Europa allein zu Haus
Anne Applebaums Albtraum ist Realität geworden. Die amerikanisch-polnische Historikerin hatte im März dieses Jahres einen viel beachteten Artikel in der Washington Post veröffentlicht. Darin äußerte sie die Sorge, wir seien nur „zwei oder drei schlechte Wahlausgänge vom Ende der Nato, der Europäischen Union und möglicherweise der liberalen Weltordnung, wie wir sie kennen, entfernt“. Applebaum bezog sich auf das Brexit-Referendum sowie die amerikanischen und französischen Präsidentschaftswahlen. Sie warnte, dass im Weißen Haus bald ein Mann regieren könnte, den es nicht weiter scheren würde, was seine Vorgänger im Amt – Obama, Bush, Clinton und Reagan – als „unsere gemeinsamen Werte“ erachteten.
Die transaktionale Präsidentschaft
Donald Trumps Wahl markiert eine Zäsur. Denn ungeachtet aller Regierungswechsel auf beiden Seiten des Atlantiks hatte die transatlantische Partnerschaft über Jahrzehnte Bestand. Diese Partnerschaft basierte auf dem Grundkonsens, dass sich Freiheit, Wohlstand und Frieden am besten durch freien Austausch, durch gemeinsame Verteidigung und den Ausbau multilateraler Institutionen sichern lassen. Allen praktischen Problemen und regelmäßigen Krisen zum Trotz haben Europa und Amerika ihre gemeinsamen langfristigen Ziele stets gemeinsam verfolgt – zuletzt etwa aus Anlass der Aggression Russlands gegen die Ukraine, beim Klimaabkommen von Paris und in den Bemühungen um ein transatlantisches Handelsabkommen.
Alle diese Prinzipien und Errungenschaften werden jetzt von einem zukünftigen Präsidenten bedroht, der kurzfristige „transaktionale“ Interessen absolut stellt. In der wohl schmutzigsten Kampagne der Geschichte der Vereinigten Staaten machte der Geschäftsmann Trump keinen Hehl daraus, dass er die Werte der westlichen Gemeinschaft verachtet. Im Wahlkampf drohte Trump, seine Konkurrentin ins Gefängnis zu bringen. Er verhöhnte Behinderte, Muslime und Frauen und kündigte die Massendeportation von Mexikanern an, die er pauschal als „Vergewaltiger“ diffamierte. Die Allianz mit Europa und die Sicherheitsgarantien der Nato (die er für ohnehin obsolet hält) sind nicht Bestandteil des Trumpschen Kalküls. Konflikte in Übersee sind in den Worten Trumps prinzipiell „keine amerikanischen Opfer wert“.
Von ein paar geradezu zurückhaltend anmutenden Auftritten Trumps nach der Wahl sollte sich niemand täuschen lassen. Es gibt wenig Grund zur Annahme, dass ein über alle Maßen narzisstischer 70-Jähriger im Siegesrausch nun plötzlich geläutert und demütig wird. Man tut gut daran, sich Max Frischs Parabel Biedermann und die Brandstifter vor Augen zu führen, in der geschrieben steht: „Scherz ist die drittbeste Tarnung. Die zweitbeste: Sentimentalität. Aber die beste und sicherste Tarnung ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit. Die glaubt niemand.“ Dass Trump seinem radikalen Populismus treu bleiben wird, zeigt auch eine seiner ersten Personalentscheidungen: Trumps Chefstratege im Weißen Haus wird Steve Bannon. Dieser hat bisher über die rechtspopulistische Webseite „Breitbart News“ weißen Nationalismus, Antisemitismus und Verschwörungstheorien verbreitet. Bald soll es auch einen deutschen Ableger geben.
Trump ist dünnhäutig und rachsüchtig. Das führt dazu, dass er regelmäßig die Beherrschung verliert – ein beängstigender Umstand angesichts der vielen Enttäuschungen, Rückschläge und Krisen, die das mächtigste Amt der Welt mit sich bringt. Auch die von Trump geschürten, aber schier unerfüllbaren Erwartungen tragen zu seiner Unberechenbarkeit bei. Unter dem Slogan „Make America Great Again“ versprach Trump im Wahlkampf eine Verdoppelung des Wachstums, massenweise gute Jobs und die drastische Senkung der Kriminalität. Ähnlich wie Wladimir Putin könnte er versucht sein, von wirtschaftlicher Erfolglosigkeit abzulenken, indem er auf aggressiven Nationalismus und die Benennung von Sündenböcken setzt.
Folter und Flächenbombardements
Amerikas starke demokratische Kultur kann freilich einiges aushalten. Bill Clinton prägte den Satz: „In Amerika geschieht nichts, was so schlecht ist, dass es nicht dadurch geheilt werden kann, was Gutes in Amerika steckt.“ So ist die amerikanische Verfassung über Kriege und Krisen hinweg eine Versicherungspolice gegen Radikalismus gewesen. Auch wenn die Republikaner nun sowohl Exekutive, Legislative und bald auch das Verfassungsgericht kontrollieren werden: Aufgrund ihrer checks and balances hat sich die amerikanische Verfassung in den vergangenen 227 Jahren als äußerst widerstandsfähig bewiesen.
Diese Kontrollmechanismen sind in der Außenpolitik allerdings nur schwach ausgeprägt. In diesem Bereich verfügt der Präsident der Vereinigten Staaten über weitreichenden Gestaltungsspielraum. Dort wird Trump weniger Kompromisse eingehen müssen als etwa bei der Wirtschafts- und Einwanderungspolitik. Und während sich Trump in vielen politischen Positionen sehr flexibel gezeigt hat – neuerdings etwa mit Blick auf Obamas Gesundheitsreform – sind seine außenpolitischen Positionen konstant geblieben.
Vor 16 Jahren erschien Trumps Buch The America We Deserve. Seiner „America First“-Ideologie ist Trump im Wahlkampf stets treu geblieben. Wenn er sie durchsetzt, bedeutet das nicht weniger als den Abschied von der Pax Americana, also das Ende des Willens und der Fähigkeit der Vereinigten Staaten, weltweit Verantwortung zu übernehmen.
Denn Trump ist ausdrücklich ein Isolationist – will aber, wenn er dann doch zuschlägt, keine Rücksicht auf Kollateralschäden nehmen. Der Terrormiliz Daesh/IS möchte er mit Flächenbombardements begegnen. Auch die Folter an Gefangenen will Trump wiedereinführen. Und wenn es nach ihm geht, sollen künftig auch die Familien von Terroristen gezielt umgebracht werden. Ein Berater berichtete sogar, dass Trump mehrfach fragte, warum die USA nicht einfach ihr Nuklearwaffenarsenal einsetze.
Zu Wladimir Putin unterhält Trump ein „großartiges Verhältnis“, mit ihm könne man sicherlich „Deals“ machen. Sogar die völkerrechtswidrige Annexion der Krim hält Trump für akzeptabel. Die Folge: Die Vereinigten Staaten werden kein Gegengewicht mehr zu Putins Aggression bilden.
Trump im Westen, Putin im Osten
Trump macht keinen Hehl daraus, dass er die Stärke des russischen Präsidenten bewundert. Die amerikanischen Sicherheitsbehörden vermuten, dass hinter dem Datenleck, das Hillary Clintons Wahlkampf schadete, russische Geheimdienste stecken. Dies hat Trump nicht daran gehindert, in aller Öffentlichkeit mehr russische Hacks gegen Clinton zu fordern. Im Syrien-Krieg redet Trump der Kreml-Propaganda nach dem Mund. Die kriegsverbrecherischen Bombardements der russischen Luftwaffe, die regelmäßig zivile Opfer fordern, rechtfertigt der angehende Präsident damit, dass diese dem Kampf gegen den IS dienen würden. Eine Flugverbotszone, wie sie Clinton fordert, hätte Trump zufolge das Potenzial, einen dritten Weltkrieg auszulösen. Ähnliches verlautbart die Presse des Kremls regelmäßig.
Die Entscheidung der US-Wahl fiel auf den Schicksalstag der Deutschen, den 9. November. In der Tat bedeutet die Wahl auch für uns eine Zäsur: Deutschland wird wesentlich mehr Verantwortung für die Aufrechterhaltung liberaler Werte in der Welt übernehmen müssen. Denn mit Putin im Osten und Trump im Westen sowie einer Reihe weiterer Autokraten wie Erdogan, Orbán und Duterte wird die Zahl der Unterstützer rar. Im Guardian rief der Historiker Timothy Garton Ash die Bundeskanzlerin gar zum neuen „leader of the free world“ aus, nachdem sie ihre Zusammenarbeit mit Trump an die Beachtung westlicher Werte gebunden hatte. Die New York Times und Haaretz äußerten sich ähnlich. Dies mag zu hoch gegriffen sein, aber in einer Reihe von Konfliktherden wird es nun wesentlich mehr an Deutschland und Europa liegen, ob die großen Fragen unserer Zeit im Rahmen von Mehrheitsbeschlüssen entschieden werden.
Heute die USA, morgen Frankreich?
Trump ließ bisher ausdrücklich offen, ob die Vereinigten Staaten unter seiner Führung weiter an der Seite ihrer Nato-Vertragspartner stehen. Die Stärke der Nato, gemeinsam kämpfen zu können, gerade um nicht kämpfen zu müssen, wurde mit dieser Ankündigung sogleich schwer untergraben. Die europäischen Staaten werden in schlagkräftigere Verteidigung investieren müssen, wenn die USA als Schutzmacht nicht mehr verlässlich sind. Vor allem die mittelosteuropäischen Staaten müssen vor Russlands hybrider Kriegsführung geschützt werden, die aus Cyberangriffen, Propaganda, verdeckten Operationen und offenen Konflikten besteht. Deutschland muss den Weg fortsetzen, mehr Verantwortung für Europas Sicherheit zu übernehmen. Die deutliche Aufstockung des Wehretats um rund zehn Milliarden Euro in den nächsten vier Jahren hat bereits eine Trendwende eingeläutet. Und bereits jetzt sichert die Luftwaffe den estnischen Luftraum. Die Bundeswehr plant zudem, ein Bataillon nach Litauen zu entsenden.
Allein wird Deutschland die Lücke jedoch nicht schließen können, dies kann nur Europa leisten. Mit dem Brexit eröffnet sich zumindest die Chance, mit Frankreich die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik voranzutreiben, was von Großbritannien lange Zeit ausgebremst wurde. Europa ist derzeit nur bedingt abwehrfähig, da die EU-Staaten ihre Streitkräfte bislang kaum aufeinander abgestimmt haben und es an gemeinsamer Steuerung mangelt. „Pooling and sharing“ könnte die Effizienz und Effektivität der europäischen Verteidigung erheblich steigern.
Ob dies möglich ist, wird sich auch mit der Wahl in Frankreich entscheiden. Siegt Le Pens Nationale Front, ist ein Austritt Frankreichs aus der EU nicht unwahrscheinlich. Dies käme dem Todesstoß für die Europäische Union gleich. Marine Le Pen twitterte nach Trumps Wahlsieg: „Heute die USA, morgen Frankreich.“ Noch halten die Demoskopen einen Wahlsieg des Front National für äußerst unwahrscheinlich. Aber am 8. November machte sich auch noch niemand ernsthafte Sorgen darüber, dass sich Anne Applebaums Albtraum bewahrheiten könnte.