinder als selbstbewusste Familiengründer. Dabei verfällt Schirrmacher keineswegs einer „Vergötterung der Familie“, wie die Welt meint. „Natürlich“, schreibt er, „ist die Familie keine Insel der Seligen. Der erste Mord war bekanntlich ein Brudermord.“
Tatsächlich akzentuiert Schirrmachers Streitschrift in nachdenklichen, niemals schrillen Tönen die verschiedenen Dimensionen eines grundsätzlichen gesellschaftlichen Dilemmas unseres Landes, das sich mit Schlagworten wie „demografische Krise“, „Generationenverhältnis“, „Kinderarmut“ sowie der „Rolle der Frauen“ umschreiben lässt. Auf weniger als 200 Seiten gelingt es dem Autor, die wissenschaftlich bereits seit langem vorliegenden Befunde eines schrumpfenden Gemeinwesens mit immer länger lebenden alten Menschen und immer weniger Kindern so zu kompilieren, dass sein Weckruf nicht erneut überhört und auf Jahre hinweg ignoriert werden kann.
Zwar präsentieren sich inzwischen alle etablierten Parteien als Familienparteien, die mit familienpolitischen Vorschlägen und Gesetzesvorhaben aufwarten. Aber eben diese Parteien haben in der Vergangenheit jenen bevölkerungs- und damit auch sozialpolitischen Entwicklungen nicht Einhalt geboten, die ja bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten abzusehen waren.
Das Schicksal ist kein Fernsehprogramm
Was nun von der Großen Koalition zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf und dem Ziel der Geburtenförderung auf den gesetzgeberischen Weg gebracht wird, hat die deutsche Politik wider besseres Wissen aus wahltaktischen Gründen in den vorangegangenen Legislaturperioden sträflich unterlassen. Der Skandal dieser Unterlassung, der nicht zuletzt in einem ungebremsten Ausbau des Wohlfahrtsstaates unter Vernachlässigung seiner zukunftssichernden Finanzierung bestand, verschwand hinter einer gesellschaftspolitisch dominanten Vision des „schicksalslosen Bürgers“, der sich – als Angehöriger der geburtenstarken Jahrgänge nach 1955 – über die biologischen Determinanten des technologisch-wohlfahrtsstaatlichen „Erfolgsmodells Deutschland“ nicht den Kopf zerbrach.
Eine fatale Koinzidenz von Staats- und Technologiegläubigkeit und nachwuchsabstinenter Selbstverwirklichung führte zu einer Verdrängung jener fundamentalen Zusammenhänge, mit denen Schirrmacher uns nun aus den Illusionen des sozialtechnologischen „Weiter so“ weckt: „Es gibt Rollen, die wir uns nicht auswählen, sondern die uns wählen“, schreibt er. Und: „Unser Glaube an die totale Verfügbarkeit aller Rollen und Stile und Zeiten, unsere stillschweigende, durch das Fernsehen verinnerlichte Überzeugung davon, dass selbst das Schicksal nur ein Programm, nur die freie Wahl des Menschen ist, hat uns vergessen lassen, dass wir mit Elementargewalten spielen.“
Markante Stimme im Chor der Besorgten
Natürlich ist Skepsis geboten: Weder neue familienpolitische Anreize wie das Elterngeld, noch biologistisch-evolutionäre Argumente, wie Schirrmacher sie zu Recht in die Debatte einführt, werden jenes statistisch unscheinbare, in Wirklichkeit jedoch verheerendende Defizit von 0,8 Kindern pro Paar beheben können. Und doch ist der Bewusstseinswandel in unserer Gesellschaft unabdingbar angesichts der großen sozialen und politischen Sprengkraft, die das Unterschreiten eines familialen Minimums für jede Gesellschaft hat. Schirrmachers Weckruf scheint zumindest in der Politik Gehör zu finden, nicht zuletzt aufgrund seiner markanten Stimme im Chor der zukunftsbesorgten Ratgeber. Die bürgerschaftliche Rezeption, sozusagen die emotionale Konsequenz einer rationalen Erkenntnis, steht noch aus. Ob sie erfolgt, ist offen.
Frank Schirrmacher, Minimum, Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft, München: Blessing Verlag 2006, 192 Seiten, 16 Euro