Die neue Frauenfrage
Es ist heute kaum noch vorstellbar: Bis 1957 brauchten Frauen in Westdeutschland die Zustimmung ihres Ehemanns, wenn sie ein eigenes Konto eröffnen wollten. Und noch bis 1977 bestimmte das Bürgerliche Gesetzbuch in § 1356, dass Frauen zur Erwerbstätigkeit nur berechtigt seien, „soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist“. Daraus leitete man die Zustimmungspflicht des Ehemanns ab, wenn es um die Arbeitsaufnahme von Frauen ging. Der Gedanke mutet bizarr an, dass Angela Merkel ihren Mann um Erlaubnis bittet, das Abendessen schwänzen zu dürfen. Und auch die ehemalige amerikanische Außenministerin Hillary Clinton, die Facebook-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg oder die sozialdemokratische Ministerpräsidentin von Dänemark, Helle Thorning-Schmidt, sind Zeuginnen dafür, dass die Gesellschaft heute mit solchen Vorstellungen endgültig abgeschlossen hat.
Jungen Frauen steht fast alles offen
Jungen Frauen stehen inzwischen fast alle Berufe offen, die der Arbeitsmarkt zu bieten hat. Von der Bundeskanzlerin bis zum weiblichen General in der Bundeswehr – alles ist möglich. Nur noch die katholische Kirche und der Islam versperren Frauen den Zugang zu hohen Ämtern. In Schulen und Familien wird heute nicht nur großer Wert darauf gelegt, dass Mädchen die akademischen Fähigkeiten erwerben, um später im Berufsleben erfolgreich zu sein, sondern auch darauf, dass sich ihr Horizont auf Männerberufe erweitert. Büros und Labore organisieren Girls’ Days, um Mädchen die grenzenlose Welt der Berufe näherzubringen. Es gibt Stipendienprogramme für Frauen in den Naturwissenschaften und Förderprogramme, um den Frauenanteil in der Professorenschaft zu erhöhen. All dies stellt einen massiven Umbruch der Stellung der Frau in modernen Gesellschaften und in der Menschheitsgeschichte dar. Über Jahrhunderte hinweg waren Frauen fast ausschließlich durch ihre geschlechtsspezifische Rolle definiert sowie auf häusliche, pflegende und erziehende Rollen festgelegt. Derweil führten die Männer Kriege und erfanden Maschinen.
Fast hundert Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland und fünfzig Jahre nach der rechtlichen Gleichstellung von Frauen durchleben wir heute wieder eine Phase der Neuorientierung von Geschlechterbeziehungen. In den Vereinigten Staaten bestimmen derzeit zwei Frauen die Diskussion: Die ehemalige Dekanin der Woodrow Wilson School in Princeton, Ann-Marie Slaughter, stieß die Debatte an. Sie hatte erkannt, dass sie ihre Position als Chefberaterin von Hillary Clinton mit zwei Söhnen im Teenager-Alter nicht adäquat ausfüllen konnte. Das Pendeln nach Washington und die mörderischen Arbeitszeiten stellten eine Gefahr für ihre Familie dar, die sie nicht weiter verantworten wollte. Also legte sie ihren Posten nieder. Ihr Artikel „Why Women Still Can’t Have it All“ wurde heftig kritisiert: Eine privilegierte Professorin erkennt, dass es Grenzen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf gibt. Millionen Frauen leben mit dieser Erkenntnis jeden Tag. Anstatt zu realisieren, dass auch Männer für ihre Karriere auf Familienleben verzichten, klagt sie die Gesellschaft an.
Warum Mütter nicht Karriere machen
Sheryl Sandberg von Facebook vertritt in ihrem Buch Lean In die andere Seite der Debatte. Sandberg beschreibt, dass Frauen sich der Geschäftswelt anpassen müssen, um nach oben zu kommen, und dass sie unterwegs nicht zu viele Ansprüche an die Männer stellen sollten. Vielleicht besteht der Unterschied zwischen Slaughter und Sandberg darin, dass die Welt der Politik noch rigider ist als die Welt der Technologieindustrie. Oder dass es Slaughter nicht weit genug nach oben geschafft hat. In einem jedenfalls sind sich die beiden Frauen einig: Kinder brauchen gemeinsame Zeit mit ihren Eltern. Nicht alles lässt sich wegorganisieren. Und eine Karriere ohne Familie wollen beide nicht.
In Deutschland gibt es keine Ann-Marie Slaughter und keine Sheryl Sandberg. Hier wird ein anderer Diskurs geführt. Zum einen ist die Zahl der Frauen in Topfunktionen erheblich geringer als in den Vereinigten Staaten. Zum anderen sind Mütter in Führungspositionen nahezu nicht vorhanden. Mutterschaft und Karriere – das ist das große Tabu der deutschen Wirtschaft. Leider ändert Ursula von der Leyen daran auch nur wenig, weil ihr Lebensentwurf zu weit von der Realität junger Frauen entfernt ist.
Frauen in Deutschland werden sehr frühzeitig auf die Entscheidung „Kinder oder Karriere“ getrimmt. Ob es nun an der Halbtagsschule liegt, an den fehlenden Möglichkeiten der Kinderbetreuung, am Ehegattensplitting oder am Erziehungsgeld – alle familienpolitischen Faktoren zeigen in die gleiche Richtung: Der Vater ist vollzeiterwerbstätig und karriereorientiert, die Mutter ist teilzeiterwerbstätig und verdient hinzu. Vor diese Wahl gestellt, entscheiden sich viele hochqualifizierte Frauen ganz gegen Kinder. So sind nach Angaben des Familienreports 2012 mehr als 30 Prozent der Akademikerinnen im Alter von 40 Jahren kinderlos.
Demnach wachsen junge Frauen in einem grundsätzlich widersprüchlichen Umfeld auf. Bis zum Ende des Studiums und zu Beginn ihres Berufslebens werden sie auf den unterschiedlichsten Ebenen gefördert. Sobald jedoch die Frage der Familiengründung ansteht, fällt nicht nur die Förderung weg, sondern sie werden in ein familienpolitisches Korsett der sechziger Jahre verpflanzt. Dort einmal angekommen und mit den unterschiedlichen Transferleistungen von Kindergeld, Elterngeld, Ehegattensplitting und kostenloser Mitversicherung ausgestattet, ist ihr Platz in Familie und Gesellschaft zementiert. Zwar braucht die Frau von heute nicht mehr die Unterschrift ihres Mannes, wenn sie arbeiten möchte. Sie braucht aber den engagierten Partner und Vater, der sich um die Kinder kümmern will und ihr trotz aller familienpolitischen Hürden den Rücken freihält.
Die gesellschaftliche Realität von Frauen in Deutschland ist also weit entfernt von der Verheißung, ein gleichberechtigtes und gleichgestelltes Leben führen zu können, wie sie es in der Schule hören. In Wirklichkeit kann die Frau zwischen zwei Übeln wählen: Bleibt sie kinderlos, entscheidet sie sich gegen ihren Wunsch und hat nur geringfügig bessere berufliche Aussichten. Entscheidet sie sich für Kinder, geht es rückwärts in die Vergangenheit. Und dieses Dilemma ist nicht auf die Akademikerinnen begrenzt. Es wird dort nur deutlicher, weil die Opportunitätskosten einer gut qualifizierten Frau so viel höher sind als die von unqualifizierten Frauen. Die Erwartung an den Beruf und das damit verbundene Einkommen liegen einfach deutlich über dem, was sie letztlich als Teilzeitkraft erreicht.
Bei geringer qualifizierten Frauen kommt hinzu, dass die typischen Frauenberufe durchweg schlechter entlohnt werden. In einer Familie mit einem Werkzeugmacher und einer Erzieherin ist es keine Frage, wer mit dem ersten Kind zu Hause bleibt. Erschwerend kommt hinzu, dass Gehaltseinbußen aufgrund von Teilzeitbeschäftigung der größte Faktor zur Erklärung der Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen sind, wie eine Studie des HWWI Hamburg aus dem Jahr 2013 zeigt. Einmal in Teilzeit ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, gehaltsmäßig langfristig mit den Kollegen mitzuhalten.
In den durchweg männerdominierten Vorständen der Unternehmen wurde zudem die Welt der sechziger Jahre weitgehend konserviert. Dass der Arbeitsmarkt am unteren Ende pluralistischer geworden ist, während die männlichen Vorstände weiter unter sich bleiben, deutet auf fortwährende Ausschließungsmechanismen und systematische Diskriminierung hin. Denn auch die 30 Prozent kinderlosen Akademikerinnen machen nur in den seltensten Fällen richtig Karriere. Unternehmensvorstände sind nach wie vor von Selektionsmechanismen gekennzeichnet, die sich immer wieder mit den gleichen Charakteristika reproduzieren.
Das Politikinteresse von Frauen sinkt
Doch mit welchen Folgen? Hier wird es interessant: Einiges spricht dafür, dass die heutige Frauen-Generation im Alter zwischen Mitte 20 und Mitte 40 von diesem Spiel so langsam die Nase voll hat. Gut qualifiziert und hoch motiviert starten sie durch, um zehn Jahre später entweder beim Kuchenbacken oder an der Hotelbar zu landen, wo sie sich anzügliche Witze anhören müssen. Diese Frauen wenden sich ab von der Vereinbarkeitsillusion und von der Aufforderung, im Hamsterrad der Karriereplanung mitzuhecheln mit dem Ziel, doch noch an die Stellen zu gelangen, für die sie qualifiziert sind. Für sie wird die Rolle der teilzeitbeschäftigten Mutter dann plötzlich wieder interessant, weil man dabei relativ zeitautonom und vergleichsweise stressfrei eigene Interessen verfolgen kann. Die oft geschmähte und beschimpfte Latte-Macchiato-Mutti vom Prenzlauer Berg wird somit zur modernen Aussteigerin, die hoch gebildet dem Establishment die kalte Schulter zeigt. Jede Frau, die heute versucht, Kindererziehung mit anspruchsvoller Erwerbstätigkeit zu verbinden, kann das nachvollziehen.
Das alles hat mehr mit der Quote zu tun, als es auf den ersten Blick scheint. Die fehlende Bereitschaft der großen Unternehmen, sich im 21. Jahrhundert mit der Frage der Gleichstellung ernsthaft auseinanderzusetzen, ruft die grundsätzlich gleichheitsorientierte Politik auf den Plan. Die Quotendiskussion ist ein Versuch, die Frauen trotz aller Widerstände aus der Reserve und in die Unternehmen und Politik zu locken. Einige weitsichtige Manager und Politikerinnen haben erkannt, dass ihnen die Frauen langfristig ganz die Gefolgschaft aufkündigen werden, wenn man ihnen immer nur einen Platz am Katzentisch anbietet, anstatt sie als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu behandeln. Das politische Engagement und Interesse von Frauen lässt spürbar nach: Die letzten beiden Parteigründungen, die Piraten und die Alternative für Deutschland, sind sehr stark von Männern dominiert. Bei Frauen rufen sowohl die Themen (Netzpolitik! Euro!) als auch die Formen (langwierige Kongresse an Wochenenden) nur müdes Lächeln hervor. Auch werden Frauen immer weniger berechenbar in Bezug auf ihre Wahlentscheidungen, und sie neigen in viel höherem Maße zu parteipolitischer Unentschiedenheit als Männer. So sind laut einer aktuellen Nichtwählerstudie von Pro7SiebenSat.1 derzeit volle 61 Prozent der Frauen (aber nur 39 Prozent der Männer) noch unentschlossen, ob sie im September wählen gehen werden. Angesichts der für sie bereitgestellten politischen Angebote ist dies auch kein Wunder.
Niemand greift das Thema offensiv auf
Derzeit greift einfach keine Partei die großen Frauenthemen ernsthaft auf: Das uneingelöste Gleichstellungsversprechen wird den Frauen selbst angelastet (so etwa von Bascha Mika mit ihrer These von der „Feigheit der Frauen“), und die Vereinbarkeitsfrage wird auf Kindergartenplätze reduziert. Gleichzeitig sind Frauen am stärksten von Kürzungen im öffentlichen Dienst und in der Sozialpolitik betroffen. Und die Politik weicht dem Thema direkter oder mittelbarer Diskriminierung ebenso aus wie dem grassierenden Alltagssexismus.
Die Diskussionen über die Quote oder die Versuche von Peer Steinbrück, mit Frauen ins Gespräch zu kommen, sind intuitive Reaktionen auf ein schwer zu lösendes Problem. Für eine Lösung müssten sich die Parteien viel offensiver mit den Lebensentwürfen von Frauen auseinandersetzen und mit den Zumutungen, denen sie ausgesetzt sind.
Beispiel Ehegattensplitting: Der Schutz von Ehe und Familie kann schlechterdings nicht über eine steuerliche Behandlung von Ehepartnern zum Ausdruck kommen, die den einen Partner dauerhaft diskriminiert. Im Übrigen weisen Länder mit Individualbesteuerung wie etwa Großbritannien deutlich höhere Geburtenraten auf als Deutschland. Das ist soweit verstanden. Allerdings muss alles Streben nach Umsteuerung mit dem Problem zurechtkommen, dass sich viele Familien mit den bestehenden Strukturen arrangiert haben und nicht für frühere Entscheidungen bestraft werden sollten. Aber die Botschaft sollte klar sein: Gleichstellung bedeutet gleiche Besteuerung plus bessere Unterstützung im Arbeitsleben! Es wäre besser, der Besteuerung die individuellen Gehälter zugrunde zu legen und mögliche Nachteile durch niedrigere Steuersätze, höhere Freibeträge oder befristete Ausgleichszahlungen zu kompensieren. Das Argument, ein solcher Eingriff sei zu kompliziert, ignoriert die Tatsache, dass Regierungen permanent in das komplexe Verhältnis von Steuer und Sozialpolitik eingreifen und damit Weichen neu stellen. Die eigentliche Frage ist doch: Welcher Mann oder welche Frau möchte wirklich die Hälfte des eigenen Einkommens an Steuern zahlen und damit nur noch ein Viertel zum Familieneinkommen beitragen? Und wie hat man es geschafft, Millionen verheirateter Frauen einzureden, dass dies in ihrem Interesse sei?
Zweites Beispiel: Soziale Dienstleistungen. Die Erwerbstätigkeit von Müttern ist in hohem Maße abhängig von guten sozialen Dienstleistungen. Man kann seine Kinder nicht ruhigen Gewissens fremdbetreuen lassen, wenn diese Betreuung von zweifelhafter Qualität ist. Schulen und Kindergärten werden zwar dauerhaft reformiert, aber nur selten zum Besseren. Statt die Qualität der Bildung durch Zeitreserven, hochwertige Einrichtungen und gesunde, motivierte Lehrer zu verbessern, wird häufig einfach der Druck auf die Schulen verstärkt.
Erstaunlicherweise wird in Deutschland bis heute nicht erkannt, dass die Gleichstellung von Männern und Frauen ebenso ein Verfassungsgebot ist wie der Schutz von Ehe und Familie. Paradoxerweise sind gerade Konservative eher bereit, gleichgeschlechtliche Partnerschaften in den Genuss des Ehegattensplittings zu bringen, als beide Partner in einer Ehe gleich zu behandeln. Sozialdemokraten dagegen drücken sich vor der Entscheidung – mit Übergangsfristen und Halbherzigkeit. Beides ist falsch. Das Arbeitsleben muss mit dem Familienleben vereinbar sein, und zwar für Männer und Frauen. Wirkliche Gleichstellung erfordert deshalb radikale Reformen in der Steuerpolitik, in der Schulpolitik, der Familienpolitik sowie in den Unternehmen. Wenn die Quote dann kommt, ist sie nur noch eine symbolische Geste.