Der deutsche Konsens löst sich auf

Der Brite Hans Kundnani ist Deutschlandexperte beim German Marshall Fund of the United States. Im Jahr 2009 erschien sein Buch "Utopia or Auschwitz: Germany’s 1968 Generation and the Holocaust". 2014 veröffentlichte er "The Paradox of German Power", das im kommenden Jahr auch auf Deutsch erscheint. Die These: Mit seiner Mischung aus "ökonomischer Selbstbehauptung und militärischer Abstinenz" droht Deutschland erneut die Ursache für Instabilität in Europa zu werden. Michael Miebach sprach mit Hans Kundnani darüber, wie die Flüchtlingskrise die deutsche Außen- und Europapolitik verändern wird

Berliner Republik: Die Anschläge von Paris haben uns alle erschüttert. Wird Europa dadurch wieder näher zusammenrücken?

Kundnani: Die Anschläge waren ein Angriff auf uns alle – ebenso wie die Anschläge vom 11. September 2001 in Amerika. Aber ich sehe eine Gefahr: Manche in Deutschland und anderswo werden die Angriffe als eine Reaktion auf die französische Außenpolitik und besonders die Luftangriffe auf den IS in Syrien interpretieren. Es ist also nicht klar, ob Europa eher zusammenrücken wird oder sich spalten lässt, so wie der Westen nach dem 11. September gespalten wurde. Präsident François Hollande hat sofort nach den Anschlägen von einem Krieg gesprochen und die Luftangriffe in Syrien weiter intensiviert. Mit der Berufung auf Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrages hat Frankreich auch offiziell um militärische Unterstützung der europäischen Partner gebeten. Es liegt auf der Hand, dass dies zu Spannungen vor allem auch mit Deutschland führen könnte, das sich als „Friedensmacht“ versteht. Hinzu kommt, dass mit der neuen Lage erneute Konflikte mit Deutschland um fiskalische Fragen drohen. Präsident Hollande hat gesagt: „Der Sicherheitspakt ist wichtiger als der Stabilitätspakt.“

In den neunziger Jahren haben Sie schon einmal in Deutschland gelebt. In diesem Sommer sind Sie aus London wieder nach Berlin gezogen, kurz bevor die Flüchtlingskrise begann. Ist Deutschland ein von Gefühlen geleiteter „Hippie-Staat“, wie der britische Politologe Anthony Glees meinte?

Das ist mir zu einfach. Es gibt ja zwei Realitäten in Deutschland. Auf der einen Seite haben die meisten Deutschen mittlerweile akzeptiert, ein Einwanderungsland zu sein. Das war in den neunziger Jahren anders, als Deutschland sich – im Gegensatz zu Großbritannien – als monoethnisches Land verstand. Die neue Mentalität prägt die deutsche Haltung in der Flüchtlingskrise. Sicher spielen aber auch die NS-Vergangenheit und die Eurokrise eine Rolle. Die Deutschen wollen zeigen: Wir sind nicht die bösen Deutschen, für die ihr uns haltet! Auf der anderen Seite gibt es aber auch Pegida und die schrecklichen Angriffe gegen Asylbewerber, die mich an Mölln und Solingen erinnern. Für mich sind es diese beiden Extreme, die Deutschland derzeit von Großbritannien unterscheiden: die weit offenen Arme und zugleich die Anschläge auf Flüchtlinge und sogar Politiker. Ich bin mir nicht sicher, wie sich die Situation weiterentwickeln wird, wenn Deutschland tatsächlich Millionen von Flüchtlingen aufnimmt – geschweige denn, wenn es auch in Deutschland einen Terror-Anschlag gibt.

Viktor Orbán hat Deutschland „moralischen Imperialismus“ vorgeworfen. Hat er Recht?

Zumindest versuchen die Deutschen häufig, ihre Politik moralisch zu rechtfertigen – als ob normale politische Ziele nicht ausreichen. Das lässt sich auch in der Außenpolitik und bei der Bewältigung der Eurokrise beobachten. Der ehemalige italienische Premierminister Mario Monti hat bekanntlich beklagt, für Berlin sei die Volkswirtschaft offenbar eine Unterabteilung der Moralphilosophie. Irgendwie neigt Deutschland dazu, seine Lehren aus der Geschichte universalisieren zu wollen. Dies zeigt sich auch in der Flüchtlingskrise: Artikel 16 des Grundgesetzes ist ja eine Antwort auf die deutschen Geschichte. Andere Länder haben aber andere Lehren aus ihren eigenen Geschichten gezogen. Das muss Deutschland akzeptieren.

Hatten wir denn überhaupt eine Wahl? Die Dynamik der Flüchtlingsströme hat doch niemand vorhergesehen.

Dass sich die Massen auf den Weg nach Europa machen, ist doch schon seit über einem Jahr bekannt. Nur, bis zum Sommer war es das Problem der anderen – nämlich von Griechenland und Italien. Die deutsche Regierung hat sich weitgehend weggeduckt. Ich wundere mich einfach etwas über den deutschen Diskurs: Viele meinen jetzt, dass die Flüchtlinge das demografische Problem Deutschlands lösen werden. Eigentlich müsste man sich doch viel nuancierter fragen, welche Art von Einwanderung die deutsche Wirtschaft benötigt. Jetzt fällt Deutschland auf die Füße, dass die deutsche Einwanderungspolitik in den vergangenen Jahrzehnten fast ausschließlich Asylpolitik war. Man hat nie wirklich versucht, Fachkräfte anzulocken. Für das demografische Problem braucht Deutschland eine wirkliche Einwanderungspolitik – trotz der vielen Flüchtlinge.

In der Eurokrise haben wir uns solidarisch gezeigt und umfassende Hilfsmaßnahmen für in Not geratene Staaten zur Verfügung gestellt. Umgekehrt sind die anderen Staaten nicht bereit, Deutschland in der Flüchtlingsfrage zu helfen. Wie ist diese Entsolidarisierung zu erklären?

Viele Länder – vor allem in der so genannten Peripherie der Eurozone – haben eben gerade nicht den Eindruck, dass Deutschland in der Eurokrise solidarisch war. Selbst die verwendete Sprache täuscht: In Deutschland ist viel von „Hilfsmaßnahmen“ die Rede. In Wirklichkeit waren das Kredite, deren Bedingungen harte Sparmaßnahmen und Strukturreformen waren, die wiederum zu Massenarbeitslosigkeit geführt haben. Aber interessanterweise haben sich auch Länder wie die Slowakei, die im Sommer in der Griechenlandkrise noch eindeutig auf der Seite Deutschlands waren, in der Flüchtlingskrise klar gegen Deutschland positioniert. Das hat mich überrascht, weil die mittel- und osteuropäischen Länder mit Deutschland ökonomisch eng verflochten sind und zur geoökonomischen Einflusssphäre Deutschlands gehören. Dass Deutschland auch vor den Anschlägen in Paris nicht in der Lage war, sie davon zu überzeugen, auch nur ein paar hundert Asylsuchende zu übernehmen, zeigt vor allem eins: Entweder Deutschland fehlt es an den Ressourcen oder an der politischen Legitimation, verschiedene Themen miteinander zu verbinden und die Pakete zu schnüren, die immer notwendig waren, damit die EU funktioniert.

Es ist viel davon die Rede, Deutschland müsse in Europa als Hegemon auftreten. Ist das dann überhaupt realistisch?

Ein richtiger Hegemon muss Normen schaffen und seine kurzfristigen Interessen für längerfristige Ziele zurückstellen, so wie die Amerikaner dies nach dem Zweiten Weltkrieg in -Europa getan haben. Deutschland hat in der Eurokrise aber keine Normen exportiert, sondern nur Regeln. Die anderen Länder haben diese Regeln nur widerwillig akzeptiert. Ich würde deshalb von einem Halb-Hegemon sprechen. Die Konstellation ähnelt in gewisser Hinsicht der Rolle Deutschlands zwischen 1871 und 1945 – nur auf geoökonomischem Gebiet: Die Gefahr besteht, dass die geopolitischen Konflikte, die es in Europa nach der Reichsgründung 1871 gab, nun in einer geoökonomischen Form zurückkehren.

Sie befürchten also, dass die übrigen Staaten Koalitionen gegen Deutschland eingehen?

In den ersten Jahren der Krise sah es teilweise so aus, als würden sich die südlichen Peripherieländer zusammenschließen, um gemeinsam gegen Deutschland zu agieren – zum Beispiel im Sommer von 2012. Seitdem Syriza Anfang dieses Jahres in Griechenland an die Macht kam, waren es aber 18 Eurostaaten gegen Griechenland. Dennoch, Matteo Renzi meinte während der Verhandlungen über das dritte Hilfspaket für Griechenland: „Zu Deutschland sage ich: genug ist genug“. Am Ende aber haben die Peripherieländer darauf verzichtet, Deutschland zu einer Lockerung der Austeritätspolitik oder Transfermechanismen zu bewegen.

Wo liegt also das Problem?

Es gibt ein Dilemma: Aus meiner Sicht werden es Frankreich, Italien und Griechenland schwer haben, ohne eine Veränderung in der Wirtschaftspolitik der Eurozone Wachstum und Beschäftigung zu schaffen. Deshalb gibt es weiterhin eine Art strukturellen Druck, eine Einheitsfront gegen Deutschland zu bilden. Bisher verhindert Frankreich das. Aber tun diese Länder dies nicht – so könnte man argumentieren –, dann droht die politische Mitte in diesen Ländern weiter ausgehöhlt zu werden, wie das in Griechenland schon geschehen ist. Die Situation ist nach wie vor hochexplosiv, auch wenn die Flüchtlingskrise vieles überlagert.

Wie geht es jetzt weiter?

Im besten Fall könnte die Flüchtlingskrise dazu führen, dass die Deutschen mehr Empathie für die Peripherieländer entwickeln, weil sie selbst erleben, wie es ist, wenn man Solidarität braucht, aber nicht bekommt. Im schlimmsten Fall ziehen die Deutschen aus der Eurokrise und der Flüchtlingskrise die Schlussfolgerung, dass die Europäische Union sie ausbeutet.

In Ihrem Buch vertreten Sie die These, dass Deutschland in der Eurokrise nicht Stabilität, sondern Instabilität, Chaos und unfreiwillige Gefolgschaft produziert hat.

Ja, die Deutschen haben immer von der „Stabilitätskultur“ gesprochen, meinen aber im Grunde nur Preisstabilität und schaffen im breiteren Sinne, also im Sinne von Unsicherheit, Instabilität in Europa. Deutschland hat seine – kurzfristigen – Präferenzen weniger mit Anreizen und dafür umso mehr mit Drohungen durchgesetzt. So wurde ein relativ kleines Problem zu einem großen: Aus der Griechenlandkrise ist eine existenzielle Krise der EU geworden, die nach fünf Jahre immer noch nicht gelöst ist. Insofern hat Bundeskanzlerin Angela Merkel auch nicht vorsichtig gehandelt, wie viele Kommentatoren schreiben, sondern ständig den Einsatz erhöht.

Was bedeutet die Flüchtlingskrise aus strategischer Sicht für die SPD?

Ich frage mich, ob der außergewöhnliche Konsens der vergangenen zehn Jahre – verkörpert von der Person Angela Merkel und zwei Großen Koalitionen – sich jetzt auflöst. Dieser Konsens basierte auf einer Mischung aus einer rechtsorientierten Wirtschaftspolitik und einer linksorientierten Sozial- und Umweltpolitik. Viele in Deutschland sehen gar nicht, wie rechts die wirtschaftspolitische Debatte hierzulande ist und wie stark sich dieser Diskurs von den Diskussionen in anderen Ländern abgekoppelt hat. Nun wacht das Parteiensystem aus seiner Erstarrung auf. Die deutsche Politik wird streitlustiger und unberechenbarer werden. Und ich finde das nicht unbedingt schlecht. Aus meiner Sicht war der Konsens ein Problem – vor allem in der Eurokrise. Ich hoffe, dass die Sozialdemokraten endlich eine wirkliche europapolitische Alternative formulieren. Anders als in der Flüchtlingspolitik sehe ich auf diesem Feld echte Profilierungsmöglichkeiten. Spätestens bei der Bundestagswahl 2017 wird deutlich geworden sein, dass Merkels Rettungspolitik einfach nicht funktioniert.

Kommen wir zur Außenpolitik. Ihnen zufolge hatte Deutschland in der Vergangenheit kaum übergeordnete außenpolitische Ziele. Das dürfte sich nun ändern: Die Bekämpfung der Fluchtursachen ist das derzeit wohl wichtigste außenpolitische Ziel Deutschlands.

Schon die Ukraine-Krise hat die deutsche Außenpolitik – oder wenigstens die deutsche Russlandpolitik – verändert. Die Annexion der Krim hat der Bundesregierung keine andere Wahl gelassen, als zusammen mit der EU und den Nato-Bündnispartnern gegenüber Russland eine härtere Gangart zu verfolgen. Seit dem Ende des Kalten Krieges war Deutschland „von Freunden eingekreist“, wie Volker Rühe gesagt hat, und es hat mit den Mitteln der Außenpolitik hauptsächlich wirtschaftliche Ziele verfolgt. Seitdem Russland die europäische Sicherheitsordnung infrage gestellt hat, muss Deutschland seine wirtschaftlichen Ziele strategischen Zielen unterordnen. Mit der Flüchtlingskrise haben sich die Prioritäten weiter geändert. Um sie zu lösen, muss man den Konflikt in Syrien irgendwie zu Ende bringen, was wiederum Russland involviert. Die Versuchung ist jetzt, den Russen Zugeständnisse zu machen, damit sie in Syrien kooperieren. Leider ist es schwierig, Russlands wirkliche Absichten in Syrien zu überschauen – auch Russlandexperten sind sich nicht einig. Ich hoffe, dass Sigmar Gabriel der Versuchung widersteht, sich mit Blick auf die Wähler im Osten von Merkels Russlandpolitik zu distanzieren. Viele Deutsche lehnen eine konfrontative Politik gegenüber Russland ja anscheinend immer noch ab.

Welche weiteren Ziele sollte Deutschland in der Außenpolitik verfolgen?

Außer in der Russlandpolitik hat sich die deutsche Außenpolitik im vergangenen Jahr sehr wenig gewandelt. Der so genannte Review-Prozess zur Neuorientierung der deutschen Außenpolitik, mit dem das Auswärtige Amtes kurz vor der Annexion der Krim begonnen hat, war für mich eine Enttäuschung. Die Botschaft des Schlussberichtes lautet eigentlich „Weiter so!“. Was bedeutet: Deutschland wäre weiter ein eher kurzfristig orientierter Handelsstaat, der auch vor autoritären Regimen keine Berührungsängste hat, solange die Exportindustrie davon profitiert. Nehmen wir zum Beispiel China: Großbritannien scheint eine solche interessengeleitete Chinapolitik jetzt zu kopieren – und geht dabei womöglich sogar weiter. Wir Europäer müssen uns darüber klar werden, welche Interessen wir in Asien haben. Aus meiner Sicht ist die Gefahr groß, dass wir immer abhängiger von China als Markt und Investor werden, weil wir unsere Interessen zu sehr wirtschaftlich, also zu eng, definieren.

Eine der Kategorien, mit denen Sie sich in Ihrem Buch auseinandersetzen, ist die „Normalität“ der deutschen Außenpolitik. Was ist damit gemeint?

Der Begriff „Normalität“ hat sich im Laufe der Jahre gewandelt. In den neunziger Jahren war damit Bündnisfähigkeit gemeint – also die Fähigkeit, militärische Mittel einzusetzen wie ein „normales“ Nato-Mitglied. Heute werden im deutschen Diskurs mit Normalität fast immer die Fähigkeit und der Wille bezeichnet, die eigenen nationalen Interessen zu verfolgen wie normale Staaten. Es geht also auch darum, dass Deutschland sich von Nato-Bündnispartnern distanzieren soll – etwa als es sich 2011 bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat zu einer militärischen Intervention in Libyen enthalten hat.

Muss sich Deutschland in der Welt auch militärisch stärker engagieren?

Ja, Deutschland ist zu sehr Konsument und zu wenig Anbieter von Sicherheit. Das fängt schon mit dem niedrigen Verteidigungsetat an. Eigentlich sollen Nato-Mitglieder mindestens 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben. In Deutschland liegt der Wert bei nur 1,3 Prozent. Klar: Geld entspricht nicht notwendigerweise Fähigkeiten. Aber bei den Fähigkeiten sieht es leider nicht viel besser aus. Was Einsätze der Bundeswehr angeht, geht die Bereitschaft für militärische Interventionen aber nicht nur in Deutschland, sondern auch anderswo im Westen zurück. Nach der Ukraine-Krise liegt der Fokus jetzt eher auf Abschreckung – zum Beispiel indem man Ausrüstung und Truppen in die baltischen Staaten und nach Polen verlegt, um Russland zu zeigen, dass wir es mit kollektiver Sicherheit ernst meinen.

Auch die Verhandlungen um TTIP werden die Politik in den kommenden Jahren weiter beschäftigen. Nirgendwo sonst ist der Widerstand dagegen so groß wie in Deutschland. Empfinden Sie dies als schleichende Entwestlichung?

Ich glaube an das, was Heinrich August Winkler das normative Projekt des Westens nennt – auch in einer Welt, in der sich die Macht vom Westen nach Osten verschiebt. Wie Winkler sehe ich die Gefahr einer schleichenden Entwestlichung. Aber was TTIP betrifft, wäre ich mit einer Bewertung eher vorsichtig. Meiner Meinung nach wird der wirtschaftliche Vorteil von den Befürwortern übertrieben. Ich glaube auch nicht, dass TTIP – im Gegensatz zur Transpazifischen Partnerschaft – strategisch wirklich so wichtig ist, wie viele behaupten. Die Befürworter von TTIP machen einen Fehler, wenn sie sich auf den Begriff des Westens berufen und damit den Westen mit den wirtschaftlichen Interessen Europas und der Vereinigten Staaten gleichsetzen. Stattdessen muss es dem Westen um Werte gehen. Kurz gesagt: TTIP abzulehnen hat mit Entwestlichung nichts zu tun.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

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