Kein Ausweg aus der Großen Koalition?
Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht nur eine Parteiendemokratie, sondern auch eine Koalitionsdemokratie. Nach jeder Bundestagswahl wurde bislang eine Koalition gebildet, selbst im Jahre 1957, als die Union eine absolute Mehrheit der Stimmen erreicht hatte. Nur 1960/61 war es (wegen des Übertritts der DP-Minister zur CDU) zu einer Alleinregierung der Union gekommen. Damit hatte bei der aktuellen Wahl aber niemand gerechnet: Eine absolute Mehrheit der Mandate lag für die Union im Bereich des Möglichen – trotz ihrer „nur“ 41,5 Prozent der Zweitstimmen. Der Grund: 15,7 Prozent der Stimmen blieben unverwertet, da sie für Parteien abgegeben wurden, die an der Fünf-Prozent-Klausel scheiterten. Dieses Manko ließe sich künftig durch die Einführung einer Nebenstimme vermeiden, die das Votum des Wählers exakter wiedergäbe. Der positive Effekt der Fünf-Prozent-Klausel (Schutz vor Zersplitterung im Parlament) bliebe dennoch gewährleistet, ihr negativer Effekt (die fehlende Berücksichtigung von Stimmen) würde aber verschwinden. Zudem wären Zweitstimmenkampagnen weithin der Boden entzogen.
Im Vorfeld der Bundestagswahl galt eine rot-grüne Koalition arithmetisch als unrealistisch, eine rot-rot-grüne politisch. Hingegen gab es drei realistische Bündnisse, jeweils mit Angela Merkel als Kanzlerin: Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot, Schwarz-Grün. Die erste Option fiel wegen des Scheiterns der FDP an der Fünf-Prozent-Hürde aus, obwohl der Stimmenanteil der beiden Parteien für die Fortsetzung der schwarz-gelben Koalition gereicht hätte. So kommt also nur ein lagerübergreifendes Bündnis in Frage, da eine Minderheitenregierung ebenso ausscheidet wie eine Neuwahl. Diese wäre ein Armutszeugnis für die Politik, die ihrer staatspolitischen Verantwortung auch bei der Regierungsbildung nicht entfliehen kann. Lagerübergreifende Bündnisse sind jedoch immer schwierig: zum einen wegen der unzufriedenen eigenen Anhängerschaft, zum anderen wegen der teilweise schwer zu vereinbarenden Positionen in der Regierungspolitik.
Der Sieg der Union stellt sich so zunehmend als Pyrrhussieg heraus. Die eigene Stärke ist zugleich Schwäche. Einerseits fehlt ihr mit den Liberalen der „natürliche“ Koalitionspartner, andererseits sind Sozialdemokraten und Grüne nicht begeistert, nun den „Mehrheitsbeschaffer“ für die Union zu spielen – schon wegen des unerwartet mageren Wahlergebnisses, das Schwäche signalisiert. Die Rolle als Opposition hatte sich nicht ausgezahlt: Die SPD konnte gegenüber ihrem in der Geschichte der Bundesrepublik schwächsten Ergebnis von 23,0 Prozent 2009 nur 2,7 Punkte zulegen, die Grünen verloren sogar 2,3 Punkte. Die drei „linken“ Parteien büßten insgesamt 3,0 Prozentpunkte ein, die drei „bürgerlichen“ (unter Einschluss der AfD) gewannen hingegen 2,6 Prozentpunkte hinzu. In Mandaten gerechnet war es allerdings gerade umgekehrt: Die „bürgerliche“ Mehrheit hat sich in eine „linke“ Mehrheit“ verkehrt. Doch die SPD (nicht die Grünen) hatte – zu Recht – die Koalitionsfähigkeit der Linken bestritten.
Wie auch der Juniorpartner profitieren kann
Gewiss, SPD und Grüne zieren sich – sei es, um den Preis eines Einstiegs in die Regierung hochzutreiben, sei es, um bei den eigenen Wählern nicht unglaubwürdig zu werden, als ginge es nur um „Regierungspfründe“. SPD und Grüne machen aus ihrer Schwäche eine Stärke, wissen sie doch: Die Union, angewiesen auf einen Partner aus dem anderen politischen Lager, sitzt in einer Falle. Überreizen sie ihre Position, fällt ihnen ein späteres Einlenken umso schwerer. Aber die taktische Dimension ist nur die eine Seite. Die andere: SPD und Grüne haben prinzipielle Vorbehalte.
Besonders dramatisch nimmt sich angesichts ihrer Stimmeneinbußen die Situation für die Grünen aus, die Rücktritte der Führung verdeutlichen das. Die Partei hatte im Wahlkampf zwar nicht eigens eine Koalition mit der Union ausgeschlossen, doch stand ihr dezidierter Linkskurs dem entgegen. Auch wenn die Grünen dies nun mehr oder weniger als Fehler ansehen, können sie nicht einfach „zurückrudern“. Sie sind personell dazu wohl nicht in der Lage; und aus einer Position der Schwäche vermögen sie der Union kaum Paroli zu bieten. Das Problem der Glaubwürdigkeit fällt für die Grünen gravierender aus als für die SPD.
Für die Sozialdemokraten dagegen wirkt das Trauma der letzten Großen Koalition nach, aus der sie mit einem zweistelligen Stimmenverlust hervorgingen. Diesen Effekt gleichsam mechanistisch der Großen Koalition anzulasten, entspringt freilich einer verkürzten Analyse und gleicht in mancherlei Hinsicht einer Autosuggestion.
Empirische Untersuchungen der bisherigen Großen Koalitionen auf Bundes- und Länderebene zeigen, dass diese keineswegs immer nur dem größeren Partner zum Vorteil gereichen. So wie es der SPD im Bund 1969 gelang, von der Juniorrolle in der Großen Koalition in eine kleine Koalition (mit der FDP) unter ihrer Führung umzusteigen, so konnte sie auch in Mecklenburg-Vorpommern (1998) und in Berlin (2001) die CDU als führende Regierungspartei verdrängen – beide Male mithilfe der PDS. Nur wo sie hinter der CDU deutlich zurücklag – wie in Baden-Württemberg (1996), Thüringen (1999) oder Sachsen (2009) – musste sie nach ihrer Regierungsbeteiligung auf die Oppositionsbänke wechseln.
Die Beispiele unterstreichen die Bedeutung der Bündnisfähigkeit. Das schlechte Abschneiden der SPD bei dieser Bundestagswahl verdankt sie auch der fehlenden Machtperspektive. Die von ihr angestrebte rot-grüne Koalition gelangte im Wahljahr laut Umfragen zu keinem Zeitpunkt in die Nähe einer eigenen Mehrheit. Sozialdemokraten und Grüne hatten sich von ihren Erfolgen in den alten Ländern blenden lassen, wo es ihnen dank des bei Landtagswahlen üblichen Zwischenwahleffektes und der Zurückdrängung der Linken gelungen war, gleich vier schwarz-gelbe durch rot-grüne beziehungsweise grün-rote Regierungen abzulösen (Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein – dort mithilfe des Südschleswigschen Wählerverbandes – und Niedersachsen). Dass dieses Szenario auf die Bundesebene nicht übertragbar sein würde, war vorauszusehen. Die Sozialdemokraten standen insofern in derselben Situation wie 2009: Sie konnten nicht auf Sieg, nur auf Platz spielen.
Was die große Koalition leisten könnte
Aufschlussreich ist die – wegen ihrer Ungenauigkeit freilich umstrittene – Wählerwanderungsbilanz. Die SPD verdankt ihre Zugewinne bei der Wahl hauptsächlich der Schwäche von Grünen und Linken, von denen sie zusammen 920 000 Stimmen erhielt. Aus dem Mitte-Rechts-Lager gab es ebenfalls ein leichtes Plus von 140 000 Stimmen, da im Saldo mehr Wähler von der FDP zur SPD überliefen als diese an Union und AfD verlor. Der Hauptgrund des schwachen Wahlergebnisses: die nicht gelungene Mobilisierung von Nichtwählern. Die Bürger, die der SPD 2009 massenhaft den Rücken gekehrt hatten, blieben auch diesmal zu Hause oder wechselten zur Union; diese konnte unter dem Strich dreimal so viele vormalige Nichtwähler rekrutieren wie die SPD (1 130 000 gegenüber 360 000).
Wie Umfragen zeigen, lehnen die Anhänger der SPD eine Große Koalition keineswegs ab; die Zahl der Unterstützer ist mit etwa zwei Dritteln genauso groß wie unter den Unionsanhängern. Dies scheint zu dem von führenden SPD-Politikern kolportierten Eindruck einer überwiegenden Ablehnung der Großen Koalition an der Basis nicht ganz zu passen. Der Gegensatz ist allerdings gut erklärbar: Funktionäre sind angesichts des großen Abstands zur Union (15,8 Prozentpunkte) skeptischer.
Dass die Vorbehalte vor allem aus den Ländern kommen, die von der SPD (mit)regiert werden, hängt nicht nur mit der Furcht vor Niederlagen bei anstehenden Kommunal- und Landtagswahlen zusammen. Es verweist auch auf die unterschiedliche Interessenlage zwischen den dortigen Landesverbänden und der Bundes-SPD. Für die erstgenannten wäre es im Zweifel komfortabler, im Bund in der Opposition zu verbleiben. Denn dann stünden die SPD-regierten Länder mit ihrer Mehrheit im Bundesrat der unionsgeführten Bundesregierung als geschlossene Phalanx gegenüber. Sie könnten diese unter Druck setzen, die Finanzausstattung der Länder zu verbessern. Regiert die SPD dagegen in einer Großen Koalition mit, müssten sich die von Hannelore Kraft angeführten Landesfürsten zugleich mit der Bundespartei und den von der SPD gestellten Ministern arrangieren, die qua Amt automatisch stärker dem Bundesinteresse verpflichtet wären.
Wechselt man von der parteilichen oder innerparteilichen zur gesamtstaatlichen Interessenperspektive, spräche gerade mit Blick auf den Föderalismus vieles für die Neuauflage der Großen Koalition. Die Einführung der Schuldenbremse, das Auslaufen des Solidarpakts im Jahre 2019 und die Infragestellung des geltenden Finanzausgleichssystems durch die reichen Südländer machen eine grundlegende Neuordnung der Finanzbeziehungen notwendig. Außerdem könnte eine Große Koalition das Kooperationsverbot in der Bildungspolitik lockern, das sie selbst 2006 eingeführt hatte. Auch mit Blick auf die europäischen Herausforderungen wäre es kein Schaden, das informelle Zusammenwirken in eine förmliche Zusammenarbeit zu überführen.
Offenkundig sind dagegen die von einer Großen Koalition ausgehenden Demokratieschäden. Union und SPD würden im Bundestag zusammen vier Fünftel der Mandate kontrollieren. Wesentliche Kontrollrechte wie die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses oder eine Normenkontrollklage könnten von den beiden verbliebenen Oppositionsparteien mangels Masse nicht genutzt werden. Eine Große Koalition bewiese Souveränität, würde sie die dafür benötigten Quoren von 25 auf 20 Prozent absenken. Im Übrigen sollte das Zusammengehen der beiden Volksparteien ein Intermezzo bleiben.