Die Berliner Republik - eine politische Ortsveränderung
Als der Zeitpunkt des Umzugs dann heranrückte, schien der Begriff feuilletonistisch eingehegt, glattgeschliffen und auf bundesdeutsches Normalmaß herabgestutzt zu sein. Die politische Klasse – hier spreche ich aus eigener, leidvoller Erfahrung – kämpfte um Büroquadratmeter, Geschossflächenzahl und die Reihenfolge von Grundsteinlegungen. Der Bonner Mikrokosmos setzte zur Landung in der Berliner Mitte an.
Doch die fiel für manchen Beteiligten recht unsanft aus. Es gehört zu den erstaunlichen Koinzidenzen der jüngeren deutschen Geschichte, dass der Zeitpunkt des Berlin-Umzuges faktisch zusammenfiel mit dem militärischen Engagement der Bundeswehr im Kosovo. Spätestens da war klar, dass Deutschland nicht länger abseits stehen kann, sondern weltweit neue Verantwortung übernehmen muss.
Damit bekam der Begriff „Berliner Republik“ jenseits des Feuilletons seine erste inhaltliche Konkretion: Er stand für ein Deutschland, das in bündnistreuer Solidarität Ja sagen konnte – und daraus, wie die Folgezeit zeigte, auch die Kraft zog, dort Nein zu sagen, wo es die Verantwortung gebot.
Derzeit erleben wir, wie die außenpolitische Dimension des Begriffs ergänzt wird durch eine zweite, gesellschaftspolitische Dimension. Wenn sich der Vorsitzende der Katholischen Bischofskonferenz, Kardinal Lehmann, im Einklang mit seinem evangelischen Amtskollegen, Bischof Wolfgang Huber, hinter die Agenda der Bundesregierung stellt, den Anfang der neunziger Jahre in Skandinavien und den Niederlanden unternommenen Umbau des Sozialstaates zugunsten von Forschung, Bildung und Familie zum Vorbild erklärt und mit Blick auf das Kohl-Deutsch-land von verpassten Chancen spricht, dann spürt man, dass in unserer Gesellschaft eine Selbstvergewisserung und Neubestimmung im Gange ist.
Gerade die Äußerungen von Kardinal Lehmann und Bischof Huber zeigen, dass wir es hier nicht, wie manchmal unterstellt, mit einer neoliberalen Zuckung des Zeitgeistes zu tun haben, sondern mit der ebenso notwendigen wie richtigen Reorganisation des Wohlfahrtsstaates im Angesicht von Globalisierung und demografischem Wandel.
Bei dieser Achsenverschiebung geht es im Kern um einen neuen Politik-Ansatz, der – gegen die Gesetze politischer Schwerkraft – der Zukunft gegenüber der Gegenwart zu ihrem Recht verhilft.
Die Berliner Variante des „deutschen Modells“
Deswegen bauen wir Ganztagsschulen und Kinderbetreuungseinrichtungen. Deswegen kämpfen wir für einen Abbau der Eigenheimzulage zugunsten von Bildung und Forschung. Deswegen bauen wir gemeinsam mit der Wirtschaft eine Innovationspartnerschaft auf. Deswegen bereiten wir uns jetzt schon auf eine Zukunft vor, die mit immer weniger fossilen Brennstoffen auskommen muss. Und deswegen kämpfen wir gegen Ausgrenzung und für Bildungschancen für alle und eine bessere Vermittlung in den Arbeitsmarkt.
Wenn wir mit dieser Art von Zukunftspolitik erfolgreich sind, dann wird die Berliner Variante des „deutschen Modells“ in Europa neue Strahlkraft entfalten. Dann kann das, was die Stärke Deutschlands ausmacht: gut ausgebildete Arbeitnehmer, innovative, wettbewerbsfähige Unternehmen, ein leistungsfähiger Sozialstaat, Mitbestimmung und die Betonung der gesellschaftlichen Verantwortung der Wirtschaft, wieder Leitbild werden. Und dann kann die „Berliner Republik“ Teil des „europäischen Traums“ werden, den der Amerikaner Jeremy Rifkin ebenso lockend wie herausfordernd beschrieben hat.
Die Zeitschrift Berliner Republik hat die von mir beschriebene Neubestimmung deutscher Politik von Anfang an zu ihrer Sache gemacht, mit wichtigen Impulsen befruchtet und vorangetrieben. Ich hoffe auch in Zukunft auf Beiträge, die mit analytischer Schärfe und einem Herz für die Lebenswirklichkeit der Menschen in die politische Debatte eingreifen – und wünsche der Berliner Republik einen großen Kreis aufmerksamer und kritischer Leser.