Der Streit der Zukunft
Modernisierung, Sicherheit, Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Zusammenhalt: Man braucht keine hellseherischen Fähigkeit, um zu wissen, dass diese Begriffe den Kern der politischen Debatten der kommenden Jahre bilden werden. Schon jetzt geht es um diese Fragen, wenn mit Argumenten über den richtigen Weg gestritten wird. Ob Steuerreform, Bildungspolitik, Rentenreform oder Verbraucherschutz - stets dreht sich die Auseinandersetzung um das vernünftige Verhältnis zwischen der notwendigen Erneuerung, dem Bedürfnis nach Sicherheit und dem Zusammenhalt der Gesellschaft. Neu ist, dass diese Begriffe zu einer untrennbaren Einheit geworden sind.
T.I.N.A.: There is no alternative!
Zur Modernisierung gibt es keine Alternative, nicht in Deutschland und nicht in anderen modernen Gesellschaften. Der internationale Wettbewerb ist härter geworden. Wenn Deutschland den Anschluss nicht verpassen will, brauchen wir Erneuerung. Die Fortschreibung des Bestehenden verspricht keine Zukunft. Nur regelmäßige Prüfung sichert die Funktionstüchtigkeit der Systeme. Das TÜV-Prinzip gilt eben auch in der Politik.
Erneuerung ist eine wesentliche Voraussetzung für Sicherheit. Ebenso gilt, dass Modernisierung ohne Sicherheit und Gerechtigkeit nur schwer gelingen kann. Eine Politik, die die nötige Moder-nisierung anpackt, kann deshalb nur erfolgreich sein, wenn sie neben allem Wandel auch Sicher-heit, Verlässlichkeit und Perspektive anbietet. Dieser Zusammenhang von Modernisierung und Sicherheit ist keineswegs neu. Im Gegenteil: Schon immer war die Frage der Sicherheit von zentraler Bedeutung für die Bürger; die Entwicklung der Rahmenbedingungen sicheren Lebens unter den jeweiligen Bedingungen der Zeit bleibt die Kernaufgabe von Parteien und Regierungen.
Der Wunsch des einzelnen Menschen nach Sicherheit ist verständlich. Ein stabiles soziales Netz gehört deshalb heute zum Selbstverständnis der deutschen Demokratie. Richtig verstanden umfasst das Bedürfnis nach Sicherheit jedoch weit mehr als nur die soziale Dimension, auf die der Begriff hierzulande reduziert wird. Sicherheit ist eine komplexe Kategorie, die im Deutschen in einem einzigen Begriff zusammenfasst, wofür es etwa im Englischen drei unterschiedliche Worte gibt:
Zygmunt Bauman, Professor an der Universität Leeds, hat auf die unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen verwiesen, die der Sicherheitsbegriff umfasst: Security - das Gefühl, dass alles, was wir geleistet und erworben haben, in unserem Besitz bleibt. Certainty - das Gefühl der Gewissheit, das es uns ermöglicht, zwischen richtig und falsch, vernünftig und schädlich zu unterscheiden und unsere täglichen Entscheidungen zu treffen. Schließlich safety - das Gefühl, geschützt zu sein. Diese Dimensionen von Sicherheit aufzugreifen ist eine der zentralen Aufgaben moderner Politik.
Wer mehr leistet, soll auch mehr haben
Übertragen in den deutschen Sprachschatz lassen sich die drei Dimension in etwa wie folgt beschreiben: Das Vertrauen in unsere Rechtsordnung und ihre Eigentumsgarantien bilden die Grundlage des demokratischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik. Dazu gehört auch das Leistungsprinzip. Gerade der Leistungsgedanke beruht auf einem Prinzip, das Sicherheit vermittelt: Wer mehr leistet, soll auch mehr haben, und wer sich wenig leisten kann, soll weniger abgeben. Wie sehr Sicherheit, Leistung und Eigentum in Deutschland miteinander verbunden sind, zeigt sich auch bei einem Blick auf die Grundlagen moderner Wirtschaftsordnung: Es ist das Grundprinzip der Sozialen Marktwirtschaft. Die soziale Marktwirtschaft vermittelt security. Dazu muss die Politik die richtigen Rahmenbedingungen setzen. Die Möglichkeit zur Qualifizierung für den Arbeitsmarkt bereitzustellen, individuelle Leistungsbereitschaft zu stärken sowie eine verlässliche Steuer- und Finanzpolitik zu garantieren - das sind die zentralen Elemente einer Politik, die den Menschen security vermitteln will.
Mit dem Wandel kommt die Verunsicherung
Die zweite Dimension von Sicherheit, die im Englischen als certainty die Kriterien für eine Unterscheidungen zwischen richtig und falsch, vernünftig und schädlich und damit die Grundlage für Entscheidungen überhaupt umfasst, verweist auf die Bedeutung von Werten. Gerade in Zeiten des Wandels, der Beschleunigung und der Auflösung traditioneller Milieus und gesellschaftlicher Strukturen kommt den Grundwerten einer Gesellschaft eine hohe Bedeutung zu. Gesellschaftliche Veränderungsprozesse lösen neben Hoffnung und Zukunftsoptimismus immer auch Verunsicherung aus, die sich allein mit dem Verweis auf das Kommende nicht abstellen lässt. Der allzu menschliche Wunsch nach Sicherheit und Orientierung kann nur durch den Rückgriff auf ein festes Gerüst an Werten befriedigt werden.
Wie in allen modernen Demokratien beziehen sich die großen Parteien der politischen Mitte auf einen Wertekanon. In Deutschland ist es lange der CDU gelungen, die Werte der Mitte der Gesellschaft zu formulieren und mit ihrem Namen zu verbinden. Heute ist es die SPD, die als Volkspartei in der Mitte der Gesellschaft steht, deren Mitglieder, deren Politik- und Regierungsstil und politisches Programm das Zentrum bilden. Die Sozialdemokratisierung gesellschaftlicher Grundwerte, die wir heute feststellen können, ist die eigentliche Ursache für den neuen politischen Aufbruch in Deutschland. Innovation mit Gerechtigkeit, Modernisierung mit humaner und auf gesellschaftliche Inklusion angelegter Perspektive - dies ist die Chiffre, unter der die SPD heute das gesellschaftliche Selbstverständnis formuliert und organisiert. Durch einen Politikstil von "Konsens und Führung" vermittelt sie jene Form von Orientierung, die den Bürgern Sicherheit gibt im Sinne der Dimension certainty.
Die dritte Kategorie schließlich lautet safety und bezeichnet das Gefühl, geschützt zu sein. In modernen Gesellschaften umfasst Schutz vielfältige Ebenen. Vor allem aber sind es zwei Institutionen, die dem Individuum heute Schutz vermitteln: Der Staat und die Familie. Der Staat gewährleistet den Schutz vor äußeren und inneren Feinden und soll einen stabilen Rahmen für die Entfaltung des einzelnen Bürgers schaffen. Freiheit hat Voraussetzungen, und so kommt dem sozialstaatlichen Netz eine zentrale Bedeutung bei der Absicherung der individuellen Lebenswege zu.
Familie bedeutet mehr als Kinder
Aber mehr noch als die staatlichen Instrumente sind es die Gemeinschaften innerhalb der Gesellschaft, die dem Individuum Schutz vermitteln. Vor allem die Familie erfüllt diese Funktion und ist aus diesem Grund gerade in modernen Gesellschaften eine zentrale Einheit und ein wichtiges Strukturprinzip des Zusammenlebens. Dabei umfasst ein angemessener Begriff von Familie weit mehr als Kinder. Eine ebenfalls bedeutsame Funktion von Familie liegt im Prinzip der wechselseitigen Verantwortung von Menschen füreinander.
Die gegenwärtige Renaissance der Familie in Deutschland offenbart das Bedürfnis, dem Wandel unserer Gesellschaft feste Strukturen von Sicherheit, Verlässlichkeit und sozialem Zusammenhalt entgegenzusetzen. Nicht ohne Grund liegt gerade bei Jungen die Ehe wieder hoch im Kurs - ein Trend, der dem ökonomischen Leitbild des ungebundenen und flexiblen Menschen diametral entgegen steht. In gleicher Weise erklärt sich das feine Gespür der Bürger für Gerechtigkeitsfragen. Gesellschaftlicher Zusammenhalt und stabile Sozialstrukturen werden als unabdingbare Voraussetzungen für die individuelle Sicherheit angesehen. Dauerhafte und tiefgreifende Ungerechtigkeit gefährdet diese Vor-aussetzung der persönlichen Entwicklung. Daher wird sie abgelehnt. Und abgewählt.
Modernisierung, Sicherheit, Gerechtigkeit und Zusammenhalt: Der Umweg über die Differenziertheit der englischen Sprache verdeutlicht den inneren Zusammenhang der Begriffe. Weil Deutschland den Kurs seiner inneren Modernisierung fortsetzen muss, wird nur jenes Angebot von Gesellschaftspolitik Zustimmung und Mehr-heiten finden, das eine stringente Verbindung zwischen diesen Ideen herstellt. Die Zukunft der großen Volksparteien in Deutschland wird sich an ihrer Fähigkeit entscheiden, schlüssige Antworten auf eben diese Herausforderung zu geben.
Dabei konkurrieren zwei entgegengesetzte Politikstile. Die sozialdemokratische Idee von Ge-sellschaftspolitik beruht auf dem Grundsatz, dass Politik Gesellschaft gestalten kann. Die sozialdemokratische Parteienfamilie glaubt daran, dass Werte, soziale Güter und Gemeinschaften nicht nur vorgefunden, sondern auch entwickelt und gefördert werden können, dass die Voraussetzungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Entfaltung des Einzelnen durch Politik geschaffen werden können - etwa durch eine Politik des Konsenses, wie sie dem Bündnis für Arbeit zugrunde liegt. Die Konservativen hingegen haben keinen Kompass für Gesellschaften im Wandel. Das ist der Grund für die Erosion der christdemokratischen Parteien in Europa.
Sicherheit zu vermitteln, Gerechtigkeit herzustellen und den sozialen Zusammenhalt zu stärken - das sind die Aufgaben, denen sich die Volksparteien stellen müssen. Sie müssen eine Politik entwickeln, die Sicherheit im Wandel und Sicherheit durch Wandel schafft. In dieser Frage ist der Wett-bewerb zwischen den Parteien nicht entschieden. Das Thema der Zukunft steht allerdings fest.