Der Gegner heißt Ignoranz
Wer die Situation in sozialen Brennpunkten oder in Stadtlagen mit besonderem sozialen Förderbedarf verstehen will, darf – neben einer Vielzahl äußerer Faktoren – die kulturellen Brüche nicht außer Acht lassen. Waren und sind alle Einwanderer wirklich bereit, die Konsequenzen zu akzeptieren, die sich aus dem Wechsel des Lebensmittelpunkts in einen anderen Kulturkreis zwangsläufig ergeben? Erkennen sie die Selbstverständlichkeit immer an, sich den Regeln des Zusammenlebens in einem anderen Land anpassen zu müssen? Die Antworten müssen unterschiedlich ausfallen. Namen wie Necla Kelek, Seyran Ates, Serap Cileli, Cem Özdemir, Vural Öger und die vielen, vielen anderen Menschen mit gelungenen Integrationskarrieren stehen für ein klares Ja. Aber Parallelgesellschaften, hinter verschlossenen Wohnungstüren abgeschottete Familien, religiöser Fundamentalismus und archaische Lebenswelten begegnen uns im Alltag als ein deutliches Nein.
Vier Jahrzehnte staatlich verordnetes Nichtstun
Die Verweigerung einer fördernden wie fordernden Integrationspolitik ist der ungewollten, aber gleichwohl unheiligen Allianz zweier politischer Antipoden geschuldet. „Wir müssen uns nicht um sie kümmern, denn sie gehen ja sowieso wieder in ihr Heimatland zurück“, sagten die einen. „Wir brauchen da gar nicht steuernd eingreifen, weil Integration in einer multikulturellen Gesellschaft von allein geschieht“, lautete die andere Meinung. Beides war falsch. Erst die rot-grüne Bundesregierung setzte neue Zeichen, schuf eine rechtliche Grundlage für die Einwanderung und schockierte die Öffentlichkeit mit der damals als grausam empfundenen Wahrheit, dass die Bundesrepublik Deutschland die zweitgrößte Einwanderungsnation der Welt ist.
Die Folgen von 40 Jahren verschlafener Integrationspolitik und einer Asylpolitik, die Menschen in den Sozialtransfer zwang und sie damit staatlich verordnetem Nichtstun zuführte, sind heute evident. Auch ist es uns nicht gelungen, die archaischen Lebensmuster durch den mitteleuropäischen Wertekanon zu ersetzen. Die Gleichheit der Geschlechter, Gewaltfreiheit in der Familie und die Unverletzlichkeit des Körpers sind den tradierten Rollenzuweisungen untergeordnet. Wir müssen daher endlich Schluss machen mit der beobachtenden Gesellschaft, dürfen die Kärrnerarbeit der Integration nicht der Beliebigkeit preisgeben und es bei einem Angebots-Tsunami bewenden lassen.
Wir brauchen endlich eine animierende Integrationspolitik
Stattdessen brauchen wir eine animierende Integrationspolitik, die die Leistungen der unterstützenden Solidargemeinschaft mit der deutlich formulierten Erwartung verknüpft, dass auch die Einwanderer sich bewegen und ihre Kompetenzen einbringen müssen. Die Adaption des Sozialsystems als alleinige Lebensgrundlage reicht hierfür nicht aus. Auch darf es keine Scheu davor geben, die Grenzen der Tolerierbarkeit von Regelverletzungen aufzuzeigen. Ein Beispiel hierfür ist die Schulpflicht. Kommt das Kind nicht in die Schule, kommt das Kindergeld nicht auf das Konto – das könnte eine einprägsame und leicht nachvollziehbare Formel sein. Auch das Einführen des Straftatbestands der Zwangsehe wäre ein konsequentes Signal. Doch seit Jahren sind wir bei diesen Punkten nur eine Rederepublik.
Unsere Gesellschaft hat in den vergangenen Jahren viel von ihrer Durchlässigkeit eingebüßt. Alle internationalen Vergleichsstudien bescheinigen uns inzwischen ein selektives Gesellschafts- und Bildungssystem. Gerade Einwanderer nehmen die sich manifestierenden Barrieren schmerzlich wahr. Auch erziehungsüberforderte und erziehungsunwillige Eltern sind eine Ursache für ausbleibenden sozialen Aufstieg, besonders für den Mangel an Ehrgeiz hierzu. Wo Eltern versagen, muss sich die Gesellschaft an ihre Stelle setzen. Konkret heißt das: verpflichtende Vorschulerziehung, in Brennpunktlagen Kindergartenpflicht, Ganztagsschulen als Regelangebot, Verbesserung von Klassengrößen und Schüler-Lehrer-Relation und ganz besonders Multiethnizität und Multiprofessionalität des Lehrkörpers. Die Schule muss von einer Lehranstalt zu einer Sozialisationsinstanz weiterentwickelt werden, was im Übrigen auch vielen deutschstämmigen Schülern gut täte. Heute verlassen 25 Prozent aller Schulabgänger, egal welcher Abstammung, die Schule ausbildungsunfähig. Die Bildungsrepublik der Kanzlerin ist im Moment noch ein reines Fantasiegebilde.
Gerade bei der völlig unstrittigen Notwendigkeit, das Bildungssystem zu reformieren, stellt sich ein schier unüberwindbares Hindernis in den Weg: der Föderalismus. Die Bildungspolitik ist der entscheidende Baustein der Integration. Es kann nicht richtig sein, dass die politische Tagesperformance auf Länderebene entscheidend dafür ist, ob Integrationsbemühungen überhaupt stattfinden und wie erfolgreich sie sind. Integrationspolitik ist nicht durch 16 teilbar.
Darüber hinaus brauchen wir dringend einen Paradigmenwechsel in der Familienpolitik. In fast allen OECD-Staaten stehen auf diesem Gebiet Investitionen in die Infrastruktur und in Dienstleistungen für Kinder im Mittelpunkt. Doch bei uns hat traditionell die pekuniäre Förderung der Eltern Vorrang, mit dem Ergebnis, dass wir in der Kategorie „Effizienz“ trotz höchster Ausgaben nur an drittletzter Stelle liegen. Die Einengung der Förderkulisse auf das Elternhaus birgt natürlich das Risiko der Fehlsteuerung in sich. Dagegen hätte bereits die Aussetzung einer der beiden letzten Kindergelderhöhungen ausgereicht, um die kostenfreie Vorschulerziehung sämtlicher Kinder in Deutschland zu finanzieren. Dies wäre ein wirklicher Durchbruch zu einer Bildungsrepublik gewesen.
Den Hunger auf ein selbstbestimmtes Leben wecken
Zu dem gern angeführten „Killerargument“ mangelnder Finanzierbarkeit sei der Hinweis erlaubt, dass es bei der Bankenkrise nur eine Frage von Tagen war, bis die Rettungsmilliarden und die Mehrheit für eine Verfassungsänderung bereit standen. Wenn Banken für die Zukunft und den sozialen Frieden des Landes so wichtig sind und Schulden für künftige Generationen rechtfertigen, warum trifft dies für die Bildungs- und Integrationspolitik nicht gleichermaßen zu? Und selbst wenn es nicht anders gehen sollte, sind dann nicht Schulden für eine bessere Bildungspolitik gerecht, von der diejenigen profitieren, die diese Schulden später einmal begleichen müssen?
Im Mittelpunkt aller Integrationspolitik müssen die kommenden Generationen stehen. Es muss uns gelingen, in den Köpfen junger Menschen das tradierte Weltbild der Vergangenheit durch die Gewissheit und den Hunger auf ein selbstbestimmtes Leben in einer modernen Gesellschaft zu ersetzen. Wer nach seinem Platz in der Gesellschaft strebt und bereit ist, diesen durch Leistung zu erreichen, dem ist der Mief der Parallelgesellschaft von gestern keine Verlockung. So unbequem es auch ist, gerade die gesellschaftliche Linke muss dieses Thema zu ihrem eigenen machen. Sonst werden es die Rattenfänger in Besitz nehmen. Wer Überfremdungsängste und Sorgen um die eigene Identität schürt, suggeriert immer wieder die Gefährlichkeit alles Fremden. Das Gegenteil zu beweisen gelingt auf keinen Fall mit dem Laisser-faire-Prinzip. Deshalb müssen Regeln für alle gelten, auch für Einwanderer. Und wer sie nicht akzeptiert, muss nachdrücklich daran erinnert werden. So wie jeder von uns tagtäglich im Straßenverkehr.
Die Solidarität mit den Schwachen und die Herstellung von Chancengerechtigkeit ist eine der ursprünglichen Aufgaben der Sozialdemokratie. Deshalb dürfen wir die Integrationspolitik nicht anderen überlassen. Wir müssen ihr Motor sein – mit einer vor Ort erlebbaren, an den realen Lebensbedingungen der Menschen orientierten Politik. Die Hindernisse dafür sind weder die Menschen noch die Verhältnisse, die wir verändern müssen. Unser Gegner ist die Ignoranz der Gesellschaft, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. «