Die drei Krisen Europas
Das verheerende Echo auf die Konferenz von Nizza wirkte in Laeken deutlich nach. Den Regierungsvertretern war bewusst, dass sie sich eine nochmalige Blamage nicht leisten konnten. So heißt es in der Erklärung, dass die nach der Überwindung der europäischen Teilung anstehende Neuordnung "selbstverständlich ein anderes als das vor fünfzig Jahren verfolgte Konzept verlangt, als sechs Länder die Initiative ergriffen".
In Nizza war von dieser Einsicht noch wenig zu spüren. Statt die erforderliche Runderneuerung des Entscheidungssystems endlich zu beginnen, glaubten die Staatenlenker dort, mit einigen marginalen Korrekturen am Status quo auszukommen, um die europäischen Institutionen für die bevorstehende Osterweiterung zu wappnen. Die Erklärung von Laeken liest sich wie ein nachträgliches Dementi dieser Bemühungen. Indem sie darin die Fragen und Probleme auflisten, die bereits auf der Regierungskonferenz zumindest hätten aufgeworfen werden müssen, dokumentieren die Staats- und Regierungschefs letztlich ihr eigenes Versagen. So betrachtet könnte der in Laeken begonnene Prozess in der Tat eine neue Stufe des Integrationsgeschehens bedeuten.
Das Sagen haben die Regierungen
Drei miteinander verbundene Krisen beschreiben den Zustand der Europäischen Union zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die erste Krise könnte man als Erweiterungskrise bezeichnen. Die bevorstehende Erweiterungsrunde der EU ist bereits die vierte, doch stellt sie mit 12 bis 15 Betrittskandidaten alle ihre Vorläufer in den Schatten. Wurde bei den früheren Erweiterungsrunden ausschließlich nach der Aufnahmefähigkeit der Beitrittsländer gefragt, so geht es bei der Osterweiterung erstmals auch um die Aufnahmefähigkeit der EU selbst. Dass eine bloße Fortschreibung der alten institutionellen Strukturen dazu nicht ausreicht, dürfte den Staats- und Regierungschefs schon vor Nizza klar gewesen sein, doch fehlte ihnen offenbar die Kraft, dieser Einsicht gemäß zu handeln.
Dieses Unvermögen verweist auf die zweite Krise, die mit dem bereits bestehenden Entscheidungssystem zu tun hat und durch die epochalen Fortschritte des Intergrationsprozesses in den achtziger und neunziger Jahren noch beschleunigt worden ist: die Krise der so genannten intergouvernementalen Methode. Herrschte bis zum Maastricht-Vertrag ein annäherndes Gleichgewicht zwischen den Gemeinschaftsorganen Kommission und Parlament auf der einen und den nationalen Regierungen auf der anderen Seite, so sind die zuerst Genannten seither immer mehr in den Hintergrund getreten.
Dass mit Jacques Santer und Romano Prodi zuletzt zwei eher führungsschwache Politiker von den Staats- und Regierungschefs als Kommissionspräsident bestallt wurden, ist symptomatisch. Dem Europäischen Parlament sind substanzielle Zuwächse seiner Kompetenz in der Vergangenheit ohnehin versagt geblieben. Der Vorrang der intergouvernementalen Methode bedeutet, dass der Konsens der nationalen Regierungen die wichtigste Voraussetzung für nennenswerte Integrationsfortschritte bleibt. Einen solchen Konsens herbeizuführen, stößt schon in einer Union mit 15 Mitgliedern auf Schwierigkeiten. In einer Union mit 25 oder 30 Mitgliedern kann es nur funktionieren, wenn das Einstimmigkeitsprinzip durch qualifizierte Mehrheitsentscheidungen weitgehend ersetzt wird. Dazu sind aber in der heutigen Gemeinschaft längst nicht alle Mitglieder bereit.
Außenpolitik will jeder gern selbst betreiben
Die dritte Krise rührt aus der wirtschaftlichen Schlagseite des europäischen Integrationsprozesses. Sie ist der Grund dafür, warum ein gemeinsames Identitätsbewusstsein innerhalb der EU bislang nicht herangereift ist. Mit der Einführung des Euro-Bargeldes dürfte sich das sicherlich ändern. Die Erwartung, dass von der Währungsunion auch ein Identitätsschub ausgehen wird, beruht allerdings weniger auf den wirtschaftlichen Folgen dieses Schrittes als darauf, dass es sich bei der Währungshoheit um einen zentralen Bestandteil dessen handelt, was staatliche Souveränität ausmacht. Nichts anderes gilt für die Außen- und Verteidigungspolitik. Auch hier handelt es sich um einen Politikbereich, der die Einheit des Staates nach innen und außen verkörpert und daher in bundesstaatlichen Ordnungen traditionell von der Zentralgewalt wahrgenommen wird. Der bisherige Verlauf der europäischen Einigung hat dieses Prinzip in sein Gegenteil verkehrt.
Dabei lässt sich die Wünschbarkeit einer gemeinsamen Außenpolitik kaum bestreiten. Die bedrückenden Erfahrungen der Kriege in Bosnien und im Kosovo haben sie eindrücklich vor Augen geführt, als die Vereinigten Staaten gezwungen waren, für die Europäer in deren ehemaligem Urlaubsland Jugoslawien militärisch in die Bresche zu springen. Auch die Reaktionen der EU auf die Terroranschläge vom 11. September verdienen das Prädikat "gemeinsam" nur bedingt. Durch die unverhohlene Rückkehr einiger Mitgliedsstaaten zum außenpolitischen Bilateralismus fallen sie sogar hinter das bereits Erreichte zurück. Bei diesem Versagen handelt es sich übrigens weniger um ein Problem der nationalen Völker als ein Problem der nationalen Eliten, die die außenpolitische Spielwiese offenbar nicht ohne Not preisgeben möchten. Umso wichtiger wäre es, ihnen diese Not jetzt eindringlich vor Augen zu halten.
Die Bürger zeigen kaum Interesse
Dasselbe gilt für die institutionelle Weiterentwicklung der EU. Die Rede vom europäischen Demokratiedefizit ist gängige Münze und wird gerade von deutschen Politikern ständig im Munde geführt. Von der löblichen Ausnahme Joseph Fischers einmal abgesehen, sind dem bislang allerdings keine handfesten Vorschläge oder Taten gefolgt. Das erklärt sich auch aus dem allgemeinen Desinteresse, das die Öffentlichkeit den europäischen Fragen entgegenbringt. Die Behebung der institutionellen Defekte der EU bleibt insofern eine Angelegenheit der "Politik von oben".
Vor diesem Hintergrund ist das vom Europäischen Rat verabredete Prozedere der Verfassungsgebung als klarer Fortschritt zu begrüßen. Die Einsetzung eines Konvents bedeutet eine Abkehr von dem früheren Prinzip, wonach die institutionelle Weiterentwicklung der EU allein den nationalen Regierungen vorbehalten ist. Dem Konvent gehören neben 15 Regierungsvertretern insgesamt 30 Mitglieder der nationalen Parlamente an, 16 Europaparlamentarier, zwei Vertreter der Kommission sowie ein Präsident und zwei Vizepräsidenten; hinzu kommen 39 Vertreter der Beitrittsländer. Dass die Wahl des Präsidenten mit den Franzosen Giscard d′Estaing auf einen eher euroskeptischen Politiker gefallen ist, hat manche Beobachter enttäuscht, doch könnte gerade das den Beratungen des Konvents ein größeres Gewicht verschaffen. Je fester die legitimatorische Grundlage der dort gefassten Beschlüsse, desto schwerer werden sich die Staats- und Regierungschefs tun, daran auf der anschließenden Regierungskonferenz Abstriche vorzunehmen. Eine Wiederholung des Geschachers von Nizza scheint damit ausgeschlossen.
Für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten?
Bedeutet die Einsetzung des Konvents einen Fort-schritt im Verfahren, so bietet sie andererseits noch keine Gewähr für ein tragfähiges Ergebnis, das die erweiterte EU funktionsfähig hält und sie zugleich demokratischer macht. Angesichts der immensen Meinungsunterschiede, die zwischen den integrationsfreundlichen und integrationsskeptischen Mitglieds- staaten bestehen, ist es kaum vorstellbar, dass der Konvent die institutionelle Reformblockade der EU wirklich auflöst. Dafür sprechen auch die Entwicklungen in Italien oder Österreich, deren traditionell europafreundliche Regierungen unter dem Druck der Rechtspopulisten mittlerweile zu unsicheren Kantonisten geworden sind. Das Spannungsverhältnis von Erweiterung und Vertiefung der Integration, das aus den unterschiedlichen Interessenlagen der Mitgliedsstaaten resultiert, wird in der Gemeinschaft also eher zu- als abnehmen und könnte sie schon bald einer ernsthaften Zerreißprobe aussetzen.
Dieses Dilemma kennzeichnet die EU freilich schon seit längerem - um genau zu sein: seit der ersten Erweiterungsrunde 1973, als sich mit Großbritannien und Dänemark die heute führenden Euroskeptiker zur damaligen Sechser-Gemeinschaft hinzugesellten. Die institutionelle Antwort darauf war das Prinzip der differenzierten Integration. Einerseits konnten sich unwillige Mitgliedsstaaten aus der Befolgung bestimmter Integrationsziele ausklinken, wie etwa bei der Währungsunion. Andererseits haben Gruppen von Staaten außerhalb des vorhandenen Systems neue Institutionen gebildet, um weiter gehende Integrationsziele zu verfolgen. Bekanntestes Beispiel hierfür ist das Schengen-Abkommen. Ob ein Europa der zwei Geschwindigkeiten auch bei der Fortentwicklung des vorhandenen Basisinstitutionen - Kommission, Parlament und Ministerrat - erreichbar wäre und funktionieren würde, scheint fraglich. Allerdings ist der Gedanke nicht so abwegig wie er klingt: Immerhin hat der deutsche Außenminister die Idee eines solchen "Gravitationszentrums" in seiner Berliner Humboldt-Rede vor zwei Jahren ausdrücklich ins Spiel gebracht. In der öffentlichen Reaktion ist das damals erstaunlicherweise kaum beachtet worden.
Je kürzer die Staats- und Regierungschefs bei der Verfassungsgebung springen, umso größer ist also die Wahrscheinlichkeit, dass das Prinzip der differenzierten Integration auch in institutioneller Hinsicht Einzug hält und die künftige Europäische Union in zwei Teile gespalten wird: die einen Staaten würden dann an dem bisher dominierenden Prinzip der intergouvernementalen Zusammenarbeit festhalten, die anderen eine wirkliche Föderation mit demokratisch legitimierten Organen anstreben. Ob es dazu kommt, weiß heute noch niemand. Es hängt davon ab, wie die Entwicklung bis zur nächsten Regierungskonferenz verläuft. Die Staats- und Regierungschefs haben sich mit dem in Laeken begonnenen Prozess eine gewaltige Verantwortung aufgeladen. Es wäre wünschenswert, wenn ihnen die nationalen Öffentlichkeiten bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung stärker als bisher auf die Finger schauen würden.
Zu Stand und Zukunft der europäischen Einigung siehe auch die Beiträge von Uwe Rada und Hans-Peter Bartels et.al. in diesem Heft.