Der Königsweg führt in die Irre
Als die Berliner am 17. September 2006 zu den Urnen schritten, konnten sie über die Zusammensetzung des Landesparlaments und der Bezirksversammlungen, aber auch über die Erweiterung ihrer eigenen demokratischen Mitwirkungsrechte entscheiden. Das Berliner Abgeordnetenhaus hatte im Mai dieses Jahres einmütig beschlossen, die so genannte Volksgesetzgebung zu erleichtern, durch die Senkung der Hürden sowie eine Ausdünnung des Katalogs der nicht-abstimmungsfähigen Themen. Nach Artikel 100 der Landesverfassung mussten die Bürger selbst diesen Beschluss zusätzlich bestätigen. Bei Redaktionsschluss dieser Zeitschrift stand das Ergebnis noch nicht fest. Doch angesichts der grundsätzlich positiven Einstellung der Bevölkerung zur direkten Demokratie (in einer Umfrage des Tagesspiegel votierten 58,4 Prozent für die neuen Regelungen) ist die Ablehnung der Verfassungsänderung wenig wahrscheinlich.
Für eine bessere Anwendbarkeit der direkten Demokratie gibt es in der Tat gute Gründe. Kritiker des Status quo – allen voran die Vertreter des Interessenverbandes „Mehr Demokratie“ – haben zu Recht moniert, dass die Verankerung von plebiszitären Beteiligungsrechten in der Verfassung keinen Sinn macht, wenn diese durch zu hohe Quoren und weit reichende Ausschlussgegenstände faktisch nicht nutzbar sind. Zurzeit gehört Berlin, was die Bürgerfreundlichkeit der direktdemokratischen Verfahren angeht, auf der Landesebene neben dem Saarland zu den Schlusslichtern. Nach Inkrafttreten der Reform würde es bundesweit ins obere Mittelfeld vorrücken.
Dass die Berliner Parteien, besonders Union und SPD, zu einer Lockerung der restriktiven Bestimmungen bereit waren, dürfte hauptsächlich an den positiven Erfahrungen liegen, die man mit dem plebiszitären Instrument auf der kommunalen Ebene gemacht hat. Auch hier hielt Berlin im Ländervergleich lange Zeit die rote Laterne, da es sich erst im Jahr 2005 durchringen konnte, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in seinen Bezirken einzuführen. Umso nachhaltigerer Rückenwind für die Diskussion auf der Landesebene entfachte, als die neu geschaffenen Rechte lebhaft genutzt wurden. Hinzu kommt: Die plebiszitfreundlicheren Regelungen sind in ein größeres Verfassungsreformpaket eingebettet, dessen anderes Kernstück – die Stärkung der Position des Regierenden Bürgermeisters – gerade den beiden großen Parteien am Herzen liegt. Dafür mussten Union und SPD in Sachen Volksgesetzgebung Zugeständnisse machen, wobei es ihnen aber gelang, die sehr viel weiter gehenden Forderungen von PDS/ Linkspartei, FDP und Grünen abzuwehren.
Ist die Auseinandersetzung jetzt zu Ende?
Ist die Auseinandersetzung über die Ausgestaltung der Direktdemokratie in Berlin damit beendet? Die Erfahrungen aus den anderen Bundesländern lassen eher das Gegenteil vermuten. Der Grund dafür liegt in den direktdemokratischen Institutionen selbst: Sie eröffnen den Bürgern die Möglichkeit, weiter gehende Verfahrenserleichterungen gegebenenfalls gegen den Willen der Parlamentsmehrheit durchzusetzen. Wenn sich Volksbegehren in Berlin künftig auch auf die Verfassung erstrecken dürfen, wäre es verwunderlich, wenn der parlamentarische Gesetzgeber von solchen Initiativen ausgerechnet hier verschont bliebe.
Auf der Liste der Themenfelder, zu denen in den Ländern bereits Initiativen und Begehren gestartet wurden, rangiert der Bereich Institutionen/ Demokratie gleich an zweiter Stelle nach Schule und Bildung. Daraus spricht die Unzufriedenheit der Bürger mit der bestehenden Parteiendemokratie, aber auch der Mangel an anderen abstimmungsfähigen Gegenständen. Diese sind dem Stimmbürger durch die Ausgestaltung der Direktdemokratie entweder vorsorglich entzogen (etwa beim so genannten Finanztabu). Oder sie fallen gar nicht in die Zuständigkeit der Länderpolitik – bekanntlich liegt das Gros der für die Lebenswirklichkeit der Menschen bedeutsamen Gesetzgebungsbefugnisse beim Bund. Deshalb ist die vom Berliner Abgeordnetenhaus beschlossene Ausweitung der Themen, zu denen Volksbegehren durchgeführt werden können, aus demokratischer Sicht zu begrüßen. Künftig sollen ausdrücklich sogar Begehren mit finanziellen Folgen zulässig sein, was bislang nur in Sachsen der Fall ist.
Volk und Parlament im Widerstreit
Wenn direktdemokratische Verfahren erleichtert werden, könnten künftig häufiger Situationen entstehen, bei denen das Volk mit dem parlamentarischen Gesetzgeber in Widerstreit tritt. Welche dramatischen Folgen sich daraus ergeben können, lässt sich zurzeit in Hamburg besichtigen. Die in Berlin geplanten Änderungen sind dort in vergleichbarer Form schon 2001 beschlossen worden. Die verstärkte Nutzung der Plebiszite hat dazu geführt, dass die regierende CDU bei zwei Volksabstimmungen schmerzliche Niederlagen einstecken musste. So votierten die Bürger im Februar 2004 bei einem Entscheid über die Privatisierung der Landeskrankenhäuser mit großer Mehrheit für deren Verbleib im Staatsbesitz, was den Senat allerdings nicht davon abhielt, die Krankenhäuser dennoch zu veräußern. Daraufhin rief die Opposition das Landesverfassungsgericht an, das dieses Vorgehen als verfassungsgemäß bestätigte.
Dies mag die Hamburger CDU ermuntert haben, einen weiteren, politisch sehr viel brisanteren Volksbeschluss anzugreifen. Im Juni 2004 hatten die Hamburger in einer Volksabstimmung einen Gesetzesentwurf des Vereins „Mehr Demokratie“ angenommen, der die Ablösung der bisherigen reinen Listenwahl zugunsten eines Mehrstimmenwahlrechts (mit Kumulieren und Panaschieren) vorsah. Die Bürgerschaft hatte, von CDU und SPD eingebracht, einen Alternativentwurf vorgelegt. Die in dem neuen Gesetz enthaltenen Regelungen brechen das Monopol der Parteien bei der Kandidatenrekrutierung auf. Sie scheinen der CDU so untragbar, dass sie das Wahlrecht noch in der laufenden Legislaturperiode wieder ändern möchte. Ihre Mehrheit in der Bürgerschaft gibt ihr dazu die Gelegenheit. Zwar ist noch nicht ausgemacht, ob bei der Schlussabstimmung im September tatsächlich alle Unionsabgeordneten mitziehen. Aber zumindest im CDU-Landesausschuss gab es ein klares Votum für eine Gesetzesänderung. Die Regierungspartei scheint fest entschlossen, es darauf ankommen zu lassen.
Wie der Hamburger Fall lehrt, gibt es zwei Arten, die Volksgesetzgebung als demokratisches Instrument zu „delegitimieren“. Entweder gestaltet man die Beteiligungsrechte von vornherein so restriktiv, dass sie der parteipolitischen Klasse nicht gefährlich werden können. Oder man setzt sich über die Volksbeschlüsse hinweg, wenn sie den eigenen Interessen widersprechen.
Der erste Weg ist der CDU in Hamburg weit gehend versperrt geblieben. Zwar nutzte sie auch hier ihre Mehrheit und reduzierte mit einer Änderung des Gesetzes zur Volksgesetzgebung die Wahrscheinlichkeit weiterer siegreicher Initiativen. Danach sollten die Volksentscheide nicht mehr gleichzeitig mit den regulären Wahlen abgehalten werden und die Bürger sich nur noch auf einer Behörde in Unterstützerlisten für Volksbegehren eintragen können. Vor dem Verfassungsgericht hatte dann allerdings allein die letztgenannte Neuerung Bestand. Wäre es zu einer Entkoppelung der Abstimmungen von den Wahlen gekommen, wären die Initiativen zum Privatisierungsstopp und zur Reform des Wahlrechts wahrscheinlich am notwendigen Zustimmungsquorum gescheitert. So aber wird die CDU auch in Zukunft mit dem Risiko weiterer Abstimmungsniederlagen leben müssen.
Bleibt die Frage, ob die Parteien einen Entscheid einfach wieder kassieren dürfen, wenn er ihnen nicht passt. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist dies eindeutig der Fall. Nach der derzeitigen Rechtsprechung und der herrschenden Lehre können volksbeschlossene Gesetze vom Parlament jederzeit und ohne besondere Gründe aufgehoben werden, umgekehrt hat das Volk die Möglichkeit, Parlamentsgesetze zu verändern. In politischer Hinsicht jedoch existiert eine solche Symmetrie nicht.
Volksabstimmungen sind selten und beziehen sich zumeist auf Fragen, die die Bürger als besonders wichtig empfinden. Im Zweifel ist ihnen politisch eine höhere Legitimation zuzuschreiben als den Parlamentsgesetzen, was sich auch in einer entsprechenden Bindungswirkung niederschlagen muss. Politiker gefallen sich ja vor allem an Wahlabenden gern darin, den Wähler als „Souverän“ zu titulieren. Das kommt einer Verhöhnung gleich, wenn sie nicht bereit sind, die Entscheidungen dieses Souveräns zu akzeptieren. Was die Wahlentscheidungen angeht, ist diese Akzeptanz in der Bundesrepublik heute weit gehend gesichert. Artikel 20 des Grundgesetzes bestimmt, dass die Souveränität vom Volk in „Wahlen und Abstimmungen“ ausgeübt wird. Wahlentscheidungen werden in Deutschland weithin respektiert. Derselbe Respekt vor dem Volk sollte auch bei direktdemokratisch getroffenen Entscheidungen gezollt werden.
Natürlich befördert der respektlose Umgang mit den Volksrechten nicht gerade das Ansehen der Parteiendemokratie. Wenn Politiker sich über Volksbeschlüsse einfach hinwegsetzen, leistet das dem Ressentiment Vorschub, man sei der parteipolitischen Klasse ohnehin auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Viele Wähler empfinden ein solches Verhalten als schiere Machtarroganz. Es könnte auch zu einer Entwertung der direktdemokratischen Institutionen selbst führen. Wenn die Bürger auf die Gültigkeit ihrer Entscheidungen nicht mehr vertrauen können, werden sie sich entweder resigniert zurückziehen oder andere Kanäle des Widerspruchs und Protests suchen, etwa die Unterstützung populistischer oder gar extremistischer Parteien. Mit Blick auf die Systemstabilität wäre eine solche Entwicklung problematischer als eine fahrlässig getroffene und mithin korrekturbedürftige Sachentscheidung. Für diese These liefern gerade die Stadtstaaten genügend Anschauungsmaterial.
Der Reiz liegt in der „konsensuellen“ Reform
Bleibt die grundsätzliche Frage, ob der verfassungspolitische Konflikt in Hamburg nicht auch etwas mit der generellen Ausgestaltung der Direktdemokratie in Deutschland zu tun hat, die sich bisher stets auf die vermeintlich fortschrittlichste Variante der Volksgesetzgebung kapriziert. Hierzulande können die Bürger in letzter Konsequenz an die Stelle, und nicht nur an die Seite, des parlamentarischen Gesetzgebers treten. Von der Schweiz abgesehen gibt es dafür in Westeuropa kein vergleichbares Beispiel. Was die Systemverträglichkeit angeht, ist die Trias von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid prekärer als andere Formen der direkten Demokratie, wie das Referendum oder die Vetoinitiative, denen der parlamentarische Beschluss bereits vorausgeht. Das macht sich in doppelter Hinsicht negativ bemerkbar. Zum einen führt es dazu, dass der Verfassungsgeber die Anwendbarkeit der Direktdemokratie vorsorglich beschränken muss, indem er Ausschlussgegenstände festlegt und Quoren vorschreibt. Man entscheidet sich für das potenziell am weitesten reichende Instrument der Volksgesetzgebung, um es in der Verfassungspraxis sogleich wieder zu entwerten. Zum anderen verstärkt es die Konflikte, falls es den Initiatoren doch einmal gelingen sollte, die Hürden zu überspringen und sich gegen den Willen des parlamentarischen Gesetzgebers zu stellen.
Der Hamburger Fall könnte so gesehen als Hinweis genommen werden, dass sich der vermeintliche Königsweg der direkten Demokratie in Wahrheit als Irrweg entpuppt. Sind die Verfassungsgeber in der Bundesrepublik gut beraten, sich bei der Ausgestaltung der direkten Demokratie ausschließlich auf die Volksgesetzgebung zu versteifen? Diese Frage muss dringend beantwortet werden, wenn plebiszitäre Elemente beispielsweise auch ins Grundgesetz eingeführt werden sollen. Es scheint wenig ratsam, das Modell der direkten Demokratie aus den Ländern einfach zu übertragen. Dies gilt um so mehr, als auf der Bundesebene noch weitere schwierige Probleme zu lösen wären (etwa die Frage nach einer angemessenen Beteiligung der Bundesrates), die in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion bislang kaum adressiert worden sind.
Bei der Debatte um die Direktdemokratie geht es also weniger um das Ob als um das Wie. Der Reiz der plebiszitären Verfahren besteht darin, dass sie zu einer „konsensuellen“ Umgestaltung des politischen Systems führen würden. Im günstigsten Falle entfalten sich die Wirkungen dabei präventiv, indem die Parteien gemahnt werden, die Interessen und Bedürfnisse der Bürger bei ihren Entscheidungen stets im Auge zu behalten. Um dies zu erreichen, braucht das Volk nicht unbedingt selbst als Gesetzgeber in Aktion zu treten. Allein die Möglichkeit, ein bereits beschlossenes Gesetz einer nochmaligen Abstimmung zu unterwerfen (und es dort gegebenenfalls zu verwerfen), würde die politischen Akteure zur Rücksicht zwingen. Darüber hinaus könnte man ein obligatorisches Verfassungsreferendum einführen oder den Regierenden selbst das Recht einräumen, eine bestimmte Frage zur Abstimmung zu stellen. Auf der Landesebene, wo das Volk mangels gesetzgeberischer Kompetenzen ohnehin nicht viel Schaden anrichten kann, mag das Modell der Volksgesetzgebung noch einigermaßen tauglich sein. Auf der Bundesebene würde es den Gegnern der Plebiszite hingegen so viele Argumente an die Hand liefern, dass alle Versuche, die Direktdemokratie in dieser Form im Grundgesetz zu verankern, auch in Zukunft zum Scheitern verurteilt wären.