Die Dänen haben es vorgemacht

Ein Vergleich mit der sozialdemokratischen Politik in Dänemark legt bloß, woran es der SPD als Regierungspartei am meisten fehlt

Wer gedacht hätte, die Koalition würde nach ihrem Wahlsieg diesmal einen überzeugenden Start hinlegen, wurde schon nach wenigen Wochen eines Besseren belehrt. Viel schlechter hätte es für Rot-Grün eigentlich kaum kommen können. Nicht nur, dass sich die Regierung mit einem dramatischen Ansehensverlust in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung konfrontiert sieht, nachdem sie im Angesicht der Wirtschaftskrise ein ums andere Wahlversprechen zurücknehmen musste. Auch in professioneller Hinsicht geriet der Beginn zu einem ähnlichen Fiasko wie 1998.

Von den geschäftsmäßig abgespulten Koalitionsverhandlungen über die wenig Erneuerung verheißende Zusammenstellung des Kabinetts bis hin zur lustlos vorgetragenen Regierungserklärung durch Kanzler Schröder entstand der Eindruck, dass die Koalition bereits zu Beginn ihrer Amtszeit in Lethargie gefallen sei. Von Aufbruch und Inspiration keine Spur. Stattdessen eine Neuauflage des Durchwurstelns, jener konzeptionellen Flickschusterei, die - euphemistisch als "Pragmatismus" verbrämt - weite Strecken der Regierungspolitik seit 1998 charakterisiert hatte. Als ob sie mit ihrer Bestätigung durch den Wähler gar nicht mehr gerechnet hätten, gingen die Koalitionäre nach dem 22. September genauso unvorbereitet ans Werk wie vor vier Jahren.


Die ungenügende programmatische Integration der Regierungspolitik, der sprunghafte, bisweilen opportunistische Politikstil Gerhard Schröders, das Fehlen einer eingängigen Überschrift für die verschiedenen, in sich ja durchaus vernünftigen Reformvorhaben, überhaupt die Unfähigkeit, ein gemeinsames rot-grünes oder zumindest eigenes sozialdemokratisches Modernisierungsprojekt zu definieren - all das ist in den vergangenen vier Jahren auch in dieser Zeitschrift ausgiebig beschrieben und beklagt worden. Dem soll hier kein weiteres Lamento hinzugefügt werden. Allein, die Frage nach den Gründen bleibt schwierig zu beantworten; für den Politikwissenschaftler stellt sie ein unübersichtliches Puzzle dar, bei dem eine Vielzahl von strukturellen, handlungs- und umweltbezogenen Erklärungsfaktoren zu einem kohärenten Ganzen zusammengefasst werden müssen. Dazu eignet sich am besten ein internationaler Vergleich.

Politik mit dem Markt, nicht gegen ihn

Mit der Arbeit von Martin Frenzel über Neue Wege der Sozialdemokratie liegt jetzt eine umfangreiche Darstellung vor, in der die Leistungen und Versäumnisse sozialdemokratischer Regierungspolitik zum ersten Male systematisch untersucht werden. Auf der Suche nach möglichen Vergleichsfällen für die Bundesrepublik hält sich Frenzel nicht an Großbritannien oder die Niederlande, die der SPD als Vorbilder einer gelungenen Modernisierung immer wieder vorgehalten werden, sondern an das in der öffentlichen Beachtung weit dahinter rangierende Dänemark. Das wird zum einen forschungspraktisch begründet. Nachdem die dänischen Sozialdemokraten 2001 die Wahlen verloren haben, bildet ihre achtjährige Regierungsperiode nunmehr ein abgeschlossenes historisches Kapitel, das sich zur bilanzierenden Rückschau bestens eignet. Erleichtert wird der Vergleich dabei durch die Übereinstimmung wichtiger Kontextbedingungen.

Beiden sozialdemokratischen Parteien - der dänischen wie der deutschen - ist gemeinsam, dass sie 1982 etwa zeitgleich in die Opposition gerieten und dort mit ähnlichen Krisensymptomen programmatisch-strategischer und personeller Art konfrontiert wurden. Noch wichtiger: Der Autor macht aus seiner normativen Präferenz für das dänische Modell eines "Dritten Weges" der Sozialdemokratie keinen Hehl, der sich durch sein Festhalten am Wohlfahrtsstaat von den stärker neoliberal orientierten Konzepten der britischen und niederländischen Schwesterparteien vorteilhaft abhebe. Dieser Weg wird der SPD ausdrücklich anempfohlen.


Frenzel charakterisiert das dänische Modell als "sanften Mix" aus skandinavischem Wohlfahrts- und angelsächsischem Wettbewerbsstaat. Dänemarks SD machte aus der Not der erzwungenen Krisenpolitik nach den beiden Ölkrisen eine dauerhafte Tugend, indem sie in den achtziger Jahren den Abschied vom Keynesianismus alter Prägung vollzog. An die Stelle der "politics against markets" (so die klassische Formulierung von Gøsta Esping-Andersen) trat fortan das Prinzip der "politics within markets". Dieses machte mit der bis dahin vorherrschenden Vorstellung eines Antagonismus von öffentlichem und privatem Sektor Schluss und erlegte dem Staat bei der planerischen Lenkung des Wirtschaftsgeschehens weitgehende Zurückhaltung auf. Die dänischen Sozialdemokraten nahmen vom alten linkskeynesianischen Umverteilungsideal Abstand, wonach mit höheren Steuern und einer aktiven Lohnpolitik eine gerechtere Einkommensverteilung herbeigeführt werden könne.

Die Wende hin zu einer moderaten Anpassung an das neoliberale Paradigma kam vor allem in der Sozial- und Wirtschaftspolitik zum Ausdruck, wo das Leitbild des universalistischen Wohlfahrtsstaates zwar nicht aufgegeben, durch das Prinzip der "Rechte und Pflichten" aber auf eine neue Basis gestellt wurde. Anstelle des passiven Wohlfahrtsstaatsmodells der gleichen sozialen Rechte trat nun der aktive oder aktivierende Wohlfahrtsstaat, der die Vergabe von Sozialhilfe und die Finanzierung von Weiterbildungsmaßnahmen ausdrücklich an Gegenleistungen des Empfängers band. Dieser Paradigmenwechsel führte dazu, dass sich der Fokus der Sozialpolitik von den Transferzahlungen immer mehr auf das Feld der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik verlagerte (workfare statt welfare).

Solide Finanzen als Bedingung aller Politik

In der Wirtschaftspolitik hatte die programmatische Annäherung an den Neoliberalismus zur Folge, dass der Angebotsseite des Marktes nun größere Priorität eingeräumt wurde. Durch Steuersenkungen, Lohnzurückhaltung und Effizienzverbesserungen im öffentlichen Sektor sollte die Investitionstätigkeit angekurbelt werden und im Ergebnis zu mehr Wachstum und Beschäftigung führen. Dies bedeutete jedoch keine völlige Abkehr von der keynesianischen Nachfragesteuerung, im Gegenteil: Indem Dänemarks Sozialdemokraten die Sanierung der Staatsfinanzen zur vordringlichsten Aufgabe der Regierungspolitik erklärten, schufen sie überhaupt erst den Raum für eine kombinierte Angebots- und Nachfragestrategie, die wiederum eine Erhöhung der öffentlichen Investitionstätigkeit in konjunkturellen Krisenzeiten ermöglichte. Die Verschuldung musste zurückgeführt werden, damit der Staat auch in Zukunft wirtschaftspolitisch handlungsfähig bleiben würde.


Dass das Prinzip der "politics within markets" den aktiven, gesellschaftsgestaltenden Staat nicht nur duldet, sondern geradezu voraussetzt, wird deutlich, wenn man die dritte Säule der Reformstrategie der SD betrachtet: den Umweltschutz. Das Konzept einer ökologisch nachhaltigen, ressourcenschonenden Energiepolitik ohne Atomkraft wurde in den achtziger Jahren zu einem wesentlichen programmatischen Bestandteil von Dänemarks Sozialdemokratie. Die Ökologie sollte danach nicht nur ein Politikfeld unter vielen sein, sondern als Querschnittsaufgabe in die umweltrelevanten Belange anderer Politikbereiche integriert werden. Die Neuorientierung von einer nachträglich reparierenden hin zu einer ökologisch gestaltenden, vorsorgenden Umweltpolitik betraf in erster Linie den Energiesektor, dessen Effizienz durch die Dezentralisierung des Kraftwerkesystems und die Erhöhung des Anteils erneuerbarer Energien erhöht werden sollte, und schloss die Forderung nach einer Ökologisierung des Steuersystems ein (Verteuerung des Ressourcenverbrauchs bei gleichzeitiger Senkung der Einkommenssteuern).

Wie Erneuerung in der Opposition gelingt

Als Poul Nyrup Rasmussen seine Partei 1993 nach 11 Jahren Opposition an die Regierung zurückführte, war Dänemarks Sozialdemokratie auf die vor ihr liegenden Aufgaben programmatisch und strategisch gut vorbereitet. Martin Frenzel zeigt, dass die tatsächlichen Erfolge der Regierungspolitik ohne diese langjährige Vorbereitungsphase nicht erklärbar wären. Damit räumt er mit mindestens drei Fehlurteilen auf, die auch in der politikwissenschaftlichen Parteienforschung gelegentlich vertreten werden. Das erste Fehlurteil lautet, dass Parteien sich nicht in der Opposition, sondern nur in der Regierung erneuern können, weil sie erst dort hart genug mit der politischen Realität konfrontiert werden (während die Oppositionsrolle dem Wunschdenken Vorschub leiste). Wenn dem so wäre, würden die Parteien vor einem permanenten Glaubwürdigkeitsproblem stehen, weil sie die Positionen, um derentwillen sie ja (auch) gewählt werden, im Ernstfalle gar nicht aufrechterhalten können. Im Interesse des Machterhalts müssen sie sich folglich um ein Mindestmaß an Glaubwürdigkeit schon vor der Regierungszeit bemühen.


Das zweite gängige Fehlurteil lautet, dass es auf Programme ohnehin nicht ankomme. Soweit damit auf die Bedeutung der organisatorischen, personellen und strategischen Machtressourcen der Parteien angespielt wird, liegt darin sicherlich etwas Wahres. Auch Organisationen, Personen und Strategien bedürfen aber, um im Parteienwettbewerb Wirksamkeit zu entfalten, einer politikinhaltlichen Klammer. Gerade in Zeiten der Entideologisierung und abnehmenden natürlichen Bindungen müssen die Parteien den Wählern ja Gründe liefern, sie zu wählen. Die Programmatik dürfte insofern heute sogar eine wichtigere Rolle spielen als früher.

Wer sagt, dass Programme nicht wichtig sind?

Das dritte Fehlurteil betrifft die Umsetzung der programmatischen Forderungen in der praktischen Regierungspolitik. Hierzu wird gern gesagt, dass Parteiprogramme die tatsächliche Richtung des Regierungshandelns kaum beeinflussen könnten. Auch das scheint zu kurz gegriffen. Natürlich können die Parteien den Kurs der Regierungspolitik nicht bis in alle Einzelheiten vorgeben. Empirische Untersuchungen haben allerdings gezeigt, dass die Konvergenz zwischen Programmatik, Strategie und Regierungshandeln größer ist als gemeinhin vermutet. Diese These wird durch die Analyse der dänischen Regierungspolitik nach 1993 nachdrücklich bestätigt.


In den neunziger Jahren war Dänemark das einzige Land Europas (außer den Niederlanden), dem es gelang, die Arbeitslosigkeit binnen einer Legislaturperiode zu halbieren. Die dazu betriebene Wirtschafts- und Sozialpolitik der sozialdemokratisch geführten Regierung entsprach im wesentlichen dem, was die Partei in den achtziger Jahren programmatisch bis ins Detail vorbereitet hatte. Mit anderen Worten: Die SD orientierte sich an einer Gesamtstrategie, deren einzelne Bestandteile zu einem konsistenten Ganzen zusammengesetzt wurden. Frenzel spricht insofern treffend von einer Politik der Gleichzeitigkeit, die langfristige Ziele verfolgte und die in den verschiedenen Politikfeldern geplanten Vorhaben zeitlich und inhaltlich aufeinander abstimmte. So war zum Beispiel der Übergang zu einem strikten Spar- und Stabilitätskurs ab 1994 von vornherein vorgesehen, nachdem die Regierung in ihren ersten beiden Amtsjahren noch zusätzliche Schulden gemacht hatte, um das wirtschaftliche Wachstum durch staatliche Ausgabenprogramme zu stimulieren.

Die Sozialdemokraten konnten den Sparkurs durchhalten, weil sie parallel dazu eine aktive Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik verfolgten, die das Arbeitslosenproblem auch ohne konjunkturelle Maßnahmen in den Griff bekam. Kernelemente dieser Politik waren eine durchgreifende Flexibilisierung des Arbeitsmarktes (Lockerung des Kündigungsschutzes, dezentrale Tarifvereinbarungen), die Einführung der Jobrotation und eine Verschärfung der Zumutbarkeitsbedingungen für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger bei gleichzeitig passgenauer Förderung durch Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen. Auch ohne speziellen Niedriglohnsektor konnten auf diese Weise zahlreiche neue Jobs geschaffen werden.

Leitbild marktkonformer Umweltschutz

Die erfolgreiche Beschäftigungspolitik hielt der Regierung zugleich auf ökologischem Gebiet den Rücken frei, wo sie nicht minder ehrgeizige Ziele verfolgte. Unter der Verantwortung der Sozialdemokraten avancierte Dänemark zum Land mit dem - bezogen auf die Wirtschaftsleistung - niedrigsten spezifischen Energieverbrauch in Europa. Die Regierung führte vor, dass eine nachhaltige Umweltpolitik nicht zu Lasten der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit gehen muss. Ihr Leitbild des marktkonformen Umweltschutzes wurde besonders durch die beiden ökologischen Steuerreformen von 1993 und 1998 versinnbildlicht, die eine schrittweise Anhebung der umweltrelevanten Abgaben vorsahen und damit kompensatorisch die steuerliche Entlastung des Faktors Arbeit (Senkung der Einkommensteuer und Lohnnebenkosten) ermöglichten.

Im Vergleich sieht′s bei uns kläglich aus

Am dänischen Vorbild gemessen sieht die Bilanz der rot-grünen Regierung in der Bundesrepublik nach vier Jahren Amtszeit ziemlich kläglich aus. Das Ziel, die Arbeitslosigkeit zu senken, wurde deutlich verfehlt, weil man sich wirtschaftspolitisch zu einseitig auf die makroökonomischen Rahmenbedingungen fixiert hatte - in der fälschlichen Erwartung, die demografische und konjunkturelle Entwicklung werde alles übrige schon richten. Zudem herrschte zunächst keine Klarheit über den wirtschaftspolitischen Kurs. Erst nach dem Abgang Oskar Lafontaines konnte sein Nachfolger Hans Eichel den Strategiewechsel hin zu einer stabilitätsorientierten Konsolidierungspolitik durchsetzen, die - wenn auch nur vorübergehend - zum Markenzeichen der Koalition wurde.

Die anhaltende Wachstumsschwäche machte der Regierung jedoch einen Strich durch die Rechnung. Ihre Folge waren zum einen massive Einnahmeausfälle, die durch handwerkliche Fehler bei der 1999 verabschiedeten Steuerreform noch vergrößert wurden. Zum anderen führte die lahmende Konjunktur zu steigender Arbeitslosigkeit und damit zu weiteren Kostenbelastungen für die staatlichen Haushalte und Sozialversicherungen. Spätestens jetzt rächte es sich, dass Rot-Grün keine großen Anstrengungen unternommen hatte, das Arbeitslosenproblem auf anderem Wege - durch eine aktive Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik - anzugehen, so wie in Dänemark unter sozialdemokratischer Führung geschehen. Die Versäumnisse führten zwar nicht zur Abwahl der Koalition am 22. September 2002. Dafür büßt sie nun angesichts von steigender Verschuldung, steigender Steuerbelastung und steigenden Sozialabgaben für die schweren Defizite ihrer Politik.

Warum es in Deutschland schwieriger ist

Es wäre gewiss verkehrt, die schwache Bilanz von Rot-Grün in der Wirtschaftspolitik allein in voluntaristischen Kategorien zu beschreiben. Gerade der Vergleich mit Dänemark macht deutlich, dass es die Regierenden hierzulande aus einer Reihe von Gründen objektiv schwerer haben, Reformen durchzusetzen, was sich natürlich auch auf den Reformwillen lähmend auswirkt. Hierzu zählen zum einen die Rahmenbedingungen des politischen Systems, das der Handlungsmacht der Regierung schon von Verfassungs wegen enge Grenzen setzt. Besonders die starke Mitwirkungsfunktion des Bundesrates an der Gesetzgebung sorgt dafür, dass sich die Institutionen des Parteienwettbewerbs und der Bundesstaatlichkeit in Deutschland nicht produktiv ergänzen, sondern tendenziell blockieren. In Dänemark hat die Regierung demgegenüber gute Chancen, die Zusammenarbeit bereits auf der parlamentarischen Ebene zu organisieren, so dass Blockaden gar nicht erst entstehen. Weil Mehrheitsregierungen (wie in der Phase von 1993 bis 1994) im nördlichen Nachbarland die Ausnahme sind, muss die Regierung bei der Formulierung ihrer Politik auch auf die Vorstellungen der jeweiligen Oppositionsparteien Rücksicht nehmen.


Dass Frenzel diesen Rahmenbedingungen weniger Beachtung schenkt, als sie in einer politikwissenschaftlichen Darstellung eigentlich verdienen, hat einen einfachen Grund: Institutionen und die sie tragende politische Kultur lassen sich nicht ohne weiteres verändern, stellen für die Regierenden (und den Forscher) also zunächst einmal ein hinzunehmendes "Datum" dar. Damit unterscheiden sie sich von den Faktoren, die durch individuelles oder kollektives Handeln beeinflussbar sind. Wie Frenzel in einer Auseinandersetzung mit der theoretischen Literatur darlegt, definieren die strukturellen und Umweltbedingungen des Regierungssystems Handlungskorridore, die von den parteipolitischen Akteuren unterschiedlich ausgefüllt werden können. Entscheidende Bedeutung gewinnt dabei die programmatische und strategische Ausrichtung der Partei, die wiederum maßgeblich mitbestimmt wird durch ihre organisatorischen und personellen Ressourcen.

Wenigstens Lafontaine blieb uns erspart

Ein Vergleich zwischen der deutschen und dänischen Sozialdemokratie unterstreicht hier zunächst die Bedeutung des Faktors "Zufall". Die Wiedervereinigung brachte die SPD um die historische Chance, die Kohl-Regierung bereits im Jahre 1990 abzulösen, und verlängerte ihre Oppositionszeit gleichsam künstlich um weitere acht Jahre. Als der Machtwechsel 1998 endlich zustande kam, war ein Großteil dessen, was die Partei in den achtziger Jahren programmatisch auf den Weg gebracht hatte - etwa die Hinwendung zum ökosozialen Paradigma - schon nicht mehr en vogue. Auf der anderen Seite tat sich die SPD schwer, ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen an das veränderte globale Umfeld anzupassen, zumal eine Klärung der Führungsfrage auch nach der erfolgreichen Kanzlerkandidatur Gerhard Schröders nicht eintrat. Frenzels These, wonach eine Fortsetzung der dualistischen Führung mit Schröder als Bundeskanzler und Lafontaine als Parteichef nicht nur sinnvoll, sondern auch möglich gewesen wäre, wenn sich Lafontaine nur entschieden hätte, statt des Finanzministeriums das Amt des Fraktionsvorsitzenden zu übernehmen, klingt angesichts der problematischen Persönlichkeitsstruktur des Saarländers nicht sehr überzeugend (wie überhaupt die SPD aus heutiger Sicht dankbar sein sollte, dass ihr und dem Land 1990 ein Kanzler Lafontaine erspart geblieben ist).

Gedankt hat es der Wähler nicht

In der dänischen SD konnten die Führungsfragen demgegenüber schon in der Oppositionsphase geklärt werden, so dass die Partei personell geeinigt in die Regierungsverantwortung ging und die anschließende Arbeitsteilung zwischen den Schlüsselfiguren Nyrup Rasmussen (als Regierungschef), Lykketoft (als Finanzminister) und Auken (als Minister für Umwelt und Energie) hervorragend funktionierte. Nicht minder wichtig war, dass die Partei die Regierung zu einem Zeitpunkt übernahm, in dem genügend Spielraum für eine gleichzeitige Reformpolitik auf beschäftigungs-, finanz- und umweltpolitischem Gebiet bestand. Dass ihr diese Reformpolitik von den Wählern nicht gedankt wurde, steht auf einem anderen Blatt. Die SD geriet unter wachsenden Druck, als sich die öffentliche Aufmerksamkeit Ende der neunziger Jahre von der Wirtschaftspolitik weg bewegte und auf Themen wie Einwanderung und Innere Sicherheit verlagerte, bei denen sie aus der Defensive heraus agieren musste. So gesehen wurde die Partei zum Opfer ihrer eigenen Erfolge. Demgegenüber verbuchten die Sozialdemokraten in der Bundesrepublik ihre überzeugendsten Ergebnisse als Modernisierer ausgerechnet auf dem Feld der Gesellschaftspolitik, was ihnen elektoral sicher eher genutzt als geschadet hat. In der zweiten Amtszeit wird es Rot-Grün allerdings nicht mehr möglich sein, sich auf diese Weise über eine schwache sozial- und wirtschaftspolitische Bilanz hinwegzuretten.

Ohne Projekt bleibt alles Stückwerk

Wie immer stark man die objektiven Hemmnisse für eine durchgreifende Reformpolitik in der Bundesrepublik auch gewichtet: Das Ausmaß der programmatischen und strategischen Orientierungslosigkeit der deutschen Sozialdemokratie bleibt beachtlich. Nicht nur, dass es die Partei versäumt hat, sich in der Opposition für die vor ihr liegende Regierungszeit personell und inhaltlich zu wappnen. Auch nach der Klärung der Führungsfrage im Jahre 1999 wurde keine wirkliche Klarheit über den künftig einzuschlagenden Kurs geschaffen, dümpelte die Partei in erstaunlicher Passivität vor sich hin. Martin Frenzel schließt sich dem Diktum Franz Walters an, wonach die SPD als Regierungspartei heute weitgehend "stillgelegt" sei. Folgt man den Ergebnissen seiner Studie, dann müsste dem nicht so sein. Das Beispiel der dänischen SD belegt, dass die Ausschöpfung der programmatischen Ressourcen, das geduldige Ringen um ein stimmiges, nach vorne weisendes politisches Projekt unabdingbare Voraussetzung bleibt für eine erfolgversprechende Regierungsarbeit. Wenn die SPD und ihr Kanzlerparteichef diese Erkenntnis nicht bald beherzigen, dann wird ihre Regierungszeit spätestens nach der nächsten Bundestagswahl enden und eine ruhmlose Episode geblieben sein.

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