Die Lausitz zum Beispiel
Die Brandenburger Niederlausitz. Ihre Schönheit erschließt sich meist erst auf den zweiten Blick. Die Gegend ist etwas unwirtlich. Vielerorts haben Bergleute mondkraterähnliche Löcher in die Landschaft gegraben, verlassene Häuser stehen an Wegesrändern. Aber auch neue, von Menschenhand geschaffene Gebiete liegen in dieser geschundenen Region. Über viele Jahrzehnte haben die Lausitzer Braunkohle aus der Erde geholt. Sie waren die Helden der DDR-Wirtschaft. „Ich bin Bergmann, wer ist mehr?“ – so konnte man das Selbstbewusstsein der Menschen in der Lausitz beschreiben. Doch dann, kurz nach der Wende, war damit Schluss. Tausende wurden arbeitslos und standen ohne Perspektive da. Viele wanderten ab, vor allem die Jüngeren. Städte wie Hoyerswerda verloren fast die Hälfte ihrer Einwohner. Sicher, einige moderne Tagebaue und Energiezentren entstanden – doch diese technologischen Meisterwerke kommen mit vergleichsweise wenigen Arbeitskräften aus. Etliche Menschen sind immer noch damit beschäftigt, die Überbleibsel der DDR-Wirtschaft aufzuräumen – und zwar sprichwörtlich. Zehntausende Männer und Frauen fanden kurzfristige ABM und wiederholte Umschulungen. Andere blieben ohne neuen Erwerb. Viele von ihnen aber haben den alten Stolz verloren, den ihnen ihre frühere harte Arbeit verschaffte.
Heute zeigen sich in der Lausitz durchaus Zeichen des Aufbruchs: Einige sehr erfolgreiche Unternehmen haben sich angesiedelt, die Niederlausitz besitzt eine Universität und eine Hochschule mit gutem Ruf, neue Touristenattraktionen sind entstanden. Trotzdem hat diese Region eine der höchsten Arbeitslosenquoten Deutschlands – die offizielle Quote in manchen Regionen liegt bei 30 Prozent. Und das mittlerweile schon seit vielen Jahren. Die meisten Betroffenen sind langzeitarbeitslos, viele seit der Wende.
Eine Stadt, irgendwo in Ostdeutschland, Häuser voll altindustriellem Charme, viele davon leer. Doch in einem ist eine Weiterbildungseinrichtung für Langzeitarbeitslose untergebracht. Eine Gruppe besteht aus einem Dutzend Männern und Frauen, von denen manche seit 15 Jahren keine richtige Arbeit mehr haben. Jetzt versuchen engagierte Dozenten ihnen beizubringen, wie man sich richtig bewirbt. Die Arbeitslosen machen Praktika in örtlichen Unternehmen, um wieder ein Gefühl für reguläre Arbeit zu bekommen. Ob ihnen der Kurs etwas bringt? „Ich sitze seit so vielen Jahren zu Hause und warte, dass meine Frau heimkommt“, sagt ein Mann. „Sie erzählt dann von ihrer Arbeit, von ihren Kollegen, von Frust und Plänen. Aber ich wusste im Laufe der Zeit nicht mehr, was ich sagen sollte. Jetzt endlich habe ich wieder etwas zu erzählen.“ Viele seiner Kurskollegen nicken und schauen betreten nach unten. Sie waren daran gewöhnt, hart zu arbeiten. Doch mit den Jahren sank ihr Mut, wurde Hoffnung zu Perspektivlosigkeit.
Viel Frust, aber keine Fachkräfte
Ein Dorf am Rande Brandenburgs. Eine Schülergruppe der 10. Klasse diskutiert über ihre Heimat und ihre Zukunft. Nur: Diese beiden Begriffe gehören hier nicht zusammen. Viele Hände heben sich auf die Frage, wessen Vater oder Mutter arbeitslos sei. Die meisten der 16-Jährigen gehen davon aus, eine Lehrstelle oder einen Job nur im Westen finden zu können. Dabei klagen die ersten Unternehmen der Region bereits, sie fänden vor Ort keine Fachkräfte mehr. Der Frust der Elterngeneration hat sich zu den Kindern durchgearbeitet.
15 Jahre nach der Wende gibt es im Osten Deutschlands ganze Regionen, die sich abgehängt fühlen. Die Lausitz, die Altmark, Vorpommern, das Erzgebirge – überall dort haben die Menschen die Hoffnung verloren, dass sich noch einmal grundsätzlich etwas zum Besseren wenden könnte. Hier sind soziale Brennpunkte entstanden, bei denen wir im Moment nicht wissen, wie es weitergehen soll. Eine Studie aus dem Jahr 1933 behandelt diese Situation sehr eindrücklich und ohne ihre Aktualität verloren zu haben. Sie beschreibt ein Dorf, das über Nacht nahezu komplett arbeitslos geworden ist: „Das gleichmütig erwartungslose Dahinleben, die Einstellung: man kann ja doch nichts gegen die Arbeitslosigkeit machen, dabei eine relativ ruhige Stimmung, sogar immer wieder auftauchende Augenblicksfreude, verbunden mit dem Verzicht auf eine Zukunft, die nicht einmal in der Phantasie als Plan eine Rolle spielt“.
Entwurzelung und Entwertung
In den neuen Bundesländern, aber nicht nur dort, ist ein „neues Unten“ entstanden. Seit nunmehr zehn Jahren gibt es im Osten Deutschlands kein nennenswertes Wirtschaftswachstum mehr. Eine so lange Phase wirtschaftlicher Stagnation muss Spuren hinterlassen, zumal sie unmittelbar auf eine äußerst radikale wirtschaftliche und soziale Transformation folgte. Der Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie entwurzelte Menschen, entwertete Fähigkeiten und enttäuschte Hoffnungen. Viele Menschen wurden in Maßnahmen geparkt, immer wieder versprach man ihnen, bald würden auch sie in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt. Und sie erlebten, wie die staatliche Unterstützung immer geringer ausfiel, die Lage sich jedoch nicht besserte. Am stärksten betroffen ist die Generation der um die Wendezeit 40-Jährigen. Sie sind heute Mitte 50 – und in eben dieser Altersgruppe ist die Linkspartei im Osten stärkste Kraft geworden.
Doch nicht nur Arbeitslose haben Vertrauen verloren. Der Weg in die zunehmend wissensintensive Wirtschaft hat viele Menschen verunsichert. Dies alles ist beileibe kein Thema nur der neuen Länder – auch im Westen bereitet die neue Zeit vielen Menschen Sorgen. Auch hier gibt es Facharbeiter, die zwar einen Job, aber dennoch kaum genug Geld zum Leben haben; Menschen, die um ihre Zukunft fürchten; Menschen, die nicht mehr teilnehmen am gesellschaftlichen Leben. Wirklich neu ist dieses „neue Unten“ schon längst nicht mehr. Eine strukturlle Kluft hat da sich aufgetan, die der Politologe Franz Walter als „Wohlstands- und Erlebnisgraben zwischen Gewinnern und Verlierern“ der postindustriellen Gesellschaft beschreibt. „Die einen wachsen in noblen Vierteln mit höchster Lebensqualität heran, die anderen hausen in verödeten Quartieren ... Die Kinder der einen machen Sprachreisen, gehen zum Schüleraustausch nach Amerika; die Sprösslinge der anderen kennen nicht einmal die Erfahrung von familiären Ausflügen.“ Wohlgemerkt: Die neue Kluft tut sich nicht zwischen Ost und West auf, sondern zwischen denen, die im ICE sitzen und denen, die auf verödeten Bahnsteigen auf den nächsten Bummelzug warten – oder, wahrscheinlicher noch, überhaupt nirgendwo mehr hinfahren.
Wo die Arbeiterpartei keine mehr ist
All dies führt zu großem Frustrationspotenzial unter den derart Abgehängten. Die Bundestagswahl 2005, aber auch schon vergangene Landtagswahlen haben gezeigt, dass sich solche Perspektivlosigkeit politisch entladen kann. In den peripheren Regionen Ostdeutschlands ist die neuerdings umbenannte PDS besonders stark, aber hier profitieren auch die Rechtsradikalen am meisten. Die Sozialdemokraten haben viel politischen Kredit verloren. Die alte Arbeiterpartei ist keine mehr. Nur 29 Prozent der Arbeiter im Osten haben bei der Bundestagswahl 2005 die SPD gewählt, genauso viele die Linkspartei. Unter den Arbeitslosen kommen die Sozialdemokraten dort nur noch auf 26 Prozent, die PDS auf 42 Prozent. Und auch in den alten Ländern verschiebt sich das Koordinatensystem: Jeder zehnte Arbeiter und jeder fünfte Arbeitslose hat die Linkspartei gewählt. Die größten Zuwächse haben die Lafontainisten im Westen bei den 45- bis 59-Jährigen erreicht.
Mehr Ehrlichkeit würde helfen
Politisch gesehen ist dies für die Sozialdemokraten eine unkomfortable Situation. Ihre politische Identität, aber auch ihre strategische Mehrheitsfähigkeit, beruht auf einer starken Unterstützung durch Arbeiter, Gewerkschafter und Arbeitslose. Die SPD war einmal das Vehikel des sozialen Aufstiegs, doch diese Verknüpfung ist verloren gegangen. Zu sehr steht der Sozialstaat unter Druck – durch demografische Veränderungen, durch den in Deutschland viel zu lange verschleppten Übergang in Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, durch den härter gewordenen wirtschaftlichen Wettbewerb.
Doch wenn die SPD wieder überzeugend Wahlen gewinnen will, muss sie sich darüber Gedanken machen, wie sie dieses „Unten“ wieder für sich gewinnen will. Die SPD hat sich verbürgerlicht, hat den Kontakt zu Menschen verloren, die zu Hause sitzen und nicht mehr wissen, was sie erzählen sollen. Für den Anfang würde mehr Ehrlichkeit helfen. Gute Politik fängt damit an, dass man ausspricht, was ist. Es ist offensichtlich, dass 55-Jährige, die über zehn Jahre lang arbeitslos waren, mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr in den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln sein werden. Da kann die Arbeitsverwaltung noch so gut sein. Vielmehr müssen wir uns Gedanken machen, wie wir diesen Menschen einen vernünftigen Übergang in die Rente ermöglichen und ihnen ein sicher bescheidenes, aber auskömmliches Leben im Alter sichern können.
Klar ist: Viele Menschen werden aufgrund der andauernden Langzeitarbeitslosigkeit auch in Zukunft nicht auf Rosen gebetet leben. Doch auch mit mehr Transfergeld – und genau hier irren die vermeintlich „Linken“ am meisten – würde das Lebensglück nicht zurückkehren. Der entscheidende Punkt ist die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, die Integration in die Gemeinschaft, sind Mut und Elan, sich selbst für andere einzubringen. Dies vor allem ist vielen Menschen verloren gegangen. Der permanente Druck, Arbeit zu suchen und dabei ein ums andere mal eine Abfuhr erteilt zu bekommen, kann zwangsläufig nur zu Frustration und Verzweiflung führen. Diesen Kreislauf müssen wir durchbrechen. Deshalb brauchen wir aktive Arbeitsmarktpolitik zuförderst als Politik der sozialen Aktivierung. Eine solche Politik muss das Ziel haben, die Menschen in die Gesellschaft zu integrieren, sie am Leben teilhaben zu lassen – ohne vorzugaukeln, sie werde zurück in den Arbeitsmarkt führen.
Innovation und menschliches Maß
Darüber hinaus müssen wir nach Wegen suchen, wie moderne Wirtschaft kombiniert werden kann mit mehr Menschlichkeit. Der Ruf der Ökonomen nach mehr Flexibilität und Mobilität hat einen hohen Preis – einen sozialen, aber auch einen politischen. Hier ist neues Denken gefragt. Richard Layard gibt in seinem inspirierenden Buch über Die glückliche Gesellschaft zu bedenken: „Eine Gemeinschaft, in der ein ständiges Kommen und Gehen herrscht, ist selten ein besonders freundliches Lebensumfeld.“ Layard verweist auf höhere Kriminalität, geringeres Vertrauen, seelische und geistige Krankheiten. Darüber hinaus mahnt Layard, dass die stets eingeforderte Flexibilisierung „wenig sinnvoll“ sei, wenn man Vollbeschäftigung und ein gutes Arbeitsklima anstrebt. Wir müssen endlich eine neue Debatte führen, wie wir die Anforderungen an eine moderne innovative Wirtschaft kombinieren können mit „menschlichem Maß“ (Johannes Rau).
Wenn Arbeitnehmer verunsichert sind über unsichere Arbeitsverhältnisse, wenn Löhne nicht auskömmlich sind, wenn 50-Jährige zum „alten Eisen“ sortiert werden oder Mobilität Familien zerreißt, dann ist es kein Wunder, wenn immer mehr Menschen diesen Anforderungen grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen. Hier sind gerade Sozialdemokraten gefragt. Natürlich geht es nicht darum, die Grenzen dicht zu machen oder 1.400 Euro monatlich für alle zu versprechen. Solche illusionären Forderungen sollte man getrost den Linkspopulisten überlassen. Vielmehr kommt es darauf an, die Anforderungen einer wettbewerbsfähigen Ökonomie zu vereinen mit sozialem Augenmaß. Der ehemalige dänische Premierminister Poul Nyrup Rasmussen hat dafür den Begriff der „Flexicurity“ gefunden – er steht für eine Verbindung von Flexibilität und Sicherheit mit dem Ziel, „Menschen zu helfen, damit sie die Hürden überwinden können, die zwischen ihnen und dem Arbeitsmarkt stehen“. Mit diesem Modell ist man in Dänemark, in Großbritannien, in Finnland und in Schweden bereits recht erfolgreich gewesen. Es lohnt sich sehr, ihn genauer unter die Lupe zu nehmen.
Ohne Bildung ist alles nichts
Für diese Diskussion werden viel Überzeugungskraft, Augenmaß und Sensibilität nötig sein. Dies muss gepaart werden mit einer sozialdemokratischen Politik, die auch weiterhin die politische Mitte umwirbt und gleichzeitig sozialen Randgruppen Perspektiven aufzeigt. Dazu brauchen wir eine vernünftige Politik der Mitte, die gleichzeitig neue Brücken in das verloren gegangene Milieu der sozial Schwachen schlägt. Dazu brauchen wir eine moderne Familienpolitik, mit der die Rahmenbedingungen für Familien kontinuierlich verbessert werden. Dazu brauchen wir eine moderne Bildungspolitik, die Kinder entsprechend ihren Fähigkeiten bereits ab dem Vorschulalter fördert und fordert. Matthias Platzeck hat einmal mit der These provoziert, dass Bildung zu dem Wichtigsten zählt, was man Menschen in peripheren Regionen bieten könne. Recht hat er. In erster Linie wird es darum gehen, kein einziges Kind zurückzulassen. Und dazu gehört ein enges System von Familienberatung und -betreuung.
Für eine neue Kultur des Hinschauens
Zurück in die Niederlausitz, nach Lauchhammer. Hendrik Karpinski ist der Chefarzt der dortigen Kinderklinik. Er sagt: „Wir machen Kinder hier gesund. Aber wenn wir sie entlassen, wissen wir, dass die Probleme nicht gelöst sind. Wir müssen das System Familie in den Blick nehmen.“ Der Blick in die Landkreise bestätigt dies – die Kosten für die Jugendhilfe haben sich in den vergangen Jahren verdoppelt. Seit kurzem baut Karpinskis Kinderklinik ein Familienzentrum auf, das auf eine enge Zusammenarbeit zwischen Kinderärzten, Kitas, Schulen, Ämtern und Eltern setzt. Man verspricht sich davon, Probleme in Familien frühzeitig zu erkennen und unterstützend einzugreifen. Für diese Unterstützung sollen auch ehrenamtliche Freiwillige als Paten gewonnen werden. Das Ziel ist eine umfassende „Kultur des Hinschauens“, die es ermöglicht, Familien zu stärken und Kindern eine optimale Entwicklung zu ermöglichen. Dieses Modell wird dazu beitragen, den Kreislauf von Frustration und Hoffnungslosigkeit zu unterbrechen. Es kann helfen, Menschen zusammenzubringen, die sich um ihre Region und ihre Mitmenschen sorgen. Nur so können wir zu einem neuen Miteinander kommen, das Menschen stark macht.
Eine soziale Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, eng verknüpft mit aktiver Familien- und Bildungspolitik, ist der Schlüssel dafür, dass verunsicherte und an den Rand der Gesellschaft gedrängte Menschen einen Weg zurück in die Mitte der Gesellschaft und neue Lebenschancen finden können. Die SPD täte gut daran, diesen integrierten Weg zu ebnen – und zwar im Osten und im Westen. Tut sie es nicht, wird es niemand tun.