Die defekte Industrie der Wohlfahrt
Die linken „Sozialstaatsparteien“ haben, trotz der tiefen Legitimationskrise des neoliberalen Denkens, auch nach 2008 mehr Wahlen verloren als gewonnen. Die Austeritätspolitik der kommenden Jahre wird die Frage nach dem Verhältnis von laufenden Ausgaben, zu bedienenden Schulden und investiven Zukunftsausgaben in den Staatshaushalten weiter verschärfen. Damit verbunden sein wird eine Debatte über die Ausformung und Finanzierung sozialstaatlicher Leistungen in Europa. Es wird nicht um den Sozialstaat als solchen gehen; diese Debatte haben die Verfechter des Neoliberalismus zumindest in Europa aufgrund erwiesener Erfolglosigkeit abgebrochen. Sondern es wird darum gehen, wie groß und effizient der Sozialstaat in Zukunft wird und wer ihn bezahlt. Und an dieser Stelle besteht durchaus Gesprächsbedarf: Die tiefe Verankerung des Sozialstaats in den europäischen Gesellschaften enthebt die politische Linke nicht von der Verantwortung, für sein effizientes Funktionieren zu sorgen und die demokratische Kontrollierbarkeit eines von der Masse der Bevölkerung finanzierten Systems zu garantieren.
Bei aller fortbestehenden Zustimmung zum Sozialstaatsprinzip sollte dabei nicht übersehen werden, dass sich die Geschäftsgrundlagen für „solidarische“ Politik in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten erheblich verändert haben. Zum einen sind die Gesellschaften heterogener und individualistischer geworden. Damit haben sich wesentliche Voraussetzungen für funktionierende Sozialstaatlichkeit verändert. Diese basiert auf Prämissen, die keineswegs selbstverständlich sind, wie ein Blick in andere Teile der Erde zeigt: eine gewisse sozio-kulturelle Homogenität, die es den Menschen erlaubt, sich in den anderen Gesellschaftsmitgliedern wiederzuerkennen; eine Gewissheit, dass Hilfe auf Gegenseitigkeit beruht und temporär beschränkt ist; ein Bewusstsein kollektiver Identität, sei sie national oder sozial. All dies ist den letzten Jahrzehnten ideologischer und sozialer Individualisierung, wachsender ethnischer, kultureller und religiöser Diversität und der Verhärtung struktureller Massenarbeitslosigkeit ins Rutschen geraten.
Die Leute fragen: „Was habe ich davon?“
Selbst für junge Gewerkschafter, so das Ergebnis einer kürzlich in der Zeitschrift Mitbestimmung vorgestellten Studie, die im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung entstand, ist „Solidarität“ nicht mehr bedingungslos. Auch für diese Gruppe muss gesellschaftliche Solidarität heute „durch das Nadelöhr der Subjektivität“, also des persönlichen Nutzens. Und genau dies – der individuelle Nutzen für den Beitragszahler – steht zunehmend in Frage. Zugleich wachsen in den Mittelschichten Abstiegs- und Statusängste und die Sorge, wie es der amerikanische Soziologe Richard Sennett formuliert, „von ungerechtfertigten Ansprüchen ausgesaugt zu werden“.
Zum anderen hat sich die Finanzierungsbasis des Sozialstaats in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verengt. Sie ruht – zumal in Deutschland – immer stärker auf den Schultern der Durchschnittsarbeitnehmer. In Deutschland hat dies zu einer massiven Schrumpfung der Nettolohnquote geführt. Lag diese laut dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) im Jahr 1980 noch bei 53 Prozent des Volkseinkommens, ist sie mittlerweile auf 39 Prozent zusammengeschnurrt. Mehr noch als die Verschiebung der Primärverteilung macht sich hier der Zugriff des Staates und der Sozialversicherungen bemerkbar: Die Bruttolohnquote schrumpfte seit Anfang der achtziger Jahre um knapp 10 Prozent, die Nettolohnquote dagegen um 13,3 Prozent (während die direkte Besteuerung von Gewinn- und Vermögenseinkommen im selben Zeitraum von 15,3 auf 8,8 Prozent fiel).
Parallel führte die Entstehung verhärteter Sozialtransfermilieus zu einer tendenziellen Spaltung der Gesellschaft in Leistungsbezieher und -bezahler, die das Prinzip der Reziprozität untergräbt. Verschiedene Sozialstaatsreformen der vergangenen Jahre haben – oft genug unter sozialdemokratischer Prämisse – die Ansprüche der Bezahler relativiert und jene von Nicht-Bezahlern im Namen universalistischer Sozialstaatsprinzipien gestärkt. Die von der neoliberalen Umverteilung von unten nach oben ohnehin gebeutelten Durchschnittsarbeitnehmer werden bei diesem Spiel nicht gut gestellt. „Ausgerechnet diejenigen, für die das System der Solidarversicherungen einst erfunden wurde, sind heute die Geprellten“, schreibt Michael Sauga in seinem Buch Wer arbeitet, ist der Dumme.
Der Sozialstaat wächst, die Armut auch
Zudem hat ein permanenter mission creep die Wahrnehmung der Legitimität des Sozialstaats verändert. Seit Jahrzehnten steigen in den meisten Ländern Europas – trotz stetig wachsender Produktion und Produktivität – die Sozialausgaben. Eigentlich paradox: Die Gesellschaften werden – individuell und kollektiv – immer reicher, der Sozialstaat wird immer größer, aber der Armut will dennoch kein Ende sein. Natürlich ist Armut immer ein relativer Begriff. Dennoch erstaunt, dass der Armutsbegriff (und damit der Unterstützungsbedarf) in Europa so gänzlich entkoppelt von konkreten materiellen Deprivationssituationen ist. Im Gegenteil definiert sich Armut in Europa statistisch: Als arm gelten Menschen, deren Nettoäquivalenzeinkommen weniger als 60 Prozent des Mittelwertes (Median) aller Personen beträgt. Würde sich, durch welches ökonomische Wunder auch immer, das Einkommen aller Menschen in Europa verdoppeln, so wären demnach immer noch genauso viele Menschen „arm“ wie vorher.
Vor dem Hintergrund dieser permanenten, mittels Produktivitätswachstum nicht abzuschaffenden Armut ist ein Teil des stupenden Wachstums der „Wohlfahrtsindustrie“ zu sehen (ein wesentlicher weiterer Teil ist schlicht dem Altern der Gesellschaft geschuldet). In einem der reichsten Länder der Welt ist sie mit jährlich 115 Milliarden Euro Umsatz zur größten Branche der Volkswirtschaft herangewachsen, mit mehr Beschäftigten als in der Automobilindustrie, Stahlindustrie, Stromwirtschaft, Fischereiwirtschaft, im Bergbau, Schiff- und Flugzeugbau und im Bauhauptgewerbe zusammen.
Ein System wie ein Alptraum
Die Privatisierungstendenzen in den Sozialstaatsstrukturen Europas (man dankt in diesem Zusammenhang auch dem „Dritten Weg“ und seinen Spielarten) haben geradezu atemberaubend dysfunktionale Anreizstrukturen geschaffen. Allein in Berlin tummeln sich mittlerweile 10.000 freie Wohlfahrtsträger aller Art, für die jeder nicht mehr Hilfsbedürftige eine erloschene business opportunity ist. Es ist ein System wie ein Luhmannscher Alptraum, dessen Überleben und Wachstum davon abhängt, immer neu und immer wieder Bedürftigkeiten und Notlagen zu konstruieren – und dann keinesfalls ernsthaft zu beseitigen. Längst versichern soziale Sicherungssysteme nicht mehr nur gegen Schicksalhaftes und biologisch Unabänderliches. Vielmehr sozialisieren sie in vieler Hinsicht die Folgekosten subjektiver Livestyle-Entscheidungen – ob Risikosport, Kettenrauchen oder Einwanderungswunsch. Die demokratische Kontrolle dieses Systems, von der Bundesebene bis auf die Ebene der Gemeinden, scheint schwierig zu sein, was angesichts der schieren Verdrängungsmasse der gebundenen Interessen wenig überraschend ist. Der Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky spricht von einem „sich selbst erfüllenden System, ein Perpetuum Mobile der Staatsknete“, das für seinen Bezirk ruinöse Folgen hat.
Beitragsleistung muss sich lohnen
Mit diesen Entwicklungen müssen sich Sozialdemokraten und andere Verfechter der Sozialstaatsidee auseinandersetzen. Dysfunktionale Sozialstaatsstrukturen und empfundene Ausbeutung durch Abgaben bleiben in der Wahlkabine gerade und zuerst an ihnen hängen. Und sie erleichtern denjenigen das Geschäft, die das System prinzipiell in Frage stellen wollen. Die Linke muss ihren Sozialstaatsdiskurs von einer Soli-Rhetorik befreien, die von den gesellschaftlichen Realitäten längst überholt wurde, und die „ermöglichende“, individuelle Freiheit und Schutz vor Schicksalsschlägen bietende Dimension des Sozialversicherungsgedankens wieder betonen. Sie muss dafür sorgen, dass „Leistungsanerkennung“ wieder zu einem bestimmenden Funktionsmerkmal der sozialen
Sicherungssysteme wird und dass Sozialstaatsleistungen wieder stärker gekoppelt werden an die erbrachten Vorleistungen der einzelnen Bürger: Beitragsleistung muss sich wieder lohnen. Und sie sollte die Last der Staatsfinanzierung und des Sozialstaates wieder auf breitere Schultern stellen, Beamte und Selbstständige in die Sozialversicherungen einbinden, Bestverdienende und Kapitaleinkommen höher besteuern. Schließlich muss sie der permanenten Ausweitung einer weitgehend selbst definierten Hilfsbedürftigkeit des Wohlfahrtssektors selbst Schranken setzen.
Freude macht eine solche Argumentation nicht, zumal nicht in Zeiten wie diesen, in denen die Politik das Spekulationsrisiko des Finanzsektors auf Kosten der Steuerzahler vergemeinschaftet. Zu gern hätten wir eine Gesellschaft, in der sich die Menschen weniger über „Florida-Rolf“ erregten und mehr über Frankfurt-Rolf (Breuer) und seine Kollegen: Die Herren aus der Finanzwirtschaft werden den deutschen Steuerzahler weit teurer zu stehen kommen. Und natürlich wünschten wir uns eine Gesellschaft, in der nicht das wohlhabendste Zehntel der Bevölkerung 61 Prozent des Nettovermögens besitzt, die „ärmsten“ 50 Prozent aber gar keines. Ein erheblicher Teil der Sozialstaatsdebatten hätte sich damit von selbst erledigt.
Aber Politik bleibt die Kunst des Möglichen: So wie die Welt momentan ist, werden wir um die Diskussion über Wirkungen und Nebenwirkungen der bestehenden Sozialstaatsstrukturen nicht herumkommen. Reden wir nicht über dieses Thema, tun es andere: Langfristig droht eine Rebellion der Steuer- und Beitragsbürger. Und diese wird – siehe Tea Party oder andere Rechtspopulisten – in eine Richtung gehen, die wir uns nicht wünschen können. Wir sollten den Sozialstaat lieber selbst winterfest machen. «