Die Brückenbauerin
Um in Sudha David-Wilps Lieblingslokal zu gelangen, müssen wir am Nordufer der Spree, unweit des Ostbahnhofs, durch einen Bretterzaun steigen. „Mich hat mal ein Taxifahrer gefragt, ob das hier eine Müllkippe sei“, lacht Sudha.
Dort, wo einst die legendäre Bar25 war, entsteht seit 2015 der „Holzmarkt“. Die gleichnamige Genossenschaft hat sich zum Ziel gesetzt, einen Ort für Kreative zu schaffen, samt Eventräumen, Tonstudios und sogar einer Kita – eine Alternative zum umstrittenen Hochglanz-Investmentprojekt „Mediaspree“.
Zum Holzmarkt gehört der Techno Club Kater Blau und das FAME Katerschmaus. „Spätestens seitdem die New York Times von dem Restaurant berichtet hat, ist das FAME kein Geheimtipp mehr“, erklärt mir die Amerikanerin. Wir haben reserviert, da es sonst abends schwierig ist, einen Platz zu bekommen. In der Mittagszeit sei es entspannter, meint Sudha. Dann säßen hier Studenten neben Bauarbeitern beim günstigen Mittagstisch.
Wir setzen uns ans Spreeufer. Sudha erklärt mir, warum sie gern zum Speisen herkommt. „Es erinnert mich an das Berlin der neunziger Jahre.“ Damals war die Stadt noch im Umbruch, einerseits deprimierend, aber zugleich unglaublich frei und cool. Nun sei Berlin als Hauptstadt angekommen. „Aber immer noch ohne Flughafen“, scherzt sie.
Wir bestellen einen Aperitif. Der Whiskey Sour wird klassisch mit frischem Eiweiß serviert. Sudha kam als Stipendiatin der Robert Bosch Stiftung nach Deutschland. Bei ihrer Arbeit als Journalistin lernte sie ihren späteren Mann kennen. 2003 zog das Paar in die USA. Ein guter Zeitpunkt, meint Sudha. Zur Zeit des Irak-Kriegs habe in Deutschland jeder Taxifahrer eine Grundsatzdiskussion über Amerika beginnen wollen.
Ihre Berlin-Erfahrung half der Politologin, im US-Kongress Fuß zu fassen. Dort war sie für internationale Programme verantwortlich und organisierte Besuche für deutsche Politiker wie Sigmar Gabriel und Karl Theodor zu Guttenberg. Vor 2005 sei es schwierig gewesen, amerikanische Politiker für Deutschland zu interessieren, sagt Sudha. Das habe sich grundlegend verändert. In den USA gelte Deutschland mittlerweile als Vorbild für hochmoderne Industrien und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Dass sich die deutsche Wirtschaft nach der globalen Krise 2009 so schnell erholt hat, habe der Bundesrepublik Respekt verschafft. Selbst die Erfolge der Nationalmannschaft würden im zunehmend fußballbegeisterten Amerika wahrgenommen. Insgesamt habe das Interesse an Deutschland deutlich zugenommen, freut sich die überzeugte Transatlantikerin.
Vor fünf Jahren ist Sudha mit ihrer Familie nach Berlin zurückgekehrt. Ihre beiden Kinder gehen hier zur Schule und wachsen zweisprachig auf, sie selbst wechselt im Gespräch zwischen Ostküstenenglisch und Deutsch mit leicht amerikanischem Akzent.
Unsere bestellten Rinderfilets kommen. Die Beilagen werden in kleinen Schalen serviert. Das soll das Teilen der Speisen am Tisch erleichtern, erläutert die Kellnerin. Wir kommen auf den Bundestag zu sprechen. Nun stellt Sudha einige Fragen und erkundigt sich nach verschiedenen Abgeordneten. Schnell stellt sich heraus, dass sie viel besser informiert ist als ich und die Wahlkreise und Ausschussarbeit der Abgeordneten bis ins Detail kennt. Kaum ein anderer Amerikaner dürfte so gut in allen Fraktionen des Bundestages vernetzt sein wie sie.
Kein Wunder, als Stellvertretende Direktorin des German Marshall Fund of the United States in Berlin (GMF) und „Senior Transatlantic Fellow“ gehört es zu Sudhas Aufgaben, Politiker international zu vernetzen. Bei unserem Gespräch berichtet sie von zahlreichen Begegnungen. Besonders amüsiert habe sie eine Veranstaltung, bei der konservative Tea Party-Politiker sich bestens mit den Abgeordneten der Grünen verstanden hätten.
Seit nun fast zwei Jahrzehnten bringt Sudha Führungskräfte und Entscheider aus Europa und Amerika zusammen – und baut damit buchstäblich Brücken über den Atlantik. Damit erfüllt sie eine der Missionen ihres Arbeitsgebers. Das Gründungskapital für den GMF wurde auf Initiative von Willy Brandt von der Bundesregierung gestiftet, um den 25. Jahrestag des Marshall-Plans zu würdigen, der nach dem Krieg einen entscheidenden Beitrag zum Wiederaufbau Deutschlands geleistet hatte. Der GMF versteht sich als Think Tank mit dem Ziel, die transatlantischen Beziehungen zu stärken und zu einem freien, friedlichen und ungeteilten Europa beizutragen.
Ich frage, wie sich die Politikberatung in den USA und Europa unterscheide. Die Entwicklung der einstmals schwach ausgeprägten Think Tank-Szene in Berlin findet Sudha bemerkenswert. Die Denkfabriken würden immer vielfältiger, schlagkräftiger und einflussreicher, gerade junge Berliner Think Tanks brächten neue Ideen in die Politik. Jedoch wünscht sich Sudha eine stärkere personelle Rotation zwischen Politikberatung und Politik, wie es in Washington üblich ist.
Mario, einer der Mitgründer des Holzmarkts, ist gut mit Sudha bekannt und gesellt sich zu uns an den Tisch. Er klärt uns zunächst über ein Missverständnis auf: Der Restaurantname „FAME“ bedeutet übersetzt nicht „Ruhm“, sondern ist vom italienischen Wort für „Hunger“ inspiriert. „Denn wer gut feiert, muss auch gut essen“, sagt Mario. Aber nicht nur partyhungrige Berliner, auch der amerikanische Botschafter und Klaus Wowereit kämen gern hierher. Berlins Kulturstaatssekretär Tim Renner habe im Holzmarkt sogar seinen 50. Geburtstag gefeiert.
Wir gehen mit Mario auf eine kleine Zeitreise durch Berlins Entwicklungsstufen: In den späten siebziger und achtziger Jahren habe der Westteil der Stadt für Freiraum gestanden und Künstler wie David Bowie angezogen. Nach dem Mauerfall gab es zunächst einen gewaltigen Aufbruch, dem schnell eine Ermüdungsphase folgte. Doch um die Jahrtausendwende begann Berlins kosmopolitische Ära, die Stadt zog plötzlich Menschen aus aller Welt an. Dass Berlin inzwischen nicht mehr so arm, aber vielleicht auch weniger sexy ist, sieht Mario gelassen. Er schwärmt von der „Magie der Veränderung“ und zitiert Goethes Faust: „Alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht.“
Der Kaffee wird gebracht, im Hintergrund legt ein DJ Lounge Musik auf. Mario zieht weiter, und wir kommen zurück auf unser Gespräch über die Unterschiede zwischen dem politischen Berlin und Washington. In Deutschland stecke viel weniger Geld in der Politik, sagt Sudha, „und das ist auch gut so“. Denn der ständige Druck, Spenden einzutreiben, raube amerikanischen Politikern die Zeit für das Wesentliche. Andererseits bewertet Sudha die starke Versäulung der deutschen Politik kritisch. Anders als in Washington mangele es an Durchlässigkeit zwischen Politik, Wissenschaft und Beratung.
Natürlich können wir das Gespräch nicht beenden, ohne auf den Präsidentschaftswahlkampf in den Vereinigten Staaten zu kommen. „Noch nie hat es ein Rennen zwischen zwei Kandidaten gegeben, die in der Bevölkerung so unbeliebt sind“, sagt Sudha. Die amerikanischen Wahlen seien zwar immer voller Dramatik, es werde auch regelmäßig mit schmutzigen Tricks gearbeitet. Aber das Niveau des politischen Diskurses habe mittlerweile den Tiefpunkt an populistischer Rhetorik erreicht. Sudhas Hoffnung ist, dass beide Parteien nach der Wahl wieder pragmatischer und lösungsorientierter agieren werden.
Ihre eigene Rolle sieht Sudha weiterhin hinter den Kulissen. Die Amerikanerin schließt aber nicht aus, sich selbst einmal um ein politisches Amt zu bewerben, wenn sie mit ihrer Familie ins heimatliche Hudson Valley zurückkehren sollte. Bis dahin ist sie mit ihrer Aufgabe als transatlantische Brückenbauerin sehr zufrieden.