Deutschland post-Kundus

Der Tankwagen-Angriff in Afghanistan markiert eine Wegmarke. Spätestens jetzt müssen sich die Deutschen klar machen: Es gibt keine deutsche Außenpolitik mehr ohne Sicherheitspolitik. Drücken sich die Parteien um diese Tatsache herum, schaden sie den Interessen unseres Landes und seiner Bürger

Gut möglich, dass man die deutsche Außenpolitik in späteren historischen Betrachtungen einmal in eine Phase prä-Kundus und eine Phase post-Kundus einteilen wird. Der von deutschen ISAF-Truppen geleitete Angriff auf einen entführten Tanklastzug nahe der nordafghanischen Stadt markiert eine Wegmarke, von der an deutsche Außenpolitik nicht mehr wie zuvor debattiert und betrieben werden kann. Denn der Vorfall hat nicht nur die fortgesetzte Unehrlichkeit über deutsche Interessen und die Natur des Einsatzes entlarvt. Er hat vor allem die außenpolitische Realität Deutschlands, die von fast allen politischen Protagonisten entweder aus Naivität, aus zynischem Kalkül oder aus Mutlosigkeit verschwiegen worden ist, ungeschönt offengelegt. Die deutsche Nachkriegsfiktion ist gescheitert: Es gibt keine deutsche Außenpolitik mehr ohne Sicherheitspolitik.

Die Phase der deutschen Autosuggestion ist beendet

Lange Jahrzehnte herrschte behütete Nischengemütlichkeit in Deutschland. Die Sicherheitspolitik im Kalten Krieg war an die Amerikaner delegiert, den eigenen Wehrbeitrag hatte man widerwillig akzeptiert und ansonsten war man verstört, wenn es zur Sache ging (Nachrüstung 1979). Nach der Einheit und dem Rückgewinn der Souveränität kaufte man sich zunächst aus sicherheitspolitischen Fragen heraus (Kuwait-Krieg 1991), fiel dann beim ersten Kampfeinsatz in eine spätpazifistische Sinnkrise (Kosovo 1999) und betäubte schließlich die eigenen Anpassungsschmerzen an die Realität durch selbstgerechtes Besserwissen in einem Krieg, von dem man selbst nicht betroffen war (Irak 2003). Und auch bei Afghanistan hat dieses erprobte Ausblenden der militärischen Aspekte von Außenpolitik zunächst gut funktioniert. Nach Kundus jedoch ist diese Phase der deutschen Autosuggestion beendet – und zwar unabhängig davon, wie dieser Krieg ausgeht, und welches Ergebnis der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages zur Kundus-Affäre erzielen wird.

Das Themengebiet Sicherheitspolitik wird fortan zentraler Dreh- und Angelpunkt der deutschen Außenpolitik sein und damit jenen Stellenwert einnehmen, den es fast überall sonst bereits hat und der ihm auch historisch zukommt. Schließlich ist die vornehmste Aufgabe des Staates die Gewährung der Sicherheit seiner Bürger. Die Regierungsfähigkeit von Parteien wird sich auch daran entscheiden, wie sie diesen Kulturwechsel begleiten, ihn mit Inhalten füllen und dem Wähler erklären. Doch es kommt sogar noch dicker: Mit diesem Paradigmenwechsel wird, ob wir es wollen oder nicht, auch das Militärische wieder zur Kategorie im deutschen außenpolitischen Denken – nicht weil die Deutschen alte Untugenden wiederentdeckten oder die Lust am Heroischen verspürten, sondern weil ihre vitalen Interessen und ihre Verpflichtungen gegenüber anderen in einer Welt voller Risiken dies erforderlich machen. Das deutsche Märchen vom Recht auf militärische Unschuld wegen des moralisch vorbildlich bewältigten Holocausts ist vorbei.

Schon heute steht Sicherheit im Zentrum der Agenda


Wer bisher geglaubt oder gehofft hatte, dass Sicherheitspolitik ein separat zu behandelnder Sonderfall deutscher Politik sein könnte, der muss sich nur die internationale Lage ansehen, um zu verstehen, wie sehr Sicherheit bereits jetzt im Zentrum der Agenda steht. Die nächsten Integrationsschritte der EU zielen vor allem auf die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Die Nato gibt sich derzeit ein neues strategisches Konzept, in dem die Sicherheit der Zukunft, inklusive „Cyber War“, gedacht wird. Im Verhältnis zu Russland wird man Antworten auf neo-imperiale Anwandlungen Moskaus und dessen Vorschläge zu einer neuen Sicherheitsarchitektur für Europa finden müssen. Künftige EU-Beitrittsrunden auf dem Westbalkan und in der Türkei werden ganz wesentlich von sicherheitspolitischen und strategischen Erwägungen geprägt sein. Die Sicherheitsaspekte von Energiepolitik sind in der Ukraine, in Polen und im Nahen Osten, in Asien und in Lateinamerika augenfällig. Klimapolitik hat enge sicherheitspolitische Bezüge, nicht nur aufgrund der damit verbundenen Energiefragen, sondern auch wegen der destabilisierenden Kraft globaler Klimaveränderungen und der daraus folgenden Flüchtlingsströme und Ressourcenkonflikte. Failed states und Piraterie bedrohen den Wohlstand exportorientierter Länder wie Deutschland. Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Atomprogrammen gefährden Deutschland und seine Partner, allen voran Israel, für das Kanzlerin Merkel sogar eine Sicherheitsgarantie abgegeben hat. Und nicht zuletzt sind Fragen der inneren Sicherheit sowie von Einwanderung und Integration aufs engste mit sicherheitspolitischen Erwägungen verbunden. Kaum eine politische Arena, in der Sicherheitspolitik nicht bereits jetzt eine zentrale Rolle spielt. In der deutschen Debatte hingegen wird das strategische Großthema Sicherheit behandelt, als wäre die bloße Befassung damit ein archaischer Rückfall ins Ewiggestrige.

Eine Folge dieser intellektuellen Verweigerung ist eine größer werdende Kluft zwischen Ressourcen und Anforderungen. Einerseits steigen die sicherheitspolitischen und militärischen Anforderungen an Deutschland aufgrund eigener Interessen, der Fortentwicklung von EU und Nato und der relativen Schwäche des bisherigen Stabilitätsdienstleisters USA. Andererseits gibt es in einer katastrophalen Haushaltslage kaum mehr Geld, vor allem aber nur wenig politischen Willen, diesen Bedarf auch zu decken. Nun rächt sich, dass alle Parteien wider besseres Wissen und aus politischem Opportunismus die Wählerschaft im Unklaren gelassen haben und deshalb über kaum politisches Kapital verfügen, um unangenehme Wahrheiten zu vermitteln.

In einer sicherheitspolitisch geprägten Außenpolitik wird den Parteien post-Kundus viel abverlangt. Sie müssen sich bisher ignorierte Wahrheiten eingestehen, intellektuelle Ressourcen in ein ungeliebtes Thema investieren und sichtbare Führerschaft gegenüber einer skeptischen Öffentlichkeit ausüben. Tun sie es nicht, werden sie zuhause und im Ausland unglaubwürdig, verspielen Vertrauen und die Politikfähigkeit Deutschlands – und schaden den spezifischen Interessen unseres Landes und seiner Bevölkerung. «

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