Der Kompass muss stimmen
Der erste Befund ist nicht wirklich verwunderlich. Über die Jahre ihrer Regierungszeit hat sich die SPD in vieler Hinsicht unbeliebt gemacht. Zerrissen wie die Partei ist – zwischen rechts und links, Basis und Führung, neu und alt – waren viele Debatten von einer Verbissenheit geprägt, die sowohl abschreckend wirkte als auch wenig fruchtbar war. Einerseits ließen die Pragmatiker der Partei, stets an Sachzwängen orientiert, keinen Platz für die Diskussion von Alternativen. Für sie war das Machbare der alles entscheidende Maßstab, aber das Wünschenswerte spielte keine Rolle mehr. Es gelang ihnen damit immer schlechter, deutlich zu machen, wohin SPD-Politik überhaupt führen solle, und warum es notwendig sei, gerade diesen einen Weg einzuschlagen. Dass ihnen dann irgendwann niemand mehr so recht folgen mochte, leuchtet ein. Andererseits war die Parteilinke, beschäftigt mit ihrem schlechten Gewissen für die selbst mitbeschlossenen Reformen, nicht gerade überzeugender. Zwar klang bei ihr stärker das Wünschenswerte, Visionäre an – aber außer der rein destruktiven Ablehnung einzelner Reformmaßnahmen drang an neuen Konzepten auch nicht viel mehr nach außen, als das, was bereits seit den siebziger Jahren diskutiert wurde.
Deutungshoheit, welche Deutungshoheit?
Was völlig fehlte, war eine inspirierende, spannende, auch Spaß machende Auseinandersetzung um die besseren Lösungswege. Und zwar sowohl innerparteilich als auch mit der Welt „da draußen“, die im Willy-Brandt-Haus, in den Arbeitsgruppen, bei den Kadern anscheinend immer unbekannter wurde. Quereinsteiger oder gar -denker schienen nicht besonders willkommen. Vielleicht ließ es das labile innere Gleichgewicht nicht zu, Zugeständnisse zu machen, Fehler zuzugeben, sich von besseren Argumenten überzeugen zu lassen. Der Qualität der Regierungspolitik schadete das Fehlen einer solchen Debatte aber sicherlich ebenso wie dem Interessantheitsgrad der SPD.
Wenn der neue Vorsitzende Sigmar Gabriel nun ausruft, Sozialdemokraten sollten in der Gesellschaft wieder um Deutungshoheit kämpfen, dann fordert er genau diese überfällige Debatte ein. Aber welche Art von Deutungshoheit denn eigentlich? Die vergangenen Jahre haben doch gerade gezeigt, dass es innerhalb der SPD sehr unterschiedliche, wenn nicht gar unvereinbare Ideen darüber gibt, wohin die Reise überhaupt gehen soll. Und dies gilt nicht nur für die Parteimitglieder: Auch die Erwartungen von außen an die Neuaufstellung der SPD sind durchaus unterschiedlich. Dies zeigt sich im Kleinen bereits in meinem Umfeld: Während ein Ex-SPD-Wähler das komplette Zurückdrehen der rot-grünen Sozialpolitik fordert, mahnt eine andere das Aufräumen mit überkommener Sozialromantik an.
Muss nun also die endgültige Richtungsentscheidung her, um den Schlingerkurs der Vergangenheit zu beenden und wieder ein klares Profil zu bekommen? Ein für allemal Reformer, oder ein für allemal Traditionalisten? Sicher nicht. Die SPD kann davon profitieren, dass sie unterschiedliche Flügel, Vorstellungen, Ideen unter ihrem Dach beherbergt. Es muss allerdings klar sein – klarer als bisher –, was sie alle eint, was die gemeinsame Erzählung ist, die sie alle „im Innersten zusammenhält“. Eine Erzählung, die sich an der Welt von heute orientiert, ohne vor der Realität zu kapitulieren. Ein Kompass, der das Ziel anpeilt und Orientierung in den Debatten der Gegenwart gibt. Dabei muss es natürlich um Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gehen – und um Zukunft, um den optimistischen Blick nach vorn, um die Überzeugung, dieses Land zum Besseren verändern zu können. Hin zu einer Gesellschaft, die allen Menschen ein freies Leben nach ihren Vorstellungen ermöglicht, abhängig von individuellem Willen und eigener Anstrengung, aber unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder dem Geldbeutel der Eltern. Die SPD macht – anders als die FDP – nicht bei der negativen Freiheit halt: Ihr geht es um die gesellschaftlichen Voraussetzungen eines freien Lebens, die erst geschaffen werden müssen. Eine Gesellschaft, die sich gleichzeitig solidarisch gegenüber denen zeigt, die trotz gleicher Startbedingungen, trotz eigener Anstrengungen Schwierigkeiten haben, und die auch ihnen volle Teilhabe und ein würdevolles Leben ermöglicht. Und nicht zuletzt eine Gesellschaft, in der Chancengleichheit durch Umverteilung ergänzt wird, in der es gerecht zugeht, weil stärkere Schultern mehr tragen als schwächere.
Die Linkspartei ist nicht die „wahre“ SPD
Diese Vision ist attraktiv nicht nur für diejenigen, die unmittelbar von ihr profitieren: im Gegenteil. Die SPD darf keine Klientelpartei der Entrechteten werden, wenn sie Volkspartei bleiben will. Und das muss sie auch gar nicht, denn sozialdemokratische Gerechtigkeitsvorstellungen sind weit in der Gesellschaft verankert. Um diese „solidarische Mehrheit“ – wie es im Hamburger Programm heißt – muss die SPD werben. Das geht aber nur, wenn wir den progressiven, optimistischen, zukunftsorientierten Kern unserer Idee wieder stärker ins Zentrum rücken – und zwar alle, die ganze Partei. Und nicht nur, indem wir dies in Grundsatzprogramme schreiben, sondern indem auch unsere Politik sich daran ausrichtet. Stattdessen schielt derzeit ein vielleicht kleiner, aber doch lauter Teil der Funktionäre mit unverhohlener Sehnsucht nach der Linkspartei, ganz so als sei dies die „wahre“ Sozialdemokratie. Sie alle müssen sich fragen lassen, was ihnen unser Fortschrittsgedanke tatsächlich bedeutet. Wer nicht bereit ist, „auf der Höhe der Zeit“ zu bleiben, sondern allein Grabenkämpfe zur Verteidigung des Bestehenden führt, der ist in der SPD fehl am Platz. Ein Kompass zeigt nicht nur die eigene Richtung an – er macht auch deutlich, wer einen anderen Weg eingeschlagen hat.
Wie aber erkämpft man Deutungshoheit? Die eigenen Truppen hinter unserem Leitbild zu versammeln, ist sicherlich nur der erste Schritt. Darüber hinaus müssen unsere Visionen stärker im alltäglichen Diskurs präsent sein: eine Art vision mainstreaming, in dem bei allen Vorhaben die progressive Dimension, die Fortentwicklung in Richtung der sozialdemokratischen Idee mitgedacht (und mitgesprochen) wird. Natürlich wird die SPD die Regierungsgeschäfte von Schwarz-Gelb bis ins kleinste Detail verfolgen und kritisieren müssen. Sie darf sich dabei aber nicht im Klein-Klein verlieren, sondern muss noch die spezifischste Kritik, noch den speziellsten eigenen Vorschlag immer wieder auf das große Ganze zurückbeziehen können.
Zuhören, nachdenken, diskutieren
Es geht eben nicht nur darum, Bachelorstudiengänge zu verbessern, sondern darum, für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der alle jungen Menschen in der Lage sind, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es sich wünschen. Es geht nicht darum, durch angemessene Steuern den Reichen die Freiheit auf Privateigentum zu rauben, sondern im Gegenteil darum, durch steuerfinanziertes staatliches Handeln allen Bürgern ein freies, selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Es geht nicht nur darum, gegen das Einfrieren des Arbeitgeberbeitrages in der Krankenversicherung zu protestieren, sondern darum, für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der Arm und Reich, Gesund und Krank, Alt und Jung solidarisch sind. Ein solches Leitbild wäre nicht nur ein Kompass für die zukünftigen Wähler, sondern auch für die SPD selbst. Wenn das Ziel klar ist, kann über den Weg gestritten werden. Vielleicht gewinnt die SPD sogar genug Selbst-Sicherheit, um Mut zur Lücke zu beweisen. Zuhören, nachdenken, diskutieren, anstatt stets gleich eine Lösung (oder schlimmer noch, zwei konkurrierende) zu präsentieren. Es mag für einen Politiker riskant sein, seine Ratlosigkeit zuzugeben. Aber um Wähler zurückzugewinnen, die über die eigene Kernklientel hinausgehen, muss sich die Partei bisher vernachlässigten Themen zuwenden, für die es noch keine einfachen Antworten gibt: Wie gehen wir mit hochqualifizierten jungen Menschen um, die den Einstieg in den ersten Arbeitsmarkt nicht schaffen, nicht schaffen können? Welche Freiräume und welche Regeln schaffen wir im Internet? Wie gewährleisten wir die Teilhabe von Einwanderern, des abgehängten Prekariats? Solange der Kompass stimmt, muss die Partei die Suche nach richtigen Konzepten nicht fürchten, auch wenn es keine fertigen Antworten gibt.
Deutungshoheit allein wird aber nicht reichen, ist das Leitbild auch noch so überzeugend und sind die Botschaften noch so richtig. Die SPD hat in den vergangenen Jahren Vertrauen verspielt, und die Menschen nehmen ihr nicht mehr ab, dass sie tut, was sie sagt, dass sie durchsetzt, was sie fordert, dass sie hält, was sie verspricht. Gebrochene Wahlversprechen haben da ebenso eine Rolle gespielt wie links-rechts-Zickzackkurse oder die Missachtung des eigenen Programms. Wenn Ausbildungsplatzabgabe, Bürgerversicherung, Ganztagsschulen mehr als Rohrkrepierer waren, warum haben elf Jahre Regierung nicht ausgereicht, um sie zu verwirklichen?
Zuverlässigere Politik wäre eine gute Idee
Mangelnde Glaubwürdigkeit vermittelt auch ein innerparteilicher Umgang, der die gepredigte Solidarität allzu oft vermissen lässt – in einem Maße, dass Gabriels Wort von der „unversöhnlichen Härte“ fast noch eine Untertreibung ist. Die SPD muss sich das verlorene Vertrauen erneut verdienen, indem sie zuverlässigere Politik macht. Indem nur das angekündigt wird, was machbar ist, und was machbar ist, dann auch gemacht wird. Und indem versucht wird, das Wünschenswerte zu ermöglichen. Natürlich ist dies ein Spagat: Wo nur das unmittelbar Erreichbare versprochen werden darf, ist kein Platz für Visionen; und umgekehrt bleibt, wo Parteiprogramme Wolkenkuckucksheimen gleichen, die Verlässlichkeit auf der Strecke. Der Ausweg kann nur sein, die Bürger nicht länger als Zuschauer in einem Zirkustheater mit ständig wechselnden Artisten, Direktoren und Programmen zu behandeln. Sondern ehrlich und offen über Ziele, aber auch Grenzen politischen Handelns zu diskutieren.
Mehr als 23 Prozent der Wähler glauben an die sozialdemokratische Idee, mehr als 23 Prozent der Bürger hoffen auf eine Erneuerung der SPD. Es ist an uns, mit ihnen wieder ins Gespräch zu kommen.