Der neue Realismus der Neocons
Wenig überraschend erklärt er zu Beginn seines Buches die These des Edel-Neokonservativen Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“ für obsolet. Fukuyama hatte in seinem wenig gelesenen und deshalb oft falsch zitierten Buch aus dem Jahr 1992 behauptet, dass die liberale westliche Idee vom demokratischen Verfassungsstaat international die Norm geworden sei, und dass es zwar immer wieder Gegner dieser Ordnungsform geben werde, es aber – anders als zuvor in der Geschichte – kein wirklich grundsätzliches und schlagkräftiges antiliberales Gegenmodell mehr geben werde. Der fundamentale Kampf um die richtige Ordnung sei ausgestanden, jetzt müssten lediglich die Nachhutgefechte ausgetragen werden.
Ein gefährliches Gegenmodell zur Demokratie
Kagan glaubt kein Wort davon. Er blickt nüchtern auf Russland und China, und auf die Anziehungskraft, die diese Regime auf eine Vielzahl kleinerer, dem Westen aus unterschiedlichen Gründen abholder Staaten ausübt. Der Autor erkennt ein Muster: Die dort praktizierte erfolgreiche Vermählung von marktorientierter Wirtschaftsordnung und kultureller Öffnung mit politischer Restriktion, die innere Stabilität bietet, nationalistische Emotionen bedient und Wohlstand erzeugt, bildet ein formidables und potenziell gefährliches Gegenmodell zur Demokratie. Gefährlich, weil diese Staaten weit über die Erreichung nüchtern kalkulierter Interessen hinaus auch die Bewältigung historischer Komplexe und die Wiedergutmachung wahrgenommener Demütigungen durch den Westen anstreben. Wo Prestige, Stolz und Ehre primäre Ziele von Außenpolitik sind, da lauert das schwer kalkulierbare Risiko, das im nuklearen Zeitalter existenzielle Züge tragen kann.
Kagan gelingt in seiner Argumentation ein Doppelschlag gegen die westliche Unfähigkeit, die Realitäten der neuen Weltordnung klar wahrzunehmen. Einerseits entlarvt er die postmoderne Geringschätzung klassischer Macht- und Interessenkategorien in weiten Teilen Europas und Amerikas als naiv. Sie führe dazu, dass besonders Europa schlicht die Mittel fehlten, der kühl und bisweilen aggressiv geführten klassischen Realpolitik Russlands und Chinas etwas Ernsthaftes entgegen zu setzen: „Russland und die EU sind zwar geografische Nachbarn, in geopolitischer Hinsicht aber leben sie in unterschiedlichen Jahrhunderten. Die EU des 21. Jahrhunderts, deren hehres Anliegen es ist, die Machtpolitik zu überwinden und die Welt in eine neue – auf Gesetze und Institutionen gegründete – internationale Ordnung zu führen, steht einem Russland gegenüber, das noch sehr weitgehend eine traditionelle Macht des 19. Jahrhunderts ist und die alte Machtpolitik praktiziert.“
Kein Wunder, dass die EU tatenlos zusehen muss, wie Russland systematisch strategische Teilhabe am europäischen Energiemarkt aufkauft, die Mitglieds-staaten gegeneinander ausspielt und sich so weitgehende politische Einflussmöglichkeiten auf alle nur denkbaren Politikfelder Europas sichert. Europa ist hilflos, weil es das Rational dieser Machtpolitik gar nicht mehr versteht – oder, falls doch, dieses Rational instinktiv ablehnt.
Die Machthaber reagieren gereizt
Zum anderen zeigt Kagan auf, dass sich der Westen kaum bewusst ist, als wie aggressiv und bedrohlich undemokratische Staaten wie China oder Russland sein Beharren auf Menschenrechte und Good Governance sowie sein weltweites Befördern von Demokratiebewegungen und „sanften“ Revolutionen wahrnehmen. Die Machthaber in diesen Ländern reagieren gereizt und mit der Bissigkeit des in seiner Existenz Bedrohten, wenn ihnen ein triumphierender Westen erzählt, wie sie ihre Länder zu regieren und ihre Leben zu führen haben. Sind sich die idealistischen Protagonisten der Entwicklungszusammenarbeit darüber im Klaren, dass jedes Beharren auf Reformen und jede Stärkung der Zivilgesellschaft letztlich nichts anderes bewirken könnte als regime change?
Der Westen ist nach dem Ende des Kalten Krieges in einen kollektiven Siegestaumel verfallen, der ihn nun unfähig macht, in der entstehenden multipolaren Welt die zeitlose und brandaktuelle Sprache von Macht und Interesse überhaupt zu verstehen. Gleichzeitig hat man im Überschwang die eigenen Werte für so konkurrenzlos gehalten, dass man nun gar nicht verstehen kann, warum sie für andere lebensbedrohliches Teufelszeug sind.
Plädoyer für eine „Liga der Demokratien“
Kagan spricht hier die Sprache des klassischen Realisten, und es gibt den Anhängern dieser Denkschule in den internationalen Beziehungen schon ein kleines Gefühl der Genugtuung, wenn sich ein Neokonservativer geläutert zeigt. Doch man sollte sich nicht täuschen lassen. Kagan macht klar, dass den Vereinigten Staaten als globalem Stabilitätsdienstleister auch in Zukunft Interventionen nicht fremd sein werden. Und am Ende seines Buches bricht er eine Lanze für die Idee von der „League of Democracies“. Komplementär zu den Vereinten Nationen, der Nato und der EU sollten sich, so seine Empfehlung, die demokratischen und liberalen Staaten der westlichen Welt zunächst informell zusammentun, um im Wettstreit um das bessere Ordnungsmodell zumindest symbolisch ein Zeichen zu setzen und eventuell später auch eine gemeinsame Politik zu vereinbaren.
Der republikanische Präsidentschaftskandidat John McCain hat sich dieser Idee bemächtigt und nutzt sie als Kernstück seines außenpolitischen Wahlkampfes. Weder er noch Kagan erläutern allerdings den operativen Mehrwert des Projekts oder die politischen, rechtlichen und praktischen Hindernisse, die einer solchen „Achse des Guten“ im Wege stünden. So endet das Buch, das über weite Strecken ein Lehrstück klarsichtiger Analyse und stringenter Argumentation ist, mit einer unpraktikablen und wohl eher schädlichen Träumerei. Als Handlungsempfehlung jedenfalls reicht diese Conclusio nicht aus, und am Ende der spannenden Lektüre fühlt sich der Leser ein wenig allein gelassen. Etwas konkreter hätte es schon sein können. Aber vielleicht gehört diese feine Zurückhaltung ja zur neuen Bescheidenheit der Neokonservativen.
Was sich in Deutschland (auch) ändern muss
Den hohen Gesamtwert der Lektüre mindert dieses Defizit jedoch nicht im Geringsten. Auf schlanken 105 Textseiten hat der Autor eine historisch fundierte, von Detailwissen geprägte und dennoch den Blick auf die große Linie nicht verlierende Interpretation der Weltlage vorgelegt, wie sie hierzulande ihresgleichen sucht. Sie ist Beleg für eine außenpolitische Debattenkultur, um deren Quantität und Qualität Deutschland und Europa die Vereinigten Staaten beneiden müssen. Der intellektuelle Diskurs um konkurrierende außenpolitische Ideen, Deutungen und Handlungsempfehlungen, der in amerikanischen Buchhandlungen ganze Regalreihen in der Abteilung Neuerscheinungen füllt, fällt in Deutschland jedenfalls beinahe komplett aus. Man könnte Die Demokratie und ihre Feinde deswegen auch als Anklage gegen eine politische und akademische Klasse lesen, die weder die strategische Weitsicht noch den publizistischen Mut hat, ihre Ideen von der Welt und Deutschlands Rolle darin in die Öffentlichkeit zu tragen. Wenn Deutschland seiner internationalen Verantwortung gerecht werden und seine nationalen Interessen befördern will, dann wird auch dies sich ändern müssen.
Robert Kagan, Die Demokratie und ihre Feinde: Wer gestaltet die neue Weltordnung?, München: Siedler 2008, 116 Seiten, 13,95 Euro