Der neue Strom: sicher, bezahlbar, nachhaltig
D er Umbau des Energiesystems ist ein wesentlicher Teil moderner Industriepolitik und spielt eine Schlüsselrolle. Eine verlässliche Energiepolitik garantiert die Versorgungssicherheit zu wettbewerbsfähigen Preisen. Das ist ein entscheidender Standortvorteil. Ein wesentliches Risiko sehen Unternehmen in steigenden Rohstoff- und Energiepreisen. Ein Blick auf die Kostenstrukturen der gewerblichen Wirtschaft untermauert diese Befürchtungen: Nur noch 23 Prozent der Kosten entfallen auf den Lohn, aber 43 Prozent auf Energie und Rohstoffe. Dies betrifft vor allem die Chemieindustrie und die Metallerzeuger, die viel Strom verbrauchen. Für sie macht die Energie sogar bis zu 80 Prozent der Gesamtkosten aus. Deshalb braucht der Industrie- und Dienstleistungsstandort Deutschland ein zukunftsfestes Konzept, um die Energiewende zu meistern. Unser neues Energiesystem muss drei Bedingungen erfüllen: Es muss sicher, bezahlbar und nachhaltig sein.
Die Energiewende darf nicht zur De-Industrialisierung führen. Vielmehr müssen wir mit ihr ein neues Erfolgskapitel der Industriegeschichte unseres Landes aufschlagen. Sozialdemokratische Industriepolitik will jüngeren Branchen den Weg bahnen und Klassikern wie Maschinenbau, Handwerk oder Schiffbau die nötige Luft zum Atmen belassen. Die Industrie, ob alt oder neu, treibt Innovationen auch im Umwelt- und Klimaschutz voran und wirkt wie ein Magnet auf Dienstleistungen, die ohne Industrie gar nicht entstehen würden. Industrie und Dienstleistungen sind Glieder einer langen Kette.
Der Ausbau der erneuerbaren Energien genießt Vorrang. Wir wollen ihren Anteil bis 2020 auf mindestens 40 Prozent steigern und bis 2050 die Vollversorgung erreichen. Dafür sind wirksame Förder- und Investitionsanreize nötig. Windkraft an Land und auf hoher See sind zwei Seiten derselben Medaille und verdienen eine ausgewogene Förderung. Die Grundstruktur des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) hat sich bewährt und kann als Basis für den Umstieg dienen.
Unser sozialdemokratischer Blick richtet sich dabei auf die gesamte Industrie. Wir verengen ihn nicht auf die so genannte Green Economy. Das ist der Unterschied zu den Grünen. Nachhaltige Technologien haben wachsende Bedeutung. Das ist unbestritten. Aber wir achten genau darauf, dass zum Beispiel den Betrieben und Verbrauchern die Strompreise beim Umbau des Energiesystems nicht über den Kopf wachsen. Deshalb geht es jetzt darum, auch ein neues Kapitel der Industriepolitik aufzuschlagen. Wir dürfen nicht Old Economy, New Economy und Green Economy gegeneinander ausspielen. Vielmehr kommt es darauf an, alle Bereiche zu verknüpfen und so Produktivität und Wertschöpfung in neue Höhen zu heben. Vor uns liegt eine Reihe von Aufgaben, um die Energiewende zu meistern und den Industriestandort Deutschland zu sichern. Die größten Herausforderungen sind dabei der Ausbau der Energienetze und die Steigerung der Energieeffizienz.
Der Aus- und Umbau der Energieversorgung erfordert viel Geld für neue Leitungen. Dies gilt für Übertragungs- wie für Verteilnetze. Denn Strom aus erneuerbaren Energien wird überwiegend nicht dort produziert, wo er von der Industrie verbraucht wird. Ohne eine Speicherstrategie kommen wir nicht weiter. Mit Großspeichern ist es nicht getan. Besonders kleine und mittlere Unternehmen müssen wir in die Lage versetzen, in Energiespeicher zu investieren. Die Energieforschung hat deshalb die zentrale Aufgabe, sich Gedanken zu machen, wie verschiedene Speichertechnologien zu verbinden sind.
Netzausbau im Schneckentempo
Energieinfrastruktur heißt intelligente Vernetzung von „smart meter“ (also intelligenten Zählern) und „smart grids“ (intelligenter Stromnetzsteuerung). Smart grids werden das Spiel entscheiden. Dezentrale Erzeuger mit wechselnder Einspeisung müssen mit Industrie, lokalen Verbrauchern und Energiespeichern verbunden werden, um den Strom zur richtigen Zeit in der richtigen Menge an den richtigen Ort zu bringen.
Allerdings erfolgt der Netzausbau bislang im Schneckentempo – viel zu langsam, um die beschlossene Energiewende zu verwirklichen. Für die gesamte Industrie bedeutet dies eine erhebliche Gefahr. Vor allem zwei Hemmnisse stehen dem Netzausbau im Weg: fehlende Investitionssicherheit und zu lange Planungs- und Genehmigungsverfahren. Deshalb müssen Bund und Länder Investitionsanreize schaffen und – unter frühzeitiger Bürgerbeteiligung – die Planfeststellungs- und Raumordnungsverfahren straffen. Diese Verfahren gehören in eine Hand.
Neben dem Netzausbau müssen wir uns um die Steigerung der Energieeffizienz kümmern. Rohstoffe, Geld und Material müssen hochgradig wirksam eingesetzt werden. Nur so kann sich die Industrie auf Dauer ökonomisch und ökologisch entwickeln. Der Schlüssel des Erfolgs liegt in Ressourceneffizienz und Energieproduktivität.
Über die internationale Konkurrenzfähigkeit der Produktion entscheiden künftig in geringerem Maße die Arbeitskosten. Stärker ins Gewicht fallen Kosten für Energie, für Rohstoffe und Materialien. Weniger Energie und Material zu verbrauchen, ist längst nicht mehr nur eine ökologische Frage, sondern ein zentraler Wettbewerbsfaktor. Deshalb ist die Industrie gezwungen, effizient zu wirtschaften, den Klimaschutz zu forcieren und sich auf erneuerbare Rohstoffe umzustellen. Eine ressourcenschonende Industrie ist ein Innovations- und Wachstumsmotor. Neue Werkstoffe, bessere Technologien, verfeinerte Produktionsverfahren und intelligente Produkte tragen dazu bei, neue Märkte zu erschließen. Besonders große Chancen eröffnen diejenigen Technologien, die mit Wasser, Wind, Sonne, Biomasse oder Erdwärme den Energiebedarf decken. Deutsche Unternehmen zählen auf diesen Gebieten schon heute zu den Weltmarktführern, etwa in der Windenergie. Auch für Arbeitsplätze und die Standortentwicklung sind die Aussichten günstig. Die erneuerbaren Energien sind ein verlässlicher Jobmotor. Die Unternehmensberatung McKinsey rechnet in Deutschland bis 2020 mit rund 850.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen in diesem Sektor.
Keine Windräder ohne Stahl und Kunststoff
Bereits heute gehört Deutschland zu den energieeffizientesten Industriestaaten. Gleichwohl ist das Ende der Fahnenstange längst nicht erreicht, besonders bei der Gebäudesanierung. Auch Unternehmen besitzen ein erhebliches Einsparpotenzial. Schätzungen zufolge lassen sich bis 2020 zwischen 20 und 40 Prozent des industriellen Energieverbrauchs zu wirtschaftlichen Bedingungen einsparen. Dafür ist allerdings viel Arbeit nötig. Das produzierende Gewerbe muss schrittweise Energie-Managementsysteme einführen. Es braucht Benchmarks und Top-Runner-Ansätze, was bedeutet, dass die Politik klare Vorgaben für Produkte machen muss.
Darüber hinaus muss der Markt für Energiedienstleistungen wachsen. Die vorhandenen Hürden können durch bessere Information der Verbraucher sowie die Schulung von Architekten, Planern und Handwerksbetrieben überwunden werden. Außerdem muss die Politik rechtliche und wirtschaftliche Hemmnisse bei Contracting-Modellen beseitigen. Die energetische Gebäudesanierung kann über steuerliche Anreize bei der Einkommensteuer wieder auf Trab gebracht werden.
Energieintensive Branchen sind eine Basis der gesamten Wertschöpfungskette. Besonders die Grundstoffindustrie sichert Arbeitsplätze. Sie wird für die Energiewende gebraucht: Ohne die Stahl- und Kunststoffindustrie entsteht kein Windrad, ohne eine wettbewerbsfähige Automobilindustrie entsteht kein schadstoffarmes Auto. Für die energieintensiven Unternehmen entwickelt sich der Strompreis zum entscheidenden Standortkriterium. Der Umbau des Energiesystems und die stufenweise Einführung des Kohlendioxid-Emissionshandels werden die Produktionskosten für energie- und emissionsintensive Branchen deutlich erhöhen und damit ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit verschlechtern. Deshalb ist sicherer Strom zu wettbewerbsfähigen Preisen für die Industrie von existenzieller Wichtigkeit.
Die Grundstoffindustrien bleiben wichtig
Nach einer Studie des Energiewirtschaftlichen Instituts der Universität Köln, des Prognos-Instituts und der Gesellschaft für Wirtschaftliche Strukturforschung kann die stromintensive Industrie besonders hart vom schnellen Atomausstieg betroffen sein. Für den Betrieb einzelner stromintensiver Anlagen drohen „gravierende Konsequenzen“. Den Autoren der Studie zufolge wird die Wende Verbraucher und Industrie rund 32 Milliarden Euro kosten. Bereits bis 2015 seien 23.000 Arbeitsplätze bedroht. Die schwarz-gelbe Bundesregierung tut viel zu wenig für die stromintensive Industrie. Sie muss ein Grundlaststromangebot zu fairen Preisen schaffen. Es war die rot-grüne Koalition, die deren internationale Wettbewerbsfähigkeit einst mit Steuervergünstigungen gesichert hat.
Die Grundstoffindustrie und nachgelagerte Branchen stoßen auf Konkurrenten, deren Energiepreise subventioniert werden und die ohne klimapolitische Vorgaben wie den europäischen Emissionshandel wirtschaften. Strom in Deutschland ist relativ teuer. Das macht der Industrie zu schaffen, die für Stahl, Aluminium, Zink oder Kupfer viel Strom braucht. Aber niedrigere Strompreise sind kein Freibrief, hemmungslos Strom zu verbrauchen. Die Betriebe erhalten gleichzeitig die Auflage, ihre Energieeffizienz laufend zu verbessern. Dabei dürfen wir das Ziel nie aus den Augen verlieren, die Grundstoffindustrien in Deutschland zu erhalten.
Die geltenden Vergünstigungen bei der Energie- und der Stromsteuer durch die Europäische Kommission laufen aus. Um den betroffenen Unternehmen Planungssicherheit zu gewährleisten, muss sich die Regierung bald über die Energiebesteuerung für die Industrie einig werden.
Die ab 2013 geltende Richtlinie für den Emissionshandel der Europäischen Kommission sieht vor, dass Mitgliedsstaaten solchen Wirtschaftszweigen finanziell unter die Arme greifen dürfen, die sonst ihren Standort aus Europa verlagern und sich so dem Kohlendioxid-Emissionshandel entziehen würden. Um mithalten zu können, braucht die deutsche Industrie einen Ausgleich. Die Regierung muss deshalb in Brüssel die Befreiung von direkten und indirekten Kosten im europäischen Emissionshandel für die energieintensive Industrie durchsetzen – im Jahr 2008 von der Großen Koalition beschlossen –, solange es an vergleichbaren internationalen Wettbewerbsbedingungen mangelt.
Alles in allem: Damit Deutschland auch morgen noch wächst und Arbeit hat, müssen wir neben der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur die Energieinfrastruktur gründlich auf Vordermann bringen. Wir brauchen ein intelligentes Netz, um die erneuerbaren Energien optimal zu nutzen. Auch an einem schnellen Breitbandnetz für alle führt kein Weg vorbei. Wachstum ohne gute Straßen, Schienen, Luft- und Wasserwege ist ebenfalls nicht denkbar.
Neue Energien können auf herkömmlichem Weg nicht effektiv an die Menschen gebracht werden. Sie brauchen eine neue Transportinfrastruktur. Deshalb haben der Ausbau und die Erneuerung der Übertragungs- und Verteilnetze unbedingten Vorrang. Nötig sind beschleunigte Entscheidungsprozesse und Planfeststellungsverfahren. Bei Vorhaben von nationaler Bedeutung muss die Politik um Zustimmung oder Verständnis bei den Menschen werben. Die meisten akzeptieren den Wandel zu erneuerbaren Energien. Aber wenn es um Leitungen oder Bauten in ihrer Nähe geht, schlägt Akzeptanz häufig in Widerstand um.
Deshalb müssen Politik, Verwaltung, Netzbetreiber und Energieerzeuger mit den Menschen reden und versuchen, sie vom Sinn der Investitionen in die neue Strom- und Wärmewelt zu überzeugen. Konfrontation führt zu Blockaden und lässt Unternehmen am Standort Deutschland zweifeln. Aus diesem Grund brauchen wir einen neuen gesellschaftlichen Konsens über die Bedeutung der Industrie für unseren Wohlstand. Wir brauchen wieder eine Akzeptanz für Notwendigkeiten – vor allem für die Notwendigkeit von Infrastrukturprojekten. Dafür sorgen können Gesellschaft, Unternehmen und Politik nur gemeinsam.