Die großen Fragen links der Mitte

Wenn die CDU in vier Jahren das Kanzleramt räumen soll, dann müssen hohe Hürden überwunden werden. Es genügt nicht, luftig ein neues politisches Lager auszurufen. Dieses Bündnis in spe müsste dann auch wissen, was es gemeinsam anfangen will. Und im Land müssten die Leute rufen: »Genau das ist es, was wir jetzt brauchen!« Bis dahin ist es ein weiter Weg.

Kann es in Deutschland in absehbarer Zeit eine Kanzlerin oder einen Kanzler aus einer anderen Partei als der Union geben? Bedarf es dafür zwingend einer rot-rot-grünen Zusammenarbeit? Wird diese Option angesichts der Umbrüche in der Parteienlandschaft unwahrscheinlicher? Oder führt die erneute Große Koalition am Ende zu einer neuen Ära schwarz-grüner Zusammenarbeit? Zum Glück hat sich trotz aller Dominanz des Ökonomischen noch immer so viel politische Kontingenz erhalten, dass sich sagen lässt: Das politische Gelände bleibt offen. Doch die möglichen Antworten sind nicht beliebig.

Die gesellschaftliche Verankerung der drei ehemaligen Oppositionsparteien SPD, Linke und Grüne erreichte bei der aktuellen Bundestagswahl mit 30,3 Prozent der Wahlberechtigten den tiefsten Punkt seit 1990. Nur dank der Erosion im „bürgerlichen“ Lager besitzen sie im Parlament eine knappe Mandatsmehrheit gegenüber der Union, von der sie aber keinen Gebrauch machen können. Die Zeiten einer strukturellen linken Mehrheit in der Gesellschaft scheinen vorbei zu sein, eine strukturelle bürgerlich-konservative Mehrheit zeichnet sich ab.

Die APO kommt ab sofort von rechts

Fast 16 Prozent der gültigen Stimmen wurden parlamentarisch entwertet. Weit überwiegend unterstützten sie markt- und nationalpopulistische sowie rechtsextreme Positionen, eine Minderheit ging an sozialliberale und libertäre Positionen. Die außerparlamentarische Opposition kommt ab sofort also eher von rechts als von links; im rechten Spektrum verorten sich diejenigen, die über Wahlen partizipieren wollen und um deren Stimmen gerungen werden wird. Ob und in welcher Gestalt der parteipolitische Liberalismus wieder in den Bundestag einzieht, ist offen. Das Stimmenpotenzial von Union, FDP und AfD lag im September deutlich über 50 Prozent, aber auch Union und Grüne als Parteien eines neuen Bürgertums erreichen zusammen diese Marke.

Hinzu kommt: Die außerparlamentarischen Stimmen sind, wie erste Ergebnisse der repräsentativen Wahlstatistik zeigen, eher jung. In Sachsen etwa wurden 30 Prozent der Stimmen der unter 25-Jährigen und immer noch ein Viertel der Stimmen der 25- bis 45-Jährigen durch die Sperrklausel entwertet. In Baden-Württemberg liegen die Zahlen wenige Prozentpunkte niedriger, nochmals etwas niedriger in Hamburg. Aber in Ost wie West, Stadt wie Land scheint die Tendenz eindeutig: Weit überdurchschnittlich kommen die Stimmen für die außerparlamentarische Opposition von Jüngeren. Diese suchen noch ihren Platz in der Gesellschaft, wollen ihre Themen und Anliegen auf der gesellschaftlichen Agenda repräsentiert sehen und votieren vorwiegend für rechte Positionen. Mehr als die Hälfte der außer-parlamentarischen Stimmen kommt von unter 45-Jährigen, CDU, SPD und Linke beziehen aus dieser Gruppe kaum ein Drittel ihrer Stimmen, die Grünen noch etwa 40 Prozent.

Die kleinen Leute gehen immer seltener wählen

Nur noch die Hälfte aller Wahlberechtigten ist derzeit jünger als 50 Jahre. Die Erwartungen einer alternden Gesellschaft an die Politik unterscheiden sich von denen einer jungen Gesellschaft. Verlässlichkeit, Sicherheit und ein unaufgeregter Geschäftsgang gerade auch in Zeiten ökonomischer Beschleunigung stehen bei Wahlentscheidungen höher im Kurs als Veränderung und Aufbruch. Man sollte sich vom Phänomen der „Wutbürger“ nicht täuschen lassen, die ja meist nur dann auftreten, wenn sie mit tiefen Einschnitten in ihrem direkten Umfeld konfrontiert sind.

Die wachsende politische Ungleichheit in der sozial gespaltenen Demokratie hat die Wahlbeteiligung 2013 bestätigt. Der wesentliche Teil der Wahlenthaltung verdankt sich der ausbleibenden Beteiligung von Angehörigen der sozialen Unterschicht und der unteren Mittelschicht. In Großstädten beträgt der Unterschied in der Wahlbeteiligung zwischen reichen und armen Vierteln bis zu 40 Prozentpunkte. In den unteren Einkommensschichten wiederum ist die Parteibindung an SPD und Linke überdurchschnittlich, während mit dem Einkommen und dem Vermögen die Bindung an CDU, FDP und Grüne wächst. Fast zwei Drittel der Anhänger der Linken und ein Drittel der SPD-Anhänger zählen sich selbst zum „unteren Drittel“ der Gesellschaft. Mit 85 Prozent verzeichnen die Grünen den höchsten Anteil derjenigen, die sich den „oberen zwei Dritteln“ zurechnen.

Hinter der Klassenspaltung im Wahlverhalten verbergen sich tiefgehende soziale Spaltungs- und Abdrängungsprozesse, deren Übersetzung in politisches Verhalten nicht binnen einer Wahlperiode rückgängig gemacht werden kann. Eine linke, auf Förderung der demokratischen Gleichheit setzende Politik leidet an einem zunehmenden strukturellen Stimmendefizit, wenn die leicht mobilisierbaren Wahlberechtigten vor allem den mittleren und oberen Einkommensschichten angehören, deren Interessen dadurch in den Mittelpunkt von Programmatik und Wahlkämpfen rücken. Dem „bürgerlichen“ Lager fällt es daher wesentlich leichter, Nichtwähler wiederzugewinnen. Rund ein Fünftel der Wahlenthalter der jeweiligen Vorwahl entschied sich 2009 und 2013 wieder für eine Partei, unter ihnen aber insgesamt nur ein Viertel für SPD, Grüne und Linke.

Diese Tendenzen deuten auf einen strukturellen Vorteil der Union und des „bürgerlichen“ Lagers hin, es gibt jedoch auch greifbare Gegentendenzen. Hierzu zählen abnehmende Parteibindungen und eine zunehmende Bereitschaft, auch lagerübergreifend zwischen Parteien zu wechseln. Zudem wächst die Bedeutung wahltaktischer Überlegungen sowie medial vermittelter Stimmungslagen und Personenimages für die Wahlentscheidung. Ausdruck anhaltender politischer Suchbewegungen in der Gesellschaft sind auch die schnellen, medial angetriebenen Auf- und Abstiege von FDP, Grünen, Piratenpartei und neuerdings AfD.

Unter diesen Bedingungen sind gesellschaftliche und politische Mehrheiten für einen emanzipatorisch und sozialökologisch geprägten Politikwechsel, die mehr als eine momentane Stimmungslage ausdrücken, alles andere als selbstverständlich. Die Grünen werden sich von der Bindung an die SPD lösen, in den politischen Zwischenraum zwischen SPD und Union rücken und sich pragmatisch für das „bessere“ Angebot entscheiden. Die SPD hingegen wird sich in der Regierungskoalition bald entscheiden, ob sie auf eine weitere Juniorpartnerschaft, eine Wiederbelebung des Sozialliberalismus oder auf eine sozialstaatlich-sozialökologische Erneuerung ihrer Reformpolitik setzt, wofür es eine Kooperation mit der Linkspartei und entsprechende Referenzprojekte auf der Ebene der Bundesländer bräuchte. Das Ende der „Ausschließeritis“ erweitert die Optionen vor allem in der politischen Mitte.

Ohne Lagerbildung keine Mehrheit

Tragfähige gesellschaftliche Mehrheiten für eine linksorientierte Regierung entstehen jenseits des parlamentarischen Spiels, wenn es gelingt, gewerkschaftliche, zivilgesellschaftliche und kirchliche Kräfte zusammenzuführen. Politisch belastbare Mehrheiten werden ohne eine neue Lagerbildung aber nicht zu gewinnen sein. Sie ist die Bedingung für eine Repolitisierung demobilisierter gesellschaftlicher Schichten.

Wenn die Große Koalition als Ausdruck einer Lebenshaltung von Bürgern gelten kann, die von der Politik möglichst wenig gestört und irritiert werden wollen, so lebt eine linke Regierung von Konfliktbereitschaft, von Standpunkten und Vorhaben, die den ökonomisch Mächtigen auch mal weh tun. Konfliktbereitschaft setzt jedoch die Offenlegung von Interessen und die Verpflichtung der Parteien auf bestimmte soziale Interessen voraus. Das bleibende Verdienst des SPD-Mitgliederentscheids könnte genau darin liegen: Deutlich zu machen, dass Mitgliedschaft in Parteien Vorteile hat, dass Parteien zunächst ihren Mitgliedern, dann ihren Wählern und erst über sie dem Gemeinwohl verpflichtet sind.

Weiter kommt es darauf an, wechselnde Mehrheiten und Minderheitsregierungen als Möglichkeiten des Regierens auch in Deutschland vorstellbar zu machen. Wenn der Ausgang von Abstimmungen nicht für vier Jahre festgelegt ist, wenn das Parlament nicht ritualisiert agiert, sondern in der Sache debattiert, kann sich das Interesse an parlamentarischer Politik und der Glaube an die eigenen Einflussmöglichkeiten wieder erneuern. Von Richard von Weizsäcker stammt der Satz, der Berufspolitiker hierzulande sei vor allem ein Generalist mit dem Spezialwissen, wie man politische Gegner bekämpft. Diese Wahrnehmung von links zu widerlegen, könnte dem wabernden Unbehagen gegenüber dem realexistierenden Politikbetrieb entgegenwirken, das sich kurzzeitig im Erfolg der Piratenpartei entlud.

Die Rückbesinnung auf unterschiedliche Interessenlagen macht es notwendig, Konflikte auszufechten, um Gemeinwohlorientierung über Kompromisse und demokratische Mehrheiten herzustellen. Linke Mehrheiten werden Gemeinsamkeiten zwischen heterogenen sozialen Lebenswelten und Interessenlagen stiften müssen: zwischen dem Ökobürgertum und den sozialen Unterklassen, zwischen der Kernarbeiterschaft der industriellen Exportbranchen und den um Wertschätzung ringenden Reproduktionsarbeitern, etwa im Sektor haushaltsnaher Dienstleistungen. Gemeinsamkeiten entstehen nicht in einzelnen Reformprojekten, sondern zunächst in einer lagerbildenden Interpretation der gesellschaftlichen Realität und ihrer Möglichkeiten. Reformulierte Gemeinsamkeiten in den großen Richtungs- und Ordnungsfragen ermöglichen dann die Verständigung über Reformprojekte.

Der Linkspartei wird gern vorgehalten, sie wolle den fordistischen Sozialstaat restaurieren. Da ist Wahres dran: Der alte bundesdeutsche Sozialstaat erkannte an, dass gesellschaftlicher Reichtum und individueller Wohlstand Kapital und Arbeit zu verdanken sind, weshalb beide sich auf Augenhöhe begegnen sollten. Die gesellschaftliche Wertschätzung abhängiger Arbeit, ihrer Bedürfnisse und Ansprüche an ein gutes Leben ist zwischenzeitlich den ökonomischen Verwertungsbedürfnissen und Nützlichkeitsimperativen untergeordnet worden. Dagegen wieder eine gesellschaftliche Haltung zu etablieren, die abhängig Beschäftigten existenzsichernde Löhne zugesteht, wäre ein nächster gemeinsamer Baustein. Ein weiterer bestünde darin, demokratische Partizipation durch sozialstaatliche Inklusion und Sicherheiten lebendig zu halten.

Welches Wirtschaftsmodell, welche Sicherheit?

Eine Politik der sozialstaatlichen Erneuerung wird außerdem nicht ohne eine seriöse Vorstellung eines besseren, sozialökologisch fundierten Wirtschaftsmodells auskommen, das die unterschiedlichen Interessenlagen und gesellschaftspolitischen Wertvorstellungen eines linken Lagers widerspiegelt. Dabei verbietet sich angesichts der transnationalen ökonomischen Verflechtungen, globalisierter Wertschöpfungsketten und Migrationsbewegungen eine nationalstaatliche Beschränkung. Ohne Anschluss an die Prämissen globaler Gerechtigkeit und des gleichen Rechts auf Wohlstand wird eine neue linke Lagerbildung keinen Bestand haben.

Ein weiteres unverzichtbares Element wird die Eroberung des gesellschaftlichen Diskurses über Sicherheit sein. Dabei geht es weniger um außenpolitische Fragen als um Fragen des Sicherheitsgefühls im sozialen Alltag. Es geht um Fragen der intergenerationellen wie interkulturellen Integration, des solidarischen Zusammenlebens, des wechselseitigen Vertrauens, der Verlässlichkeit sozialer Beziehungen und öffentlicher Investitionen in den sozialen Zusammenhalt. Diese entscheiden am Ende in der lokalen und städtischen Politik darüber, ob linke Reformprojekte alltagsprägende Kraft entfalten können.

Der Kern eines erneuerten linken Projekts beträfe die Einhegung des Homo oeconomicus auf das enge Feld des Ökonomischen, um „Demokratie als Lebensform“ (Oskar Negt) zu gewinnen. Würden sich die demokratisch-sozialistischen, sozialdemokratischen und sozialliberalen Strömungen innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft in solchen großen Fragen der guten und lebenswerten Gesellschaft verständigen, könnte die Anziehungskraft eines neuen politischen Lagers groß genug werden, um eine neue Ära bürgerlich-konservativer Kanzlerschaft zu verhindern.

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