Der große Wurf fällt diesmal aus
N ach vier zähen Jahren ist endlich die Politik in die europäische Finanz- und Wirtschaftskrise eingezogen. Nach der „State of the European Union“-Rede von Kommissionspräsident José Manuel Barroso am 12. September 2012 wechselt nun auch auf offizieller Brüsseler Ebene der Fokus von der rein ökonomischen Krisenbewältigung hin zur Frage der politischen Zukunft des Integrationsprojektes. Zwar war die Krise schon immer zuvorderst politischer Natur, da ihre Wurzeln in der mangelnden politischen Umbauung der vorausgeeilten Wirtschaftsintegration liegen. Doch nach den traumatischen Erfahrungen mit der EU-Verfassung und dem Lissabonner Vertrag wollten vor allem die Staats- und Regierungschefs lange Zeit nicht anerkennen, dass das eigentliche Problem Europas seiner Lösung noch harrt.
Jetzt ist klar: Wer die Krise nachhaltig bekämpfen will, braucht eine politische Union. Und wer eine politische Union will, der muss diese demokratisch legitimieren, indem er endlich den Bürger, also den Souverän an der gesamteuropäischen Willensbildung beteiligt. Am besten durch Wahlen. Das Modell, das Finanzminister Wolfgang Schäuble dazu im Spiegel vorgestellt hat, ist durchtränkt von dieser Erkenntnis: gesamteuropäische Direktwahlen der Europäischen Kommission als „Regierung Europas“, dazu der Rat als zweite Kammer neben dem Europäischen Parlament, in dem die Mitgliedsstaaten gleichberechtigt an der Gesetzgebung mitwirken. Keine Vereinigten Staaten von Europa, aber ein in jenen Bereichen föderales System, das einer Regelung auf gesamteuropäischer Ebene bedarf.
Kein Enthusiasmus, nirgends
Nachdem Barroso sich die deutschen Ideen zu eigen gemacht hat, kann die Debatte hinter diesen Stand nicht mehr zurück. Das Problem ist nur: Die Realität kann es sehr wohl. Nüchtern betrachtet hat das Projekt derzeit kaum Aussichten auf Verwirklichung. Nirgendwo in Europa ist erkennbar, dass sich für ein so weitreichendes Reform- und Integrationswerk, welches ohnehin Jahre in Anspruch nehmen würde und dem sich eine ganze Politikergeneration verschreiben müsste, Enthusiasmus und vor allem politische Mehrheiten organisieren ließen. Die angeblich so euroskeptische Einstellung der Menschen in Europa scheint dabei, trotz aller Unkenrufe, das kleinere Problem zu sein. Keine einzige der Wahlen in den Mitgliedsstaaten seit Ausbruch der Krise hat eine wirklich anti-europäische Regierung an die Macht gebracht. Zuletzt haben die Niederlande gezeigt, wie in Zeiten des Unmuts gemäßigte Kräfte der Mitte sogar hinzugewinnen können, während Populisten nur kurze Halbwertszeiten haben. Umfragen zeigen zudem, dass es immer noch reichlich Zustimmung für die europäische Einigung an sich gibt, auch wenn das Vertrauen in die Institutionen und die Begeisterung für manchen regulativen Brüsseler Eingriff zum Teil deutlich nachgelassen hat.
Erschöpfung und Selbstbeschäftigung wohin man blickt
Das Problem liegt also eher bei den Regierungen selbst. Der enorme Druck, dem viele von ihnen im Zuge der Krise ausgesetzt waren und die Vielzahl von unpopulären Spar- und Reformmaßnahmen, die sie haben treffen müssen, hat Kraft und politisches Kapital gekostet. In den Niederlanden war der Preis für die Niederhaltung der Rechts- und Linkspopulisten die rhetorische Aufrüstung auch der gemäßigten Kräfte gegen die EU. Das wird nach der Wahl nicht einfach rückgängig zu machen sein. In Frankreich hat der neu gewählte Präsident im Wahlkampf Versprechungen über staatliche Ausgabenprogramme gemacht, von denen er wohl selbst wusste, dass sie nicht zu halten sein würden. Die EU wird dort häufig mit der (zu Unrecht) verhassten Globalisierung gleichgesetzt, und die Vorschläge für mehr Europa klingen für viele Franzosen, auch in der parteiübergreifend reichlich konform sozialisierten Elite, vor allem wie „mehr Deutschland“, was wiederum die historische Urangst Frankreichs vor teutonischer Dominanz auslöst. Zudem ist Frankreichs Grundauffassung von der EU als Machtmultiplikator für la grande nation nicht kompatibel mit echter Aufgabe von Souveränität in Kernbereichen.
In Skandinavien ist man gespalten zwischen grundsätzlicher Sympathie für solides Wirtschaften à l’Allemand einerseits und einer Skepsis gegenüber föderalen EU-Modellen andererseits. In Mittelosteuropa beschäftigen sich Ungarn, Rumänen, Bulgaren und, wenngleich weniger, Tschechen mit diversen Varianten post-kommunistischer Transitionswehen, die besorgniserregende Demokratiedefizite sichtbar und populistische antieuropäische Bewegungen und Parteien salonfähig gemacht haben. Großbritannien ist, well, Großbritannien, nur diesmal noch schwieriger, weil eine hartnäckige Wirtschaftsschwäche, ein erschüttertes Selbstbild und eine sehr schwache Mitte-rechts-Regierung das Land ins Schlingern gebracht haben. Die EU ist auf der Insel, zusätzlich zur traditionell skeptischen Einstellung, mehr denn je eine willkommene Projektionsfläche für eigene Schwächen. Spanien ist abgetaucht und in Italien operiert die Regierung Monti auf der Basis eines extrem eng umrissenen Mandats für die Krisenbewältigung. Sie wird sich kaum trauen, bis zu den bevorstehenden Wahlen, deren Ausgang komplett ungewiss ist, ambitionierte Integrationspläne zu forcieren. Allein Polen steht, mit seinem starken Gespann aus Ministerpräsident und Außenminister, voll hinter der EU und mahnt beständig einen Ausbau der Integration an.
Angesichts dieser ernüchternden Lage wird es den Protagonisten einer föderalen Lösung schwer fallen, in ausreichender Zahl Alliierte zu finden, um in einem neuen Konvent eine größere Vertragsänderung zu stemmen. Wenn es nach dieser Krise dennoch mehr Europa geben wird, dann wird es nicht in einem großen Sprung kommen, sondern eher als Serie von zeitlich gedehnten Trippelschritten. An deren Anfang wird voraussichtlich die mittlerweile wohl unumkehrbare Fiskalunion für die Eurogruppe stehen, die eine Form der zentralen Oberaufsicht über nationale Budgets durch die Institutionen etabliert. Damit einhergehen würde in der Folge ein verschärftes Gerangel der Institutionen in Brüssel darüber, wer im System der Checks and Balances welche Befugnisse erhalten wird. Dabei werden die nationalen Parlamente ein gewichtiges Wort mitreden, gilt es doch für sie, innerhalb des Fiskalpakts gegenüber den Brüsseler Haushaltssheriffs Standfestigkeit und Kompetenz nachzuweisen.
Warum die Rückkehr zur Kleinteiligkeit ein Fortschritt ist
Genau hier entstünde dann das Einfallstor für Formen der politischen Vertiefung, die endlich auch mehr Beteiligung des Wahlvolkes ermöglichen werden. Mit Fiskalaufsicht betraute Institutionen in Brüssel werden, mindestens auf mittlere Sicht, eher aber schon sehr bald, ganz von allein zur europäischen Reserveregierung werden. Die Hoheit über die Finanzen eines Gemeinwesens ist das wahre Kernstück staatlicher Souveränität (mehr noch als die Kommandogewalt über die Streitkräfte). Wer hier mitredet, wird hoheitlich tätig, ob er will oder nicht. Und wer hoheitlich im Kernbereich staatlicher Gestaltungskompetenz herumfuhrwerkt, der braucht dafür über kurz oder lang ein direktes Mandat vom Volk. Eine Fiskalunion wird schon deswegen eine politische Vertiefung zur Folge haben, weil Mechanismen gefunden werden müssen, dieses Mandat zu schaffen.
Da Formen der direkten Demokratie für komplexe Haushaltsprozesse (und auch sonst) wenig geeignet sind, bleiben auf lange Sicht nur gesamteuropäische Wahlen. Was nichts anderes heißt, als dass sich ein europäisches Wahlvolk konstituiert und einen gesamteuropäischen politischen Willen zum Ausdruck bringt. Nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts wäre das die Grenze dessen, was innerhalb der staatlichen Ordnung des Grundgesetzes mit Deutschland machbar wäre. Nach der Einführung einer Fiskalunion wird es also zum Schwur kommen. Das ist keine Frage des „ob“ mehr, sondern nur noch eine Frage des „wann“.
So weit ist es freilich noch nicht, aber man kann festhalten, dass Europa nach der Phase der großen Vertragswürfe zurück ist bei dem, was man die Monnet-Methode nennt: Technische Integrationsschritte erzeugen mit der Zeit eine Sogwirkung hin zu weiterer, qualitativ hochwertigerer (will sagen: politischer) Integration. Stückchen für Stückchen wird dem Integrationsgebäude mal hier eine neue Etage aufgesetzt, mal dort ein Zimmer renoviert. Freunden des großen strategischen Wurfs ist dieser wenig glamouröse, inkrementelle Ansatz zu langsam und auch zu unspektakulär. Er verträgt sich auch nicht gut mit der Frage nach der „Finalität“, also dem idealerweise anzustrebenden Endzustand Europas, dem Lieblingszeitvertreib der Europa-Theoretiker. Doch die schrittweise Methode passt besser zu Europa, denn Finalität gibt es nicht, wohl aber veränderte Umstände, denen sich der Integrationsprozess in immer neuen, hart verhandelten Kompromissen anpassen muss.
Insgesamt ist das Zurück zum kleinteiligeren Integrationsprozess ein Fortschritt. Nicht lösen können wird er hingegen das andere lauernde Grundproblem der EU in ihrer gegenwärtigen Form: Es werden nicht alle mitmachen wollen. Zwar bietet die Tatsache, dass die ersten Schritte in Richtung politischer Union zunächst nur für die 17 Mitglieder der Euro-Gruppe gelten, ein wenig Flexibilität. Doch wenn Reformen hier erst einmal Fahrt aufnehmen und tatsächlich zu qualitativem Fortschritt führen sollten, besteht die Gefahr eines echten Auseinanderdriftens der EU. Die Risse, die die nicht flächendeckende Teilnahme an Euro und Schengen-Regelungen bereits jetzt erzeugt hat, sind dann endgültig nicht mehr wegzuimprovisieren.
Und so wäre es fatal, nur weil der große Integrationswurf derzeit nicht zu haben ist, auch die Debatte über die zukünftige Gestalt der EU zu vertagen. Sie muss jetzt in der gesamten EU geführt werden. Die Bundeskanzlerin hat erklärt, sie wolle Europa zum Kernthema der kommenden Bundestagswahl machen. Das ist nicht ohne Risiko für sie selbst und für Europa als Ganzes. Jene, die es ernst meinen mit Europa, müssen diese Einladung jetzt annehmen, damit die Politik, die gerade erst in der Krisenbewältigung angekommen war, nicht wieder heimlich aus ihr verschwindet.