Die Lektion ist noch längst nicht gelernt
Ebenso wie das Nagelbomben-Attentat in der Kölner Keupstraße vor zehn Jahren am 9. Juni 2004 ein Terrorakt mit rechtsextremistischem Motiv war, so war der Mord an Marwa El-Sherbini mitten im Gerichtssaal in Dresden eine heimtückisch geplante und islamfeindliche Tat. Am 1. Juli 2014 jährt sich der Mordanschlag auf Marwa El-Sherbini zum fünften Mal. Zusammen mit dem sächsischen Justizminister werde ich an der eigens eingerichteten Gedenktafel im Dresdner Landesgericht weiße Rosen niederlegen – wie jedes Jahr.
Aber reicht das, um wirklich zu sagen: nie wieder? Und: Was machen wir konkret, um dem Wiedererstarken der Rechten in unserem Land und in Europa Einhalt zu gebieten? Dies sind Fragen, die einem gerade in diesen Tagen durch den Kopf gehen und nicht loslassen.
Die Opfer wurden zu Tätern gemacht
Auch zehn Jahre nach dem furchtbaren Attentat in Köln und zweieinhalb Jahre nach der Aufdeckung der NSU-Terrorzelle sind die fahrlässigen polizeilichen Ermittlungen erschreckend. Zur Erinnerung: Die Sicherheitsbehörden machten die Opfer zu Tätern, indem sie rechten Terror kategorisch ausschlossen und die Täter stattdessen jahrelang in türkischen und kurdischen Mafiakreisen wähnten, ohne Beweise dafür zu haben. Die Presse begleitete die Ermittlungen weitgehend unkritisch. Dieses Vorgehen entsprang auch der gesellschaftlichen Stimmung gegenüber Muslimen und Migranten zu jener Zeit: Das Attentat in Köln fand drei Jahre nach dem 11. September 2001 statt.
Rechtsextremisten und Neonazis wussten die geschürte Angst vor „dem Islam“ auszunutzen und konnten im Schatten des Antiterrorkrieges gegen muslimische Terroristen ihre Hassparolen zunehmend unbehelligt verbreiten. Diese Parolen leisteten dem offenen und versteckten Rassismus im Allgemeinen und speziell dem antimuslimischen Rassismus Vorschub. Mit den Folgen haben die Betroffenen in unserem Land bis heute täglich zu kämpfen.
Wir brauchen endlich eine kritische Analyse dieser Geschehnisse, damit so etwas nie wieder passieren kann. Wir sollten nicht nachlassen in unseren Bemühungen, für eine vollständige Entschädigung der Opfer einzutreten, für eine lückenlose Aufarbeitung des Anschlags sowie des gesamten NSU-Komplexes – und für eine ernsthafte und nachhaltige Bekämpfung des Rassismus sowie der Diskriminierung von Menschen anderer Religion, Hautfarbe und Herkunft. Die Demokratie muss stets wachsam sein und die Freiheit jedes Bürgers verteidigen. „Demokratie wagen“ heißt im konkreten Fall: Rassismus, auch Alltagsrassismus mutig zu benennen – und bereit zu sein, diesen zu bekämpfen.
Einstimmig hat der Bundestag seinen Willen bekundet, die 50 Empfehlungen des Untersuchungsausschusses zu der Mordserie, die dem NSU angelastet wird, in die Tat umzusetzen. Auch die Regierung und die Länder sollen diesen Forderungskatalog „zügig und umfassend“ verwirklichen, wie es in dem von allen Fraktionen eingebrachten Antrag heißt. Konkret kündigte der sozialdemokratische Justizminister Heiko Maas einen Gesetzentwurf an, der als Konsequenz aus der NSU-Affäre die Rolle des Generalbundesanwalts bei Ermittlungen zu gravierenden Staatsschutzdelikten stärken soll.
Handelte der NSU tatsächlich allein?
Meiner Meinung nach geschieht im Kampf gegen den militanten Rechtsextremismus aber immer noch zu wenig. Zu viele Akteure haben die Lektion aus dem NSU-Terror noch nicht gelernt. Zu viele flüchten sich noch immer in die Theorie der Einzeltäterschaft. Eva Högl (SPD) betonte kürzlich, sie und ihre Kollegen Petra Pau (Obfrau der Linkspartei im Ausschuss) sowie Clemens Binninger (CDU-Obmann) bezweifelten die These eines isolierten Terrortrios mittlerweile. Es müsse ein breites Netzwerk gegeben haben, sagte sie. Natürlich hat sie Recht.
Die Liste der offenen Fragen im NSU-Komplex ist auch heute noch lang. So lang, dass im Verfahren gegen Beate Zschäpe, Ralf Wohlleben und drei weitere Angeklagte viele Aspekte ausgeklammert werden, um überhaupt deren strafrechtliche Schuld verhandeln zu können. Beispielsweise drängen Nebenkläger darauf, das mutmaßliche Netzwerk hinter dem NSU auszuleuchten und die Rolle des Geheimdienstes stärker zu untersuchen. Der so genannte NSU-Prozess ist eben nicht nur ein Strafprozess, sondern in München wird die Frage zu klären sein, inwieweit auch Teile der Politik und der Sicherheitsbehörden in den NSU-Terror mit seinen bis jetzt bekannten knapp 150 Helfershelfern verwickelt sind.
Die zufällige Aufdeckung des Rechtsterrorismus in Form des NSU hat uns allen deutlich vor Augen geführt, wie es um die Sicherheit von Minderheiten und besonders der Muslime bestellt ist. Angesichts von etwa 30 bekannt gewordenen Anschlägen auf islamische Einrichtungen in Deutschland allein im Jahr 2012 wurde das Sicherheitsempfinden der muslimischen Bürger in Deutschland stark beschädigt.
Die islamischen Religionsgemeinschaften sind äußerst besorgt darüber, wie es um den Schutz jedes Einzelnen und ihrer Gotteshäuser bestellt ist. Die im vergangenen Jahr im Zuge der Ermittlungen gefundenen Namen und Adressen von islamischen Einrichtungen und hochrangigen Repräsentanten auf der so genannten Todesliste der NSU-Terroristen trugen zusätzlich zu dieser Verunsicherung bei.
Rassismus und Rechtsterror kamen nicht aus dem luftleeren Raum, sondern ihre Vorläufer waren die Anschläge in Mölln (1992) und Solingen (1993). Die oft undifferenzierte Medienberichterstattung und die Verwendung unsachgemäßer Begriffe in Bezug auf Ausländer und Muslime haben zusätzlich zu einem schlechteren gesellschaftlichen Klima beigetragen und damit den Rechtsextremismus begünstigt.
Nicht nur die Hinterbliebenen und Familien der Terroropfer stellen sich jeden Tag aufs Neue die Frage, was Beamte unseres Staates darüber wussten und inwieweit Behörden für die begangenen Straftaten und Morden mit verantwortlich sind. Die Beantwortung dieser gesamtgesellschaftlich essenziellen Frage und die Art und Weise des Umgangs mit diesen Erkenntnissen wird weit mehr über das zukünftige Zusammenleben von Bürgern unterschiedlicher Religion, Hautfarbe und Kultur in Deutschland aussagen und bestimmen, als uns heute bewusst ist.
Rassismus in Behörden bekämpfen
Deswegen fordert der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) Reformen im Bereich der Polizei- und Geheimdienstarbeit sowie bei der politischen Aufarbeitung des Rassismus in Deutschland: „Leistet die Politik dies nicht, werden sich weitere Katastrophen in unserem Land ereignen, und wir werden wieder neue Opfer beklagen.“
Konkret schlägt der ZMD erstens einen „Antirassismusbeauftragten“ vor, der dem Parlament einen jährlichen Bericht vorlegt. Er sollte zudem rassistische Fehlentwicklungen in Behörden erfassen und ihnen mittels Antirassismus-Coachings und Sensibilisierungsmaßnahmen entgegenwirken. Zweitens fordert der ZMD einen „Nachrichtendienstbeauftragten“ nach dem Vorbild des Wehrdienstbeauftragten, der gemeinsam mit dem Parlamentarischen Kontrollgremium (PKG) die Geheimdienste kontrolliert.
Die Europawahl liegt einige Wochen zurück. Der Schock sitzt tief, dass die Rechten so viele Stimmen bekommen haben, besonders in Großbritannien, Frankreich, Österreich, Ungarn oder den Niederlanden. Überraschend ist das Ergebnis allerdings nicht. Denn je mehr wir uns an Slogans wie von der rechtsradikalen ungarischen Jobbik-Partei oder an Säuberungsaktionen in den Niederlanden („Wir wollen keine Marokkaner“) gewöhnen, desto weniger sind wir imstande, uns zu wehren – und desto weniger fühlen sich Migranten oder Neudeutsche hierzulande tatsächlich aufgenommen.
Viele Parteien gelten als verschlissen
Der Rechtsruck in Europa kann der Demokratie nachhaltig Schaden zufügen. Derzeit haben Polarisierer und Schwarzweißseher die Oberhand am Stammtisch, und viele etablierte Parteien sind entweder verschlissen oder unfähig, ihnen mit Programmen, Anständigkeit und Reputation etwas entgegenzusetzen. Zur Wahrheit gehört, dass die Bürger der Politik nicht mehr zutrauen, die drängenden Probleme zu lösen. Die Gründe dafür sind unter anderem die europäische Schulden- und Bankenkrise, aber auch die politischen Krisen etwa in der Ukraine oder in der arabischen Welt. In dieses Vakuum stoßen nun die Rechten mit ihren einfachen Slogans und ihrem „Wir schaffen Europa ab“-Populismus.
Ihnen kommt entgegen, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich unaufhaltsam öffnet. Dadurch können sie Migranten und Muslime als Sünden-böcke abstempeln und für ihre Propaganda instrumentalisieren. Die einzige Chance dem vorzubeugen, sehe ich darin, dass es den Parteien wirklich gelingt, die Kluft zwischen Arm und Reich zu schließen – ebenso wie den Einfluss der Lobbyisten zu durchbrechen.
Die Politik sollte nicht die Anliegen einzelner Interessenvertreter, sondern die Interessen des mündigen Bürgers im Blick haben. Auch die Medien können eine entscheidende Rolle spielen, indem sie sich mehr denn je als Anwalt der Bürger verstehen.