Die Kosten des Wachstums



Ich habe etwas mit Friedrich Merz gemein. Als ich noch die Oberstufe meines Gymnasiums im Westerwald besuchte, hatte ich ein Mofa und Freunde mit langen Haaren. Auf meinem Mofa klebte ein Aufkleber, den damals jeder hatte, wahrscheinlich auch Friedrich Merz. Auf dem stand: „Erst wenn der letzte Baum gefällt, der letzte Fluss vergiftet und der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr feststellen, dass man Geld nicht essen kann.“ Und im Stadtrat der kleinen Stadt, dessen Mitglied ich damals war, stimmte ich gegen die Ausweisung eines neuen Industriegebiets.

Die neue Wachstumsdiskussion, wie sie auch die Berliner Republik in ihrer Ausgabe 2/2010 geführt hat, erinnert mich sehr an die frühen achtziger Jahre. Auch sie folgt dem Motto: „Geld allein macht nicht glücklich.“ Richard Layard forderte schon vor fünf Jahren, Lebensglück anstelle des Bruttoinlandsprodukts zum Erfolgsmaßstab des wirtschaftlichen Handelns zu machen. Um mehr Lebensglück zu organisieren, brauche ein Land andere Zutaten. Dazu gehören für Layard eine bessere Familienpolitik, weniger ökonomische Unsicherheit und mehr Umverteilung.

In ein ähnliches Horn stößt der Beraterkreis um den französischen Präsidenten Sarkozy, der im Herbst vergangenen Jahres seinen Bericht vorlegte. Die versammelten Ökonomen unter Vorsitz des Amerikaners Joseph Stiglitz empfahlen, das Bruttoinlandsprodukt durch das Nettonationalprodukt (NNP) zu ergänzen. Das NNP misst nicht nur das Wachstum einer Volkswirtschaft, sondern auch den Wert und die Abnutzung der menschlichen und physischen Ressourcen eines Landes. Wir können uns das Ergebnis der vergleichenden NNP-Berechnung schon vorstellen: In Europa werden uns die Dänen,
gefolgt von den anderen skandinavischen Ländern, aufgrund ihrer hohen Bildungsinvestitionen und Umweltschutzmaßnahmen den Rang ablaufen. Je nach Gewichtung der Indikatoren Natur und Bildung werden die Deutschen und die Briten hintere Plätze belegen. Im Weltmaßstab haben die ärmsten Länder ein vergleichsweise hohes NNP, da ihr Naturverbrauch geringer ist, während die Schwellenländer wahrscheinlich das Schlusslicht bilden, weil sie auf Kosten der Natur und auf dem Rücken ihrer jungen Arbeitskräfte hohe Wachstumsraten erzielen.

Gewiss ist es sinnvoll, die Kosten des Wachstums auf diese Weise zu illustrieren. Noch sinnvoller wäre es allerdings, diese Kosten nicht nur auf der Ebene der Volkswirtschaften, sondern auch für einzelne Industrien und Unternehmen auszuweisen. Damit könnten Konzepte für ressourcenschonendes Wachstum evaluiert und die Spannungsfelder klarer benannt werden. Dass Flugreisen und Zugfahrten unterschiedlich viel Ressourcen verbrauchen, ist ja noch allgemein bekannt. Wie jedoch die Selbstmordserie beim taiwanesischen Elektronikhersteller Foxconn zeigt, werden andere Formen der Ausbeutung von Menschen und Umwelt häufig nur durch Skandale aufgedeckt.

 Das Problem ist: Zurzeit wird der Verbrauch von natürlichen wie menschlichen Ressourcen zu gering besteuert, während Investitionen in sie zu gering belohnt werden. Ressourcen wie Bildung, Kinderbetreuung, Infrastruktur, Umwelterneuerung und neue Energien fallen traditionell in die Zuständigkeit der öffentlichen Hand und des Nonprofit-Sektors. Die dafür anfallenden Kosten werden dem Verbraucher dieser Ressourcen jedoch nicht im entsprechenden Umfang in Rechnung gestellt, sondern an die Allgemeinheit externalisiert.

Solange die Erdbevölkerung wächst und ein großer Teil der Welt in Armut lebt, brauchen wir Wachstum. Dieses Wachstum muss die Kosten des Verbrauchs knapper Ressourcen internalisieren. Aufgabe der Politik ist es, die bestehende Kostenstruktur durch Abgaben, Steuern und Regulierung zu verändern. Der Steuer- und Abgabenwirrwarr in Deutschland gibt jedoch wenig Grund zur Hoffnung. In den vergangenen 30 Jahren ist mit Ausnahme der Ökosteuer kaum etwas in Richtung einer ressourcenorientierten Steuerpolitik passiert.

Mittlerweile sind die Haare wieder kurz und das Mofa ist verschrottet. Wahrscheinlich muss in der Tat erst der letzte Fisch gefangen, der letzte Baum gerodet und der letzte Fluss vergiftet sein.

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