Die SPD und Europa
Seit dem Beginn der Eurokrise 2010 nimmt Deutschland als größtes Gläubigerland in einem gemeinsamen Währungssystem souveräner Staaten eine zentrale Rolle ein. Aus Angst vor einer „Transferunion“ hat die Regierung Merkel versucht, eine Vergemeinschaftung der Schulden in der Eurozone zu vermeiden. Stattdessen soll Europa mittels Sparpolitik „wettbewerbsfähiger“ werden. Diese Politik hat die Ungleichgewichte in Europa nicht verringert, sondern vergrößert: Während die Arbeitslosigkeit in Deutschland so niedrig ist wie nie seit der Wiedervereinigung, ist sie in den Ländern der so genannten Peripherie drastisch angestiegen. Die Anpassungskosten innerhalb der Eurozone werden überproportional von den „Armen und Machtlosen“ (Andrew Moravcsik) getragen.
Nicht zuletzt von den deutschen Sozialdemokraten hatten sich viele Europäer – vor allem aus den Krisenländern – erhofft, dass sie eine Alternative aufzeigen würden. Aber bisher hat die SPD noch keine überzeugende europapolitische Alternative gefunden. So verwundert es kaum, dass die Partei das Thema Europa im Bundestagswahlkampf 2013 geradezu vermied. Und im Verlauf der Koalitionsverhandlungen nach der Wahl gab sie ihre europapolitischen Forderungen, etwa die Idee eines europäischen Schuldentilgungsfonds, allzu schnell auf, um sich stattdessen auf innenpolitische Themen wie Mindestlohn und Rente zu konzentrieren. „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ hieß es früher unter deutschen Linken. Heute fühlen sich viele europäische Linke von den deutschen Sozialdemokraten verraten.
Die SPD ist hin- und hergerissen zwischen Deutschland und Europa
Wie schon in der Vergangenheit ist die SPD hin- und hergerissen zwischen Deutschland und Europa. Sie will „europäischer“ sein als die CDU, findet aber keinen Weg, dies den deutschen Wählern zu verkaufen. Schon gar nicht hat sie es vermocht, ein alternatives Modell zur Sparpolitik Merkelscher Prägung darzulegen. Sozialdemokraten haben Angst vor der Kritik, sie würden eine „Schuldenunion“ schaffen, in welcher deutsche Steuerzahler unbegrenzt für die Schulden anderer Länder aufkommen müssten. Die von Merkel versprochene „Stabilitätsunion“ hört sich da viel attraktiver an.
Gewiss: Mit der Schwierigkeit, eine glaubwürdige Alternative zur Austeritätspolitik zu finden, ist die SPD in einer ähnlichen Situation wie andere linke Parteien in Europa auch. Jedoch hat ihr intellektuelles Versagen einen besonderen Grund: In Bezug auf die Eurokrise teilt die Partei nämlich weitgehend Merkels Grundannahmen, darunter besonders die Vorstellung, die deutsche Wirtschaft sei für andere Länder ein Vorbild. Dies wiederum hat etwas mit dem Versuch der SPD zu tun, den Umbau der deutschen Wirtschaft, der zum zweiten „Wirtschaftswunder” geführt habe, als Erfolg der rot-grünen Regierung zu reklamieren. Hinzu kommt, dass die deutsche Antwort auf die im Herbst 2008 ausgebrochene Finanzkrise wesentlich von Sozialdemokraten bestimmt wurde und ihrerseits die deutsche Eurokrisenpolitik beeinflusst hat. Die SPD kann ihr Dilemma nur lösen und eine echte europapolitische Alternative finden, wenn sie sich selbstkritisch mit den Auswirkungen ihrer damaligen Wirtschaftspolitik auseinandersetzt – aber diesmal aus europäischer Perspektive.
Um zu verstehen, wie tief die SPD in die Europapolitik der Merkel-Regierung verwickelt ist, muss man also zunächst auf die Ära Schröder zurückblicken. Als dieser im Jahr 1998 an die Macht kam, versprach er, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren, die gerade auf mehr als vier Millionen gestiegen war. Die Ursache dieses Anstiegs: Deutschlands verarbeitende Industrie war immer stärker dem globalen Wettbewerb ausgesetzt und litt vor allem unter der Konkurrenz aus den Schwellenländern. In seiner ersten Amtsperiode schaffte es Gerhard Schröder nicht, die deutsche Wirtschaft zu reformieren. Aber die Reformen der Agenda 2010 in seiner zweiten Amtsperiode führten – zusammen mit anderen Faktoren – zu einer Verwandlung der deutschen Wirtschaft.
Parallel dazu, aber eher als Folge der erstaunlichen Lohnzurückhaltung, welche die Tarifpartner im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts vereinbarten, fielen die Lohnstückkosten in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern dramatisch. Zur gleichen Zeit produzierte die Einführung der gemeinsamen Währung einen Kreditboom in anderen Ländern des Euroraums, von der deutsche Firmen massiv profitierten. Auch war die Schwäche des Euro im Vergleich zur D-Mark für deutsche Exporteure ein Vorteil – plötzlich waren sie außerhalb Europas viel wettbewerbsfähiger. Nach 2005 begann die Arbeitslosigkeit zu fallen und Deutschlands Leistungsbilanz entwickelte sich von einem Defizit in Höhe von 1,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) im Jahr 2000 zu einem Überschuss von 7,4 Prozent im Jahr 2007.
In Merkels Europapolitik ist die SPD von Anfang an tief verstrickt
Dementsprechend ist es keine Überraschung, dass die SPD das neue „Wirtschaftswunder“ als sozialdemokratischen Erfolg sieht. „Die Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes sind von der SPD-geführten Bundesregierung unter Gerhard Schröder gelegt worden“, hieß es beispielsweise im Wahlprogramm 2013. Statt wie andere europäische Staaten die Deindustrialisierung voranzutreiben und auf das Wachstum von Dienstleistungen zu setzen, habe Deutschland in der Zeit der rot-grünen Regierung eine „aktive Industriepolitik“ verfolgt. Diese habe die deutsche Wirtschaft zu „einer der modernen und zugleich einer der erfolgreichsten Volkswirtschaften Europas und der Welt“ verwandelt. Wie diese Zeilen zeigen, sieht die SPD möglicherweise mehr noch als die CDU den wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands als ihren Triumph an.
Die „Verstrickung“ der SPD in die Europapolitik Merkels geht aber noch über das Erbe der rot-grünen Regierung hinaus. Sozialdemokraten haben nicht nur maßgeblich zur aktuellen „Wettbewerbsfähigkeit“ der deutschen Wirtschaft beigetragen, sondern mit der Wirtschaftspolitik der Großen Koalition zwischen 2005 und 2009 auch Merkels Antwort auf die Eurokrise mitgestaltet. So unterstützte die SPD 2009 die Einführung der Schuldenbremse, die andere EU-Mitgliedsstaaten derzeit nach deutschem Vorbild in ihren Verfassungen verankern müssen. Mahnende sozialdemokratische Stimmen wie jene von Sebastian Dullien, der die Schuldenbremse als „Wahnsinn“ beschrieb, waren in der Minderheit: Die SPD ist fester Bestandteil dessen, was der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze den deutschen „Anti-Schulden-Konsens“ nennt.
Dieser Konsens stellte die Weichen für die deutsche Antwort auf die Finanzkrise, die im Herbst 2008 mit dem Zusammenbruch von Lehman-Brothers begann. Für den damaligen Finanzminister Peer Steinbrück und viele andere deutsche Sozialdemokraten handelte es sich eindeutig um eine anglo-amerikanische Krise, die das deutsche Wirtschaftsmodell bestätigte und schuldenfinanziertes Wachstum diskreditierte. Als der britische Premierminister Gordon Brown Ende 2008 Maßnahmen zur Wachstumsstimulierung forderte, warf ihm Steinbrück „krassen Keynesianismus“ vor, was wiederum den amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman dazu brachte, die deutsche Regierung als „dumpfbackig“ zu bezeichnen. Trotz seiner Rhetorik hat Steinbrück übrigens selbst mehrere keynesianische Wachstumsmaßnahmen in die Tat umgesetzt. Die Stichworte lauten Abwrackprämie und Kurzarbeit.
Der antikeynesianische Konsens in Deutschland hat auch die Antwort der schwarz-gelben Regierung auf die Eurokrise beeinflusst, die wenig später folgte. Für Deutschland war und ist die Eurokrise vor allem eine Staatsschuldenkrise. Als die Krise sich ausdehnte, sah man in Deutschland andere Krisenländer wie Irland und Spanien tendenziell als Varianten des griechischen Falls. In Wirklichkeit bestand das Problem dort weniger in staatlichen Schulden als in Immobilienblasen. Paul Krugman bezeichnete die Fehldeutung als „Hellenisierung“ des Krisendiskurses. Vor allem in Deutschland sei die Krise als von anderen verursacht wahrgenommen worden. Kein Wunder, dass man daraus die Konsequenz zog, andere europäische Länder sollten deutscher werden – und bitteschön die Schröderschen Reformen sowie die Schuldenbremse nachholen.
Dabei sah es kurz nach Ausbruch der Eurokrise so aus, als würde die SPD doch eine alternative Lösung anbieten. Im Dezember 2010 plädierten Peer Steinbrück und der damalige SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier in einem Gastbeitrag in der Financial Times für einen kühneren Ansatz als den Kurs von Angela Merkel. Sie forderten nun explizit Eurobonds, wenn auch nur für einen begrenzten Anteil der Staatschulden von Euro-Staaten. Damit weckten sie im Rest Europas große Hoffnungen. Aber seitdem hat sich die SPD immer stärker von einer Vergemeinschaftung der Staatsschulden im Allgemeinen und von Eurobonds im Besonderen distanziert. Die CDU hinderte dies nicht daran, in ihrem Wahlprogramm zu schreiben: „Rot-Grün setzt auf eine Vergemeinschaftung der Schulden und Eurobonds.“
Die Europapolitik der SPD basiert auf denselben Prämissen wie jene der CDU
Während des Wahlkampfs sprach Steinbrück das Thema Europa gelegentlich an und ging durchaus in die Offensive. In einer Rede zur Außenpolitik an der Freien Universität Berlin warf er Merkel im Juni 2013 eine „eindimensionale“ Krisenpolitik vor, die „Zweifel an der Zuverlässigkeit deutscher Solidarität ausgelöst“ habe. Steinbrück thematisierte sogar den deutschen Leistungsbilanzüberschuss: „Kein anderes Land hat gemessen an seiner Wirtschaftskraft einen so extremen Bilanzüberschuss wie Deutschland.“ Und er sagte, die deutsche Inlandsnachfrage müsse gestärkt werden, um die Ungleichgewichte in der Eurozone abzubauen. Auch forderte er Maßnahmen zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in der Peripherie und einen „Marshall-Plan“, der mit den Mitteln aus einer neuen europaweiten Finanztransaktionssteuer finanziert werden solle.
Dennoch: Im Großen und Ganzen war der Unterschied zwischen der CDU und SPD zum Thema Europa in den vergangenen Jahren eher subtiler Natur. Zwar redet die SPD der Solidarität mit dem Süden Europas das Wort und versucht, die Wirkung der von Deutschland verhängten Sparpolitik abzumildern. Aber letztlich basiert der europapolitische Ansatz der SPD auf denselben Prämissen wie jener der Christdemokraten: Deutschland habe im letzten Jahrzehnt seine „Hausaufgaben“ gemacht, derweil andere Staaten der Eurozone eine Party feierten. Nun müssten diese jene Sorte von Maßnahmen nachahmen, die Deutschland unter Schröder unternahm. Während die CDU manchmal den Eindruck vermittelt, sie wolle andere in Europa zwingen, deutscher zu werden, scheint die SPD anderen in Europa helfen zu wollen, deutscher zu werden.
Um sich von Merkels Europapolitik zu befreien und eine echte Alternative zu finden, muss die SPD anerkennen, dass die deutsche Wirtschaft gar nicht so stark ist, wie viele in Deutschland (und auch anderswo in Europa) vermuten. Das so genannte zweite Wirtschaftswunder ist in Wirklichkeit labil. Das Problem ist vor allem, dass die neue „Wettbewerbsfähigkeit“ der deutschen Wirtschaft zuvörderst mittels einer inneren Abwertung erreicht wurde. Diese ist aus verschiedenen Gründen nicht nachhaltig. Anstatt zu versuchen, ein nicht nachhaltiges Wirtschaftsmodell zu verteidigen, sollte die SPD anfangen darüber nachzudenken, wie man dieses Modell reformieren könnte.
Schon vor Ausbruch der Krise war klar, dass die Reformpolitik der Agenda 2010 durchaus auch negative Wirkungen hatte. Sie förderte Exporte und schützte Jobs in der verarbeitenden Industrie, vergrößerte jedoch zugleich die Lücke zwischen Arm und Reich und beförderte die Herausbildung einer neuen Unterschicht niedrig bezahlter Arbeiter. Diese Entwicklung stellt für die SPD auch ein politisches Problem dar, weil sie die Wählerschaft links der Mitte gespalten und es damit für die Partei schwieriger gemacht hat, den Bundeskanzler zu stellen. Vielleicht deswegen hat die SPD diese negative Wirkung ihrer Reformpolitik innerhalb Deutschlands bereits anerkannt. Im Wahlprogramm 2013 hieß es beispielsweise, ihre im Allgemeinen erfolgreiche Reformpolitik in der Zeit der rot-grünen Regierung habe auch zu „Missbrauch von Leiharbeit, Minijobs und Niedriglohnbeschäftigung“ geführt, was jetzt zu „korrigieren“ sei.
Spätestens die Eurokrise hat gezeigt, dass die Verwandlung der deutschen Wirtschaft Anfang des neuen Jahrhunderts nicht nur innerhalb Deutschlands negative Auswirkungen hatte, sondern auch Probleme für andere Länder der Eurozone schuf. Auf europäischer Ebene ist sogar das gleiche Phänomen zu betrachten wie innerhalb Deutschlands: die Ungleichheit wächst. So hat sich die Kluft zwischen Überschuss- und Defizitländern im ersten Jahrzehnt seit der Einführung des Euro vergrößert. Dies ist zum Teil eine Folge der Währungsunion selbst, die statt der erhofften Konvergenz vielmehr Divergenz produziert hat. Zudem hat die Kluft innerhalb der Eurozone etwas mit der Wirtschaftpolitik seiner größten Mitgliedsstaaten zu tun. Mit seinem riesigen Leistungsbilanzüberschuss ist Deutschland so etwas wie das „China Europas“, schreibt Andrew Moravcsik.
Die meisten Deutschen haben am »zweiten Wirtschaftswunder« nicht teil
In Deutschland neigt man dazu, den eigenen Leistungsbilanzüberschuss als Zeichen wirtschaftlicher Stärke zu betrachten (wo doch der Begriff „Leistung“ in diese Richtung geht). Aber die Verteidigung der neuen deutschen „Wettbewerbsfähigkeit“ hat es nicht nur den Krisenländern erschwert, aus der Rezession herauszuwachsen, sondern sie hat, als die Krise ausbrach, auch den Spielraum Angela Merkels beschränkt. Weil die neue „Wettbewerbsfähigkeit“ durch eine innere Abwertung erreicht worden ist, haben die meisten Deutschen das Gefühl, dass sie am Erfolg der deutschen Wirtschaft nicht Teil gehabt haben – außer, indem sie ihre Jobs behalten konnten. Die Lohnzurückhaltung unterdrückt die Inlandsnachfrage und stärkt den Unwillen der Deutschen, mit Hilfe von Rettungspaketen europäische Nachbarn zu unterstützen.
Außerdem hat die Art, wie die deutsche Wirtschaft nach der Jahrtausendwende umstrukturiert wurde, den ohnehin großen deutschen Widerstand gegen die Inflation gestärkt. Obwohl die Europäische Zentralbank (EZB) ein Mandat hat, die Inflation bei etwa zwei Prozent zu halten, liegt die Inflationsrate in der Eurozone seit langem deutlich unterhalb dieser Schwelle. Die meisten Ökonomen außerhalb Deutschlands glauben, dass eine moderate Inflation nötig ist, um den Defizitländern eine Chance zu geben, ihre Staatsschuldenquoten zu reduzieren. Aber auch eine solche moderate Inflation wäre für deutsche Exporteure und Sparer verheerend. Deshalb herrscht in Deutschland große Angst, die Inflation könne sich – wie es 2012 auf einer Spiegel-Titelseite hieß – als schleichende „Enteignung“ auswirken.
Der Vorwurf lautet also, Deutschland versuche, die gemeinsame Währung für seine eigenen wirtschaftlichen Interessen auszubeuten. Auf der einen Seite profitiert Deutschland als „Exportnation“ von der Schwäche des Euro im Vergleich zur D-Mark und will deswegen die gemeinsame Währung zusammenhalten. Auf der anderen Seite ist Deutschland aber nicht bereit, das Nötige zu tun, damit die gemeinsame Währung überhaupt funktionieren kann. Dabei ist die Situation volkswirtschaftlich betrachtet relativ einfach: Wenn ein Land innerhalb einer Währungsunion dauerhaft einen Leistungsbilanzüberschuss führt und sich hartnäckig weigert, diesen zu reduzieren, muss es zu dauerhaften fiskalischen Transfers bereit sein. Eine andere Möglichkeit gibt es schlichtweg nicht – oder die gemeinsame Währung zersplittert.
Die Handelsbilanzüberschüsse machen Deutschland äußerst verletzlich
Dieses Dilemma zeigt auch, dass Deutschlands Überschuss in mancher Hinsicht kein Zeichen der Stärke ist, sondern Europas größte Volkswirtschaft äußerst verletzbar macht, zumal die Reformen der Schröder-Ära die Exportabhängigkeit noch gesteigert haben. Mittlerweile stammt fast die Hälfte des deutschen BIP aus Exporten. Für eine große Volkswirtschaft ist das eine erstaunliche Quote. Es bedeutet, dass sich Fluktuationen in der Weltwirtschaft auf Deutschland äußerst stark auswirken. Die Exportabhängigkeit hat sogar Folgen für die deutsche Außenpolitik, nicht zuletzt weil die Auslandsnachfrage zunehmend aus autoritären Mächten wie China oder den Golf-Staaten stammt. Das macht es schwieriger für Deutschland, eine wertgebundene, „aufgeklärte“ Außenpolitik zu verfolgen.
Abgesehen von den negativen Auswirkungen auf seine Nachbarländer in der Eurozone ist das deutsche Wirtschaftsmodell aber auch für Deutschland selbst nicht nachhaltig. Zum Teil wegen der Schuldenbremse hat Deutschland nicht in Ausbildung, Forschung und Infrastruktur investiert – trotz der extrem niedrigen Zinsen seit Ausbruch der Krise. Im Gegenteil geht die Investitionsquote in Deutschland zurück und liegt seit 2001 deutlich unter dem Durchschnitt der OECD-Staaten. Kurzfristig hat dieses niedrige Niveau der Investitionen zur „Wettbewerbsfähigkeit“ Deutschlands beitragen, langfristig aber wird sie diese unterminieren. Adam Posen, Präsident des Peterson Institute for International Economics in Washington, hat vor kurzem sogar argumentiert, dass Deutschland „sich auf der Wertschöpfungsleiter nach unten statt nach oben bewegt“.
Es liegt also auf der Hand, dass die deutsche Wirtschaft für Europa kein Vorbild sein kann. Aber statt sich selbstkritisch mit den negativen Folgen des deutschen Wirtschaftsmodells besonders für den Rest Europas auseinanderzusetzen, hat die SPD Merkel eher dafür kritisiert, dass sie die Umstrukturierung, die unter Rot-Grün begann, nicht weiterentwickelt hat. „Hinzugefügt hat sie nichts“, sagte Gerhard Schröder im vergangenen Jahr. Aber weiter in die gleiche Richtung zu gehen, führt in eine Zukunft der unendlichen Lohnzurückhaltung und der wachsenden Ungleichheit in Deutschland sowie zu Spannungen und Feindschaft in Europa. Für eine sozialdemokratische Partei wäre das keine angemessene Option. Stattdessen muss Deutschland umkehren und seine Wirtschaft erneut reformieren.
Politologen unterscheiden zwischen „responsivem“ und „responsiblem“ (oder „verantwortungsvollem“) Regieren. Häufig wird argumentiert, der Spielraum der Regierungen demokratischer Staaten werde durch verschiedene interne und externe Sachzwänge immer mehr beschränkt, welche wiederum mit der öffentlichen Meinung immer schwieriger zu vereinbaren seien. Es wird also immer komplizierter, gleichzeitig das Richtige zu tun (also „responibel“ zu sein) und auch bei den Wählern gut anzukommen (also „responsiv“ zu sein). In Europa zeigt sich das Problem am deutlichsten in den Krisenländern. Hier trat in den vergangenen vier Jahren eine Regierung nach der anderen ab, weil sie für eine Politik, zu der es im Kontext der gemeinsamen Währung „keine Alternative“ gab, keine Unterstützung in der Bevölkerung finden konnte.
Die SPD muss eine neue Reformpolitik entwickeln
Definiert man innerhalb der EU „Verantwortung“ national, so erscheint im Fall Deutschlands die Spannung zwischen „responsivem“ und „responsiblem“ Regieren auf den ersten Blick nicht so krass ausgeprägt wie in vielen anderen Euroländern. Definiert man Verantwortung jedoch europäisch, erscheint diese Spannung krasser als bei fast jedem anderen EU-Mitgliedsstaat: Zwischen den Erwartungen an Deutschland und den Präferenzen der Bevölkerung in Deutschland existiert eine enorme Kluft, vor allem hinsichtlich der Frage einer Vergemeinschaftung von Schulden. Will die SPD eine Alternative zu Merkels Europolitik finden, die diese Kluft überbrücken könnte, muss sie sich von ihrer Vergangenheit befreien und eine neue Reformpolitik entwickeln.
Zunächst sollte die SPD ihre Haltung zum Begriff „Wettbewerbsfähigkeit“ verändern. Deutschland muss weniger „wettbewerbsfähig“ werden. Doch anders als viele Deutsche glauben, erwartet niemand von ihnen, dass sie ihren Wohlstand aufgeben. In Wirklichkeit ist es umgekehrt: Es ist wahrscheinlicher, dass Deutschland Wohlstand einbüßt, wenn es weiterhin versucht, seine „Wettbewerbsfähigkeit“ unter allen Umständen zu verteidigen. So hat Deutschland den Peripherieländern im vergangenen Jahrzehnt so viel Geld geliehen, dass ein wesentlicher Teil der Schulden jetzt abgeschrieben werden muss.
Manche Deutsche scheinen dagegen zu glauben, die „Wettbewerbsfähigkeit“ der Peripherie lasse sich verbessern, ohne dass Deutschland an „Wettbewerbsfähigkeit“ verliert. Sie argumentieren, es gebe kein Nullsummenspiel: Wenn alle Euroländer die richtigen Strukturreformen durchführten, werde Europa als Ganzes „wettbewerbsfähiger“. Dass ein solcher Ansatz klappen würde, ist sehr unwahrscheinlich. Aber selbst wenn dies der Fall wäre, hätte es zwangsläufig eine EU zum Ergebnis, die einen extrem großen und damit höchst problematischen Leistungsbilanzüberschuss mit dem Rest der Welt ausweisen würde. Die SPD hat ebenso wenig wie die CDU eine Antwort auf die Frage, woher denn in der Welt die benötigte Nachfrage kommen sollte. Europa würde also dem Rest der Welt antun, was Deutschland gerade Europa antut. Der Rest der Welt könnte mit Abwertung zurückschlagen und damit einen Währungskrieg auslösen.
So kontraintuitiv es klingen mag: Es gibt keine vernünftige Alternative dazu, einen Verlust an „Wettbewerbsfähigkeit“ Deutschlands im Verhältnis zu anderen Euroländern anzustreben. Konkret bedeutet dies, dass die Reallöhne in Deutschland steigen müssen, während die Reallöhne in der Peripherie fallen werden. Die Deutschen müssen sich also keinen geringeren, sondern einen höheren Lebensstandard erlauben. Anders gesagt: Die deutschen Arbeitnehmer könnten endlich die Früchte ihrer Arbeit im vergangenen Jahrzehnt genießen. Der geplante gesetzliche Mindestlohn ist ein guter Anfang. Noch wichtiger aber wäre ein Anstieg der Löhne – nicht im niedrigbezahlten Dienstleistungssektor, sondern in der verarbeitenden Industrie.
Viele Vertreter der deutschen Wirtschaft und der CDU weisen eine solche Politik mit dem Hinweis darauf zurück, dass deutsche Unternehmen nicht mehr nur mit Konkurrenten innerhalb, sondern zunehmend auch außerhalb Europas im Wettbewerb stehen. Daher könne es Deutschland sich nicht leisten, die Löhne steigen zu lassen; die neu gewonnene „Wettbewerbsfähigkeit“ deutscher Exportunternehmen würde unterminiert. Es stimmt natürlich, dass deutsche Firmen immer größerer Konkurrenz ausgesetzt sind. Dieses schwierige Problem für alle entwickelten Länder hat in manchen Staaten zu der Strategie geführt, immer stärker auf Dienstleistungen zu setzen. Wenn Deutschland anders als diese Länder seine verarbeitende Industrie behalten will, muss deren Konkurrenzfähigkeit auf Innovation und Produktivitätszuwachs gründen – statt auf Lohnzurückhaltung . Sonst droht der allmähliche Zerfall der sozialen Marktwirtschaft in Europa.
Ein Sozialdemokrat im Kanzleramt? Nur mit neuem Wachstumsmodell
Sozialdemokratische Parteien sollten die Idee des „globalen Wettkampfes“ grundsätzlich ablehnen – und besonders einen Wettkampf innerhalb der Europäischen Union, die man in Deutschland ja zugleich oft als „Schicksalsgemeinschaft“ bezeichnet. Für eine Partei wie die SPD ist eine solche Politik der Konkurrenz ein Verrat an ihrer langen internationalistischen Geschichte. Statt wie die CDU die „Wettbewerbsfähigkeit“ Deutschlands bis aufs Messer zu verteidigen, sollte die SPD für ein ausgeglicheneres Wachstum stehen – für ein Ziel also, das alle EU-Mitgliedsstaaten gemeinsam verfolgen können. Ausgeglichenheit hat eine interne und eine externe Dimension. Intern bedeutet es ein Wachstum, das nicht nur einen Teil der Bevölkerung einschließt, sondern alle. Extern bedeutet es ein Wachstum, das nicht auf Kosten anderer in Europa entsteht.
Soll eine ausgeglichene Wirtschaft erreicht werden, muss die deutsche Volkswirtschaft ihre Exportabhängigkeit reduzieren. Der Beitrag des deutschen Exportsektors zum BIP muss also reduziert werden. Das heißt auch, Wachstum in anderen Sektoren zu fördern. Ein Teil der Arbeitnehmer wird sich vom Exportsektor in andere Sektoren bewegen müssen. Das wird schwierig, aber die Arbeitslosigkeit muss dadurch nicht unbedingt steigen.
Kurzum: Statt anderen in Europa die deutsche Wirtschaft als Vorbild anzupreisen, sollte die SPD zusammen mit den europäischen Nachbarn eine gesamteuropäische Alternative zur Austeritätspolitik entwickeln. Diese Politik würde nicht nur Europa zugutekommen, sondern auch der SPD selbst: Nur wenn sie deutlich macht, mit welchen Reformen ausgeglicheneres Wachstum möglich wird, kann die SPD die Spaltung der politischen Linken in Deutschland überwinden und erneut die Voraussetzungen für eine Bundesregierung unter sozialdemokratischer Führung schaffen.