Die Energiewende darf keine Grenzen kennen

Wer Energie nicht europäisch denkt, wird nicht viel erreichen. Doch die deutsche Debatte bleibt national beschränkt. Schuld sind vor allem die selektiven Wahrnehmungsmuster der Akteure.

Seit dem Reaktorunfall von Fukushima hat die Debatte über die Transformation des deutschen Energiesystems an Fahrt gewonnen. Der beschleunigte Ausstieg aus der Atomkraft und der Einstieg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien gehören zu den zentralen Aspekten des parteiübergreifenden Beschlusses vom vergangenen Jahr. Immer wieder wird dabei jedoch der Anschein erweckt, als wäre das Projekt Energiewende durchführbar, ohne die energiepolitischen Entwicklungen außerhalb Deutschlands zu berücksichtigen: Auf Entscheidungen und Wahrnehmungsmuster im europäischen Ausland nehmen die relevanten Akteure nur selektiv Bezug.

Europa spielt in der deutschen Energiewende-Debatte meist nur dann eine Rolle, wenn es individuellen Deutungsmustern dient. Beispielsweise argumentieren verschiedene Akteure, aus der Abschaltung der deutschen Kernkraftwerke resultiere kein erheblicher Gewinn an Sicherheit, solange unsere Nachbarstaaten weiterhin auf die Atomkraft setzen und deutsche Verbraucher den dort erzeugten Strom konsumieren. Ebenso verkürzt wird immer wieder behauptet, der negative klimapolitische Effekt der Energiewende lasse sich über das Emissionshandelssystem europaweit ausgleichen und sei damit belanglos. Beide Erklärungsansätze haben durchaus ihre Berechtigung, greifen jedoch in einem Punkt zu kurz: Europa wird als weitgehend unbeeinflussbare Konstante wahrgenommen, die unumstößliche Rahmenbedingungen für die deutsche Energiepolitik schafft. Wer so denkt, verkennt die gestalterischen Möglichkeiten des größten EU-Mitgliedsstaats.

Der Energiebinnenmarkt existiert bereits

Die politische, wirtschaftliche und rechtliche Verknüpfung Deutschlands mit der Europäischen Union ist auf dem Energiemarkt bereits weiter fortgeschritten, als es die meisten Akteure heute erkennen oder zugeben wollen. Überschätzt werden hingegen die Gestaltungsmöglichkeiten nationalstaatlicher Energiepolitik. Um die europäische Dimension der Energiewende zu erfassen, ist daher ein doppelter Perspektivenwechsel notwendig. Einerseits müssen die Erfolgsaussichten eines nationalen Projekts im europäischen Umfeld unter Bezugnahme auf die relevanten Kontextfaktoren bewertet werden. Dies erfordert ein Verständnis für die Energiepolitik der EU sowie für die Positionen der Nachbarstaaten. Andererseits ist die Entwicklung einer europapolitischen Strategie erforderlich, um die Rahmenbedingungen für den Erfolg des Projekts Energiewende zu verbessern. Beide Blickwinkel sind bislang in der energiepolitischen Auseinandersetzung zu kurz gekommen und bedürfen in Zukunft erheblich mehr Aufmerksamkeit. Drei Beispiele:

Erstens: Von vielen Seiten verkannt, nimmt der europäische Energiebinnenmarkt seit geraumer Zeit Gestalt an. Der grenzüberschreitende Handel mit Strom gehört für die Unternehmen der Energiewirtschaft mittlerweile zum Alltag. Durch den Energiebinnenmarkt wird die Stromerzeugung effizienter, als dies in früheren Jahrzehnten der Fall war. So muss nicht jeder Mitgliedsstaat zu jedem Zeitpunkt im Jahr die Versorgung seiner Verbraucher auf dem eigenen Hoheitsgebiet garantieren, sondern kann Nachfragespitzen vermehrt über den europäischen Markt ausgleichen. Folglich verringert sich die Notwendigkeit erheblich, Kraftwerkskapazitäten bereitzustellen. Dass dabei auch ausländische Kraftwerke für die Systemstabilität einbezogen werden, wie in diesem Winter ein österreichisches Kraftwerk als Reservekapazität für den deutschen Strommarkt, gehört zum Alltagsgeschäft und ist keineswegs verwerflich.

Hinzu kommt, dass der Strom aus erneuerbaren Energien mit variabler Einspeisung, also in erster Linie Wind und Sonne, zu Spitzenzeiten nicht mehr alleine über das deutsche Netz verteilt werden kann, sondern immer häufiger kostengünstig in die Nachbarländer Polen und Tschechien abgetreten wird. Der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung hätte im Jahr 2011 kaum die Marke von 20 Prozent übersprungen, wenn die grenzüberschreitenden Leitungen in die Nachbarstaaten nicht hätten genutzt werden können. Gleichzeitig bedeutet die Verknüpfung der nationalen Energiemärkte auch, dass Deutschland zwar die Produktion von Atomstrom beenden kann. Jedoch wird hierzulande weiter Strom aus deutschen, französischen oder tschechischen Kernkraftwerken konsumiert. Die Einspeisung von überschüssigem Grünstrom in die Netze der Nachbarn zu forcieren und gleichzeitig auf ein Verbot von Importen zu drängen, wie es der saarländische SPD-Chef Heiko Maas kürzlich tat, ist für das Projekt Energiewende eher kontraproduktiv.

Angesichts der Entwicklung des europäischen Strommarktes und der gegenseitigen Abhängigkeiten mit Blick auf die Systemstabilität, erscheint die Kritik am unkoordinierten und nicht mit den Nachbarn abgestimmten deutschen Atomausstieg aus Sicht anderer Mitgliedsstaaten durchaus berechtigt – auch wenn die Entscheidung über den Energiemix europarechtlich jedem Mitgliedsstaat selbst überlassen bleibt.

In den kommenden Jahren geht es vor allem darum, den weiteren Netzausbau in Deutschland auch unter europäischen Vorzeichen fortzusetzen. Die Externalisierung der Verantwortung für die Verzögerungen beim innerdeutschen Ausbau auf die Stromnetze Polens und der Tschechischen Republik hat in den Nachbarländern bereits für heftige negative Reaktionen gesorgt. Sucht man gute Argumente gegen den Bau von „Stromstoppern“ durch den polnischen Netzbetreiber an der deutschen Grenze, sollte die Unterstützung des europaweiten Ausbaus der Energieinfrastruktur dazugehören. Dabei kann an vielen Stellen im europäischen Netz die Finanzierung durch öffentliche Mittel vonnöten sein. Langfristig wird dies auch der deutschen Energiewende helfen, etwa wenn Pumpspeicherkraftwerke in Norwegen und in den Alpen verstärkt genutzt oder Erneuerbare-Energien-Projekte im Süden Europas verwirklicht werden.

Erneuerbare Energie nur noch in Deutschland?

Zweitens: Kaum ein Thema wird in der Debatte über die deutsche Energiewende so leidenschaftlich diskutiert wie die Förderung erneuerbarer Energien. Kein anderes Land in Europa leistet sich eine ähnlich großzügige Vergütung für Investitionen in diesen Sektor. Kein anderer EU-Mitgliedsstaat hat einen vergleichbaren Zubau erneuerbarer Energien an der Stromversorgung vorzuweisen. Deutschland hat über die vergangenen zehn Jahre nicht nur einen Teil seiner Energieversorgung transformiert, sondern zudem einen neuen Industriezweig aufgebaut, der auch künftig von großer Bedeutung sein dürfte. Die Erneuerbare-Energien-Politik gehört damit zu einem der wichtigsten Aspekte des deutschen Energiewende-Konzepts.

Für den Erfolg der erneuerbaren Energien ist allerdings nicht nur die Ausbaurate entscheidend, sondern ebenso sehr die Kosteneffizienz der Förderinstrumente. Und für diese ist nicht nur der Umfang der Fördersumme relevant, sondern auch die optimale Nutzung von Standorten. Für die erfolgreiche deutsche Erneuerbare-Energien-Industrie kommt zudem in erheblichem Maße die Schaffung von Absatzmärkten für ihre Produkte hinzu. Infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise sind die Fördersysteme in vielen EU-Mitgliedsstaaten den öffentlichen Sparzwängen zum Opfer gefallen. Das prominenteste Beispiel hierfür ist derzeit Spanien. Es droht die Gefahr, dass der Einstieg in erneuerbare Energien außer in Deutschland nur noch in einigen anderen solventen nord- und westeuropäischen Ländern vollzogen wird.

Eine europäische Lösung könnte in all diesen Bereichen Abhilfe schaffen und zum Gelingen der Energiewende beitragen. Dabei geht es nicht um eine Abschaffung des bewährten deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetzes, vielmehr um dessen Erweiterung in einer europäischen Perspektive. Ein europaweiter Mechanismus, der besonders den Ausbau von Offshore-Windenergie und großen Solarprojekten fördert, würde gleichzeitig die Kosten für die Unterstützung erneuerbarer Energien senken und nachhaltige Projekte in EU-Mitgliedsstaaten forcieren, die ohne eine öffentliche Förderung nicht verwirklicht werden könnten. Eine offene Debatte über die Chancen einer wirkungsvollen Erneuerbare-Energien-Politik jenseits der nationalen Förderinstrumente steht noch immer aus.

Drittens: Erklärtes Ziel der Energiewende ist es, der globalen Verantwortung Deutschlands beim Klimaschutz gerecht zu werden. Das nationale Ziel, die Kohlendioxid-Emissionen im Zeitraum 1990 bis 2020 um 40 Prozent abzusenken, wird Deutschland jedoch aufgrund des Atomausstiegs kaum mehr erfüllen, da ein Großteil der wegfallenden Kapazität durch fossile Kraftwerke ersetzt werden muss. Mit Recht verweisen Umweltverbände in diesem Zusammenhang jedoch auf die Einbindung Deutschlands in das europäische Emissionshandelssystem, mit dem die Emissionen aus der Stromerzeugung europaweit begrenzt werden. Wenn Deutschland mehr Treibhausgase produziert als erwartet, dann werden diese an anderer Stelle innerhalb der EU reduziert. Die Europäisierung der Klimapolitik ist bereits so weit fortgeschritten, dass nationale Zielsetzungen nahezu bedeutungslos erscheinen.

Deutschland muss für seine Sache aktiv werben

Dieser Zusammenhang verdeutlicht, wie notwendig eine europapolitische Dimension bei der Verwirklichung der Energiewende ist. Das Ambitionsniveau in der EU liegt mit 20 Prozent im gleichen Zeitraum unterhalb der deutschen Zielsetzung. Korrigiert man diese Werte um die für Deutschland günstigen Ausgangsbedingungen infolge der Emissionsminderung durch die Deindustrialisierung in den neuen Bundesländern nach 1990, so ergibt sich beim Klimaschutz noch immer eine Lücke zwischen dem deutschen und dem europäischen Anspruch. Konsequent wäre es deshalb, die Entwicklung klimapolitischer Ziele in der EU weiter voranzutreiben. Ein zusätzliches Argument für eine Korrektur der Ziele in der EU liefert der aktuelle Preis für Emissionszertifikate. Aufgrund der Wirtschaftskrise und des Produktionseinbruchs in der europäischen Industrie wurden die klimapolitischen Zielmarkungen für das Jahr 2020 quasi „konjunkturell“ erfüllt. Entsprechend niedrig liegt der Preis für Zertifikate. Der Umbau der europäischen Wirtschaft hin zu einer Low-Carbon-Economy erfordert aber deutliche Preissignale für die Investitionssteuerung. Anderenfalls droht ein „Lock-in-Effekt“ in kohlendioxidintensive Produktion und Stromerzeugung.

Die Übertragung der Verantwortung in Fragen des Klimaschutzes an die EU erfordert, dass Deutschland diese Politik aktiv mitgestaltet. Erst durch ein engagiertes Auftreten für ehrgeizige Klimaschutzziele auf EU-Ebene erhält das deutsche Projekt der Energiewende in seiner klimapolitischen Dimension die erforderliche Glaubwürdigkeit. Die Debatte über eine Anhebung des Ziels für 2020 in der EU sowie die Formulierung klimapolitischer Strategien in den Folgejahren sollten zum Werkzeugkasten der Energiewende gehören. Gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der klimapolitische Grundkonsenses in der EU erodiert, ist eine klare Position Deutschlands wichtig.

Die Europäische Union wird die deutsche Energiewende aller Voraussicht nach nicht in allen Facetten nachvollziehen. Zu heterogen erscheinen die energiepolitischen Ausgangslagen der 27 Mitgliedsstaaten, zu unterschiedlich sind die Strategien der nationalen Regierungen. Dennoch ist die Integration Deutschlands in die Europäische Union auch in der Energiepolitik Realität – und erfordert dementsprechend die notwendige Aufmerksamkeit. Der energiepolitische Integrationsprozess wird sich in den kommenden Jahrzehnten fortsetzen. Dies erfordert eine Perspektiverweiterung der deutschen Energiewende, die langfristig keine „nationale Angelegenheit“ mehr bleiben darf. Deutschland wird auf der Ebene der EU eindeutige Positionen im Einklang mit den Zielen der Energiewende formulieren müssen, um die Rahmenbedingungen für das „Modell Deutschland“ zu verbessern. Zu einer erfolgreichen europäischen Energiepolitik gehört es jedoch zugleich, die energiepolitischen Entscheidungen anderer Mitgliedsstaaten zu respektieren und zu akzeptieren. Von einer energiepolitischen Renationalisierung würden in erster Linie die Apologeten eines Scheiterns der Energiewende profitieren.

zurück zur Ausgabe