Deuten kann man nur die Wirklichkeit

Die SPD sollte sich nicht zu Illusionen über den Gang der Welt hinreißen lassen. Deshalb muss jedes tragfähige sozialdemokratische Konzept mit dem Bekenntnis zu einer starken Wirtschaft beginnen. Nur so gibt es Beschäftigung, Einkommen, Steuereinnahmen. Als Partner einer realitätstauglichen SPD kommt - neben den Grünen - nur die FDP infrage

Das Jahr 2009, Anlass für vielfältige deutsche Erinnerungen, erinnerte auch an das „Godesberger Programm“ von 1959. „Godesberg“ war damals ein wichtiger Schritt voran im Verständnis einer neuen Welt, aber im Rückblick mahnt „Godesberg“ auch an die Grenzen unserer Weitsicht. Denn in der Präambel zum „Godesberger Programm“ schwärmte die SPD, damals mehr als alle „konservativen“ Parteien, von der Kernenergie so: „... das ist ... die Hoffnung dieser Zeit, dass der Mensch im atomaren Zeitalter sein Leben erleichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand für alle schaffen kann ...“. Im Jahr 2009 führte der neue Parteivorsitzende Sigmar Gabriel dennoch einen kompromisslosen „Atomenergie-Nein Danke“-Wahlkampf.

Wie können wir aber heute – Irrtümer immer vorbehalten – unsere Welt verstehen und die wahrscheinliche Entwicklung der kommenden Jahre und Jahrzehnte im Auge behalten? Fünf Selbstverständlichkeiten will ich hier kurz benennen.

Erstens: Das Weltklima wird sich deutlich erwärmen, wie immer wir den von Menschen verursachten Anteil an dieser Entwicklung unter Kontrolle bringen können. Der notwendige Umbau unserer Wirtschafts- und Energieversorgung wird erhebliche Investitionen bei uns und Transferleistungen an besonders betroffene, arme Regionen der Erde erfordern.  Zweitens: Die Alterung unserer industrialisierten Gesellschaften, ihre Kosten für Gesundheitsversorgung, Pflege und längere Rentenzeiten werden die nächsten Generationen finanziell hart treffen. Drittens: Große Schwellenländer werden einem beschleunigten Prozess der Industrialisierung folgen. Neue Märkte für uns bedeuten aber immer auch neue, kostengünstigere Konkurrenz in der globalisierten Wirtschaft. Viertens wissen wir, dass im gesamten Bildungs- und Forschungsbereich spürbare Lücken bestehen, die nicht nur, aber auch finanzielle Ursachen haben. Auch hier geht es also um Investitionen. Und schließlich, fünftens, wird die globalisierte Welt von wachsenden Unsicherheiten gekennzeichnet sein (Migration, Terrorismus, ethnische Konflikte). Auch weltweite Sicherheitsstrategien werden ihren Preis haben.

Geld erfordert immer eine starke Wirtschaft. Nur diese kann das notwendige finanzpolitische Fundament schaffen, kann Beschäftigung, Einkommen und Steuereinnahmen sichern. Und wenn die SPD, wie Sigmar Gabriel fordert, die „Deutungshoheit über die politische Lage“ wiedergewinnen will, dann muss sie von diesen Wirklichkeiten ausgehen. Der Satz: „Gerecht ist, was Arbeit schafft“ ist zwar etwas verkürzt, aber uneingeschränkt gilt: „Ungerecht ist, was zu wenige Arbeitsplätze ermöglicht.“

In der aktuellen Situation wird leider oft übersehen, dass der Strukturwandel, dessen fünf Schwerpunkte ich nur kurz charakterisiert habe, auch ohne die gegenwärtige Wirtschaftskrise unaufhaltsam fortschreitet. Die Internationalisierung des Wettbewerbs ist ein uraltes Thema, aber Umfang und Tempo waren während der letzten 30 Jahre besonders ausgeprägt. Es begann mit der Öffnung Chinas (1978), führte zum Fall der Mauer (1989), zur Kehrtwende Indiens in die Marktwirtschaft (90er Jahre), zur aktuellen sozialen Konsolidierung Lateinamerikas, und so weiter. Alles von elektronischer Datenverarbeitung und Internet getrieben. „Globalisierung“ ist eben das Produkt wachsender Freiheiten, der Bewegung, der Kommunikation, des Handels, schließlich auch der Meinung und des Wortes. Eine freie und friedliche Welt aber trägt ihre Konkurrenz wirtschaftlich aus: Der Unternehmer wird im Frieden zur Schlüsselfigur.

Insofern ist die gegenwärtige Krise nur der „Brandbeschleuniger des Strukturwandels!“, formulierte kürzlich in einer Verhandlung zur Restrukturierung eines großen Unternehmens ein Verdi-Repräsentant. Und das gilt nicht nur heute, denn Krisen werden unsere Zukunft begleiten. Nicht mehr der Krieg wird folglich der Vater aller Dinge sein (Heraklit), sondern die Krisen werden zur „Mutter“ werden!

Jedem Strukturwandel müssen wir uns stellen. Und zwar nicht mit polemischem Gerede über „Multis“, „Manager“ und „Gier“, sondern mit der Einsicht in unausweichliche Weltmarktbedingungen. Die von Teilen der SPD lange gehätschelte These, es gäbe keine „Sachzwänge“, war immer falsch und sie wird in einer globalisierten Welt von Tag zu Tag unrichtiger: Internationaler Wettbewerb ist ein „Sachzwang“ und lässt sich nur sehr begrenzt „ordnen“. Ihm müssen wir entsprechen.

Wenn es aber richtig ist, dass wir die großen Herausforderungen unserer Zeit nur mit einer starken Wirtschaft bestehen können, und wenn es ebenfalls richtig ist, dass diese im internationalen Wettbewerb einer wachsenden Niedriglohnkonkurrenz gegenüberstehen wird, dann müssen Zahl, Leistungsstärke, Erträge und Eigenkapital der Unternehmen im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit sein. Gesunde Unternehmen sind nicht alles, aber in einer weltoffenen Wirtschaft ist wiederum alles nichts ohne erfolgreiche Unternehmen. Wie man dann die persönlichen (entnommenen) Gewinne von Unternehmern und Managern gerecht verteilt, das kann nur eine Frage zweiter Ordnung sein: Denn Gerechtigkeit als solche backt noch keine Brötchen! Erst die Brötchen, dann ihre Verteilung. Auch an einer gerechteren Verteilung müssen wir allerdings arbeiten.

Wie aber erhalten und bekommen wir genug Unternehmen für Beschäftigung und Steuern? Die vom internationalen Wettbewerb getriebenen Exportunternehmen werden uns, auch einschließlich ihrer unternehmensnahen Dienstleistungen, kaum so viele Arbeitsplätze vorhalten können, wie unsere Volkswirtschaft braucht. Wenn aber der Export es allein nicht leisten kann, dann liegt die Antwort in einer Stärkung der Binnennachfrage. Aber unsere über 150 Jahre gewachsene Angebotsstruktur des Maschinen- und Anlagenbaus kann nicht so einfach auf „Binnennachfrage“ umgestellt werden. Als Produktionsstandort bleiben wir auf absehbare Zeit vornehmlich industrie- und exportorientiert.

Unsere Produktivität schwankt stark


Nun heißt es, wir hätten durch übermäßige Lohnzurückhaltung unsere Wettbewerbsfähigkeit im Export unverhältnismäßig verbessert; man verweist auf unsere Lohnstückkosten; Exportüberschüsse hätten die Binnennachfrage und Beschäftigung angeblich beeinträchtigt. Doch diese Argumentation ist voller Tücken. Unsere Löhne liegen nämlich noch immer deutlich im oberen Drittel der Vergleichsländer, unsere Produktivität schwankt stark (siehe Kurzarbeit). Deswegen wären jetzt und gerade nach der Krise überproportionale Lohnerhöhungen, jedenfalls in allen direkten und indirekten Kostenbereichen der Exportindustrie reines Gift.

Zugleich zeigen wichtige Bereiche der Binnennachfrage große Lücken und diese bieten Beschäftigungspotenzial: von der Energiepolitik bis zur Pflege, von Schulen und Kitas bis zum Ausbau von Hochschulen und Forschung. Diese Aufgabenfelder erschließen sich jedoch nur sehr begrenzt einer Finanzierung aus den privaten Haushaltseinkommen. Könnten trotz unserer wachsenden öffentlichen Verschuldung Staat und Kommunen einspringen? Deutschland ist heute ein Land mit einer vergleichsweise niedrigen Steuerquote und europäisch sogar einer unterdurchschnittlichen Abgabenquote (Steuern und Sozialabgaben addiert). Man kann aber erkennen, dass Länder mit deutlich höheren Steuer- und Abgabenquoten sowohl höhere Beschäftigungsquoten als auch eine niedrigere Staatsverschuldung möglich machen.

Wie „deuten“ wir nun diese Zusammenhänge? Der weltweite Strukturwandel fordert von uns zweierlei: Niedrige Unternehmenssteuern und Absenkungen der Lohnnebenkosten zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen ist die eine Voraussetzung; zugleich müssen wir dennoch den Aufbau von Investitionen und Personal für die öffentlichen, binnenwirtschaftlichen Aufgaben ermöglichen. Das heißt logisch: höhere Steuern. Dies gilt sowohl für Spitzensteuersätze (Verteilungsgerechtigkeit), die natürlich nicht bei 60.000 Euro beginnen dürfen, aber auch für die Mehrwertsteuer (letztere möglichst sozial gestaffelt). Wer mehr Investitionen braucht, muss eben weniger konsumieren! Es gehört für eine SPD-Führung gewiss politischer Mut dazu, die Lage so zu „deuten“. Doch welch anderes Bild entspräche der Wirklichkeit?

Zum Schluss: Kann die SPD für eine solche Strategie Bündnispartner gewinnen? Die so genannte „Machtoption“ mit der „Linken“ ist eine Illusion, nicht nur nach dem Brandenburger Debakel. Die „Linke“ würde niemals (Sarah Wagenknecht als wirtschaftspolitische Sprecherin!) Verständnis für eine so klar unternehmensorientierte SPD-Politik aufbringen. Auch zeigen die aktuellen Erfahrungen, dass die Grünen einer Koalition mit der „Linken“ heute kaum noch folgen würden. Es bleibt nur die FDP, es bliebe die Ampel.

Ich meine, in der FDP steckt neben ihrer heutigen Orientierung noch immer ein starker, rationaler Kern. Ein sozialdemokratisches Konzept, das die Stärke der Unternehmen in den Mittelpunkt stellt, das Umweltschutz, Schulen und Hochschulen finanzierbar macht, das Staatsschulden limitiert und durch Wachstum relativiert, sowie eine liberale Innenpolitik – das wären doch Elemente eines soliden Konzeptes. Dieses könnte sowohl eine Erneuerung der SPD einläuten als auch eine Öffnung zur FDP ermöglichen. Eine Wackelkoalition mit der Linken dagegen wäre – mit Recht! – das Ende der SPD.

Es geht eben nicht um eine kaum definierbare „Mitte“. Es geht um politische Vernunft in einer schwer überschaubaren Weltentwicklung. Die SPD müsste sich allerdings auch auf den Mut der „Godesberger“ besinnen: Es waren ja auch damals zu Anfang nur wenige. Und die wirtschaftspolitischen Reformimpulse sowie der Mut zu ihrer Durchsetzung kamen natürlich in Godesberg wieder von der so genannten „Rechten“ in der Partei. Das war ja immer so, seit Eduard Bernstein. Auf ein Neues! «

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