Der weltoffene Patriotismus
Viele Intellektuelle verstanden die Bundesrepublik zumal in den achtziger Jahren als „postnationale Demokratie“. Die deutsche Frage galt nicht mehr als offen, die Geschichte schien ihr Schlusswort gesprochen zu haben. „Verfassungspatriotismus“ war die Zauberformel, auf die sich Repräsentanten unterschiedlicher Couleur einigten. Dabei blieb unklar, ob diese Art des Patriotismus die Vaterlandsliebe im Allgemeinen und das Streben nach der deutschen Einheit im Besonderen prinzipiell ausschloss. Auf jeden Fall haftete im kollektiven Gedächtnis der Nation stets die schlimme Erinnerung an das „tausendjährige Reich“. Viele Deutsche besiegten den Nationalsozialismus im nachgeholten Widerstand immer wieder.
Die Politiker der Bundesrepublik Deutschland waren gewissermaßen froh über die fehlende Souveränität des Landes, die Sicherheit bot. Aus militärischen Auseinandersetzungen und anderen heiklen Verwicklungen konnten sie sich einfach heraushalten. Die Absage an den Nationalneutralismus, der vielfach als Patriotismus firmierte, war dabei die richtige Entscheidung. Zweimal machte er Furore: Bei der Frage nach der Eingliederung in das westliche Bündnissystem Anfang der fünfziger Jahre und bei der Diskussion über den Nato-Doppelbeschluss Anfang der Achtziger. Die Argumentationsmuster ähnelten einander: aufgrund der „Jalta-Ordnung“ sei Deutschland ein besetztes Land; die „Supermächte“ verträten Hegemonialinteressen; die Teilung Deutschlands erhöhe die Kriegsgefahr; den sowjetischen Sicherheitsinteressen müsse Rechnung getragen werden.
Nationalneutralismus und Sonderweg
Der Nationalneutralismus, der von rechten wie linken Kreisen unterstützt wurde, stand für einen unausgegorenen außenpolitischen dritten Weg. Damit ging zum Teil eine zivilisationskritische Attitüde einher, die kein gutes Haar an der „westlichen Wertegemeinschaft“ ließ. Vieles an diesem Neutralismus, der moralisches Pathos beanspruchte, war kritikwürdig: seine antiwestliche Haltung, das verbreitete Äquidistanzdenken zwischen Ost und West, die Idee einer spezifischen Verantwortung der Deutschen für den Frieden, die Überschätzung der geopolitischen Lage Deutschlands, die Beschwörung apokalyptischer Szenarien, der ausgeprägte Voluntarismus – als könnte Deutschland die Interessen der Großmächte ignorieren. Im Grunde ließen die Nationalneutralisten Elemente des deutschen Sonderweges direkt oder indirekt wieder aufleben. Dass sich die führenden Politiker der großen Parteien von derartigen Maximen distanzierten, war ein Zeichen für die fortgeschrittene Verwestlichung Deutschlands.
Die Kritiker nationalneutralistischer Positionen galten zwar nicht als Patrioten, viele von ihnen waren es aber. Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer zum Beispiel empfand jegliche Schaukelpolitik als abträglich. Zielstrebig setzte er auf die Westbindung Deutschlands und brach so mit einer langen, wiewohl nicht ehrwürdigen deutschen Tradition. Ihm gebührt deshalb das Prädikat „Patriot“, auch wenn ihn sein großer sozialdemokratischer Gegenspieler Kurt Schumacher 1949 im Bundestag in einem Zwischenruf als „Kanzler der Alliierten“ titulierte. Als ehemaliger Nazi-Gefangener wollte Schumacher nationaler und selbstbewusster auftreten als Adenauer.
Patriotismus als unbeschwerte Heimatliebe
Der Emigrant Willy Brandt stand für das „andere Deutschland“ und trug mit seiner Deutschlandpolitik viel zum Zusammenhalt des geteilten Deutschland bei. Sein Kniefall vor dem Mahnmal im Warschauer Ghetto bewegte die Weltöffentlichkeit. Helmut Kohl, dem Fortuna hold war, bewies in der aufgewühlten Zeit um 1989/90 zupackende Entschlossenheit, gepaart mit Besonnenheit. Die deutsche Einheit ist auch ihm zu verdanken. So ließe sich mit Gerhard Schröder und Angela Merkel fortfahren.
Es wäre aber verkehrt, den Patriotismus nur mit „großen Politikern“ in Zusammenhang zu bringen. Auch „kleine Leute“ haben sich um das Land verdient gemacht. Wer Gemeinsinn an den Tag legt, sich solidarisch zeigt und Schwachen ehrenamtlich hilft, der mag die Kennzeichnung „patriotisch“ nicht als ehrenrührig empfinden. Gleichwohl scheute die Öffentlichkeit lange davor zurück, das Wort Patriotismus in den Mund zu nehmen. Man befürchtete, Patriotismus könne auf „Nationalismus“ hinauslaufen. So gab es eine beträchtliche Befangenheit in der politischen Kultur des Landes.
Das hat sich mittlerweile gewandelt. Blickt man auf die jüngste Literatur, besteht kein Zweifel: Linke, liberale und – seltener – konservative Intellektuelle greifen das Thema auf; nicht, um vor Nationalismus zu warnen, auch nicht mit überschwänglichem Patriotismus. Vielmehr spiegelt sich in diesen Abhandlungen eine unbeschwerte Form der Heimatliebe wider. Matthias Matussek, Kulturchef des Spiegel, prangert in seinem Buch „Wir Deutschen“ den verkrampften Umgang mit dem Thema Patriotismus an; Reinhard Mohr vom Stern bekennt sich in einem Großessay zu seinem „Deutschlandgefühl“; Eckhard Fuhr, Feuilletonchef der Welt, empfindet die „Berliner Republik als Vaterland“; der Schriftsteller Richard Wagner, der als Spätaussiedler 1987 aus Rumänien in die Bundesrepublik kam, spricht vom „Schicksal eines guten Landes“, dem er mehr Selbstbewusstsein wünscht; und der Autor Florian Langenscheidt benennt in einem opulenten Band „250 Gründe, unser Land zu lieben“ – ganz ohne Ironie. Ein Sonderheft des Merkur analysiert die „Physiognomie der Berliner Republik“, und Autor Jörg Lau macht darin „einen neuen Patriotismus in Deutschland“ aus. Auch die sozialdemokratisch ausgerichtete Neue Gesellschaft hat ein Themenheft über „Patriotismus von links“ herausgebracht, in dem Peter Grafe Deutschland „dem Banne des Nationalsozialismus“ entkommen sieht.
Die Globalisierung fördert den Patriotismus
Die Ursachen für diese nachhaltigen Veränderungen sind vielfältig. Ich erkenne vier Hauptgründe, die sich zum Teil überschneiden: die nach zwei Generationen größere zeitliche und innere Distanz zum Dritten Reich; die überraschende deutsche Einheit; die rot-grüne Regierungszeit und neue Probleme, Chancen und Herausforderungen, die etwa mit der Einwanderung verbunden sind. Die Nachkriegszeit geht zu Ende, diesmal wohl endgültig. Proteste gegen ein Nationalbewusstsein dürften Nachhutgefechte bleiben und in der Mitte der Gesellschaft nicht mehr ankommen.
Über sechzig Jahre nach Ende des von Hitler angezettelten Krieges ist die Auffassung verbreitet, Deutschland habe seine Lektion gelernt. Die junge Generation, die dank ihrer Weltoffenheit mit fremden Länder vertraut ist, erkennt zunehmend, dass die Liebe zur Heimat kosmopolitisches Denken nicht aus-, sondern einschließt. Wie in anderen Ländern verbreitet sich auch in Deutschland die Auffassung, ein „Bundesstaat Europa“ und ein „europäischer Patriotismus“ würden den Nationalstaat nicht ablösen. Wer den alliierten Bombenkrieg und die Vertreibung von Deutschen nach 1945 zur Sprache bringt, sieht sich weniger als früher mit dem Vorwurf der „Aufrechnung“ konfrontiert. Die neue Unbefangenheit wird dadurch begünstigt, dass althergebrachte nationale Positionen kaum noch vertreten werden. Globalisierung, das mutet paradox an, fördert den Patriotismus.
Verfassungspatriotismus ist nicht genug
Die deutsche Einheit, der eine friedliche Revolution in der DDR vorausging, führte zu einem mannigfachen Umdenken. Freiheit machte Einheit möglich, die keinen nationalistischen Furor hervorrief, auch keine patriotischen Aufwallungen. Die Einheit galt gleichsam als selbstverständlich, im Osten allerdings mehr als im Westen, denn die DDR war in vieler Hinsicht der „deutschere“ deutsche Staat gewesen und eine überwältigende Mehrheit ihrer Bürger hatte sich die Einheit herbeigewünscht. Doch nun nahm auch im Westen das Gefühl der Zusammengehörigkeit aller Deutschen zu. Dass in Deutschland zum ersten Mal eine – freiheitliche – Revolution friedlich verlief, stärkte das nationale Selbstbewusstsein. Nach der deutschen Einheit wurde vielen bewusst: Verfassungspatriotismus – die Verteidigung freiheitlicher Werte – ist zwar notwendig, aber für das Gedeihen des Gemeinwesens nicht hinreichend.
Ein weiterer wichtiger Grund für die Zunahme patriotischer Vorstellungen liegt im ungefilterten Regierungswechsel des Jahres 1998. „Achtundsechziger“ wie Joschka Fischer gelangten an die Spitze des Staates, den sie einst abgelehnt, ja bekämpft hatten. Sie versöhnten sich mit ihm, übernahmen Verantwortung, akzeptierten das militärische Engagement Deutschlands in der Welt und veränderten viele Bereiche der Gesellschaft. Das förderte die Identifizierung mit dem Gemeinwesen in einem Staat, der erstmalig in der deutschen Geschichte keine Gebietsansprüche an andere Länder stellt – eine gute Voraussetzung für weltoffenen Patriotismus in Deutschland. Gerhard Schröder trat betont selbstbewusst auf. Sein Reden vom „deutschen Weg“ war für die einen nichts anderes als linker Wilhelminismus, ein Stein des Anstoßes; für die anderen ein Stein der Weisen. Zunehmend war man überzeugt, dass es nicht gut sei, gegen Nationalismus zu wettern und zugleich Patriotismus unter Verdacht zu stellen. Wer aufkeimendem Rechtsextremismus den Wind aus den Segeln nehmen will, sollte Patriotismus nicht tabuisieren.
Ökonomische Probleme löst Heimatliebe nicht
Die neuen Herausforderungen an Deutschland begünstigten eine patriotische Orientierung. Nicht ohne Wirkung blieb dabei die allmählich gereifte Erkenntnis, das Land sei ein Einwanderungsland. Wie aber sollen sich Einwanderer mit diesem Land identifizieren, wenn es selbst seinen eigenen Bürgern schwer fällt? „Auschwitz“ ist im Erinnerungshorizont der Einwanderer nicht verhaftet. Bindekraft hingegen besitzt der Patriotismus: Er kann dabei helfen, „Parallelgesellschaften“ aufzulösen. Die naive Auffassung, der Multikulturalismus schleife Probleme zwischen unterschiedlichen Kulturen automatisch ab, musste ad acta gelegt werden. Die Idee einer identitätsstiftenden „Leitkultur“ gewann an Überzeugungskraft. Freilich dürfte der Patriotismus weder schwerwiegende ökonomische Probleme noch politische Krisen mindern. Er ist aber ein Anker, der den Menschen in einer unübersichtlicher gewordenen Welt Halt geben kann. Die Fußballweltmeisterschaft 2006 ist ein schönes Beispiel für den beschriebenen Wandel.
Zu Recht hat die Bundesregierung eine positive Bilanz der Fußballweltmeisterschaft gezogen. Wichtiger noch als der sportliche, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Erfolg war die Begeisterung, die nicht nur Fußballfans erfasste. Sie war Ausdruck einer über den Sport hinausweisenden Tiefenströmung.
Das Großereignis förderte den Zusammenhalt der Bevölkerung in Deutschland. Ein friedlich wogendes Fahnenmeer überflutete Straßen, Stadien und Fanmeilen, ein „Wir-Gefühl“ löste Optimismus aus. Überall in Deutschland bekundeten Menschen verschiedener Hautfarbe ihre Sympathie für die deutsche Fußballelf. Weil sie hier leben, identifizierten sie sich mit dem deutschen Team. Gerald Asamoah und David Odonkor etwa, beide auf Anhieb erkennbar als Spieler aus Einwandererfamilien, gehörten dem Leistungsprinzip gemäß ganz selbstverständlich zur Mannschaft. Es gab keine Misstöne. Die Begeisterung für Deutschland war Ausdruck eines entspannten sportlichen Patriotismus, nicht eines überheblichen Nationalismus. Auch Siege anderer Mannschaften lösten Jubel aus, und das Ausscheiden des deutschen Teams rief weder aggressive Reaktionen noch giftige Kommentare hervor.
Fußball beflügelt und vereint
Die Angst vor aufkeimendem Chauvinismus, fanatischen Hooligans und angriffslüsternen Schlägern, die das Image Deutschlands hätten beschädigen können, erwies sich als unbegründet. Jedenfalls sind diejenigen, die vor nationaler Großmannssucht gewarnt haben, mit Blick auf den Sport in der Defensive. Sie mussten erkennen, dass Fußball beflügelt und vereint. Bei der Weltmeisterschaft ging der Jubel nicht zuletzt von der Jugend aus: Die jungen Menschen überraschten durch einen unverkrampften Umgang mit nationalen Symbolen. Antideutsche Kampagnen („Deutschland verrecke“) und Gegner der Nationalhymne bliesen kleinlaut zum Rückzug.
Der jedenfalls subkutan mit einem gewissen Nationalgefühl verbundene Enthusiasmus für die deutsche Mannschaft ist ein positives Zeichen der Normalisierung. Er lag in der Luft, verblüffte aber dennoch einen Teil der politischen Elite. Kein Repräsentant der „Frankfurter Schule“ kann mit seinen Theorien hinreichend erklären, wieso die Deutschen der eigenen und nicht der schwedischen Nationalelf die Daumen hielten. Verfassungspatriotismus ist offenbar nur ein halber Patriotismus. Und richtiger Patriotismus bildet anscheinend ein stärkeres Bindeglied als etwa Multikulturalismus.
War die sommerliche Euphorie vielleicht nur eine Reaktion auf eine begeistert spielende Mannschaft? Mitnichten, sie war mehr als „Partyotismus“. Bei früheren sportlichen Großereignissen fehlte der so selbstverständliche und keineswegs „von oben“ gesteuerte Umgang mit nationalen Symbolen – und wäre auch nicht auf den soupçon der Intellektuellen gestoßen. Nein, die Fußballweltmeisterschaft löste keinen neuen Patriotismus aus; das Ereignis war ein Symptom für die Veränderung der politischen Kultur. Heute hängen keine Deutschlandfahnen mehr von den Balkonen, die Deutschen neigen eben nicht zur Deutschtümelei. Aber patriotische „Wir-Gefühle“ sind wieder abrufbar.
Zwei Verhaltensweisen verbieten sich: Zum einen sollten Kritiker patriotische Maximen nicht in die „rechte Ecke“ stellen. Zum anderen darf – unter dem Vorwand des Patriotismus – kein schnöder Nationalismus um sich greifen. Denn dieser schwächt jenen.
Patriotismus umfasst Nationalpatriotismus ebenso wie Verfassungspatriotismus. Wie auch immer man die Akzente setzt: Keine demokratische Richtung hat ein Recht darauf, andere demokratische Sichtweisen eines „unpatriotischen Verhaltens“ zu zeihen. Wer Patriotismus akzeptiert, muss wissen, dass damit nicht automatisch das Gedeihen des Gemeinwesens gesichert ist. Auch kann Patriotismus zu unerfüllbaren Erwartungen und Frustrationen führen. Alle Versuche, ein Nationalgefühl „von oben“ zu propagieren, sind zum Scheitern verurteilt. Außerdem gilt: Durchgesetzt hat sich der Patriotismus dann, wenn von ihm nicht mehr gesprochen wird. Aber so selbstverständlich ist er nicht – noch nicht.