Die offene Gesellschaft und ihre Feinde revisited

EDITORIAL

Von der Selbstbehauptung der freiheitlichen Gesellschaft gegen ihre erbittertsten Feinde handeln viele der Beiträge in diesem Heft. Nicht nur die Texte unseres Schwerpunkts zum Rechtsextremismus drehen sich um dieses Thema, sondern auch die eindringlichen Essays von Marc Jongen und von Wouter Bos, dem Vorsitzenden der niederländischen Sozialdemokraten. Völkischen Nationalisten aus der Sächsischen Schweiz und fundamentalistischen Islamisten aus Casablanca, Rotterdam oder Berlin-Neukölln ist in der Tat eines gemeinsam: ihr Denken in abgeschlossenen Systemen. Sämtliche historische Erfahrung zeigt, dass soziale Ordnungen, die auf hermetischen Denksystemen beruhen, am Ende zum Scheitern verurteilt sind: Weil sie jede geistige Unabhängigkeit und Kreativität im Keim ersticken, weil sie alles „Andere“ und „Fremde“ als das Böse schlechthin verteufeln, sind sie zum Fortschritt unfähig und gehen früher oder später an ihrer eigenen Unbeweglichkeit zugrunde.

Bis es so weit ist, können die Feinde der offenen Gesellschaft freilich jede Menge Unheil anrichten. Denn wer im Käfig eines Systems von Gewissheiten lebt, ist auch rundum immun gegen alle Anfechtungen von außen; wer sich innerhalb eines in sich stimmig erscheinenden Weltbildes häuslich eingerichtet hat, der neigt auch nicht zu produktivem Selbstzweifel. Langfristig ist eben das die Schwäche des paranoiden Denkens, kurzfristig aber macht es erst einmal stark und selbstsicher. Der in diesem Heft dokumentierte Text des NPD-Nachwuchsideologen Karl Richter demonstriert so plastisch wie beispielhaft, mit wie viel Euphorie und Selbstbewusstsein die Feinde der offenen Gesellschaft heute in Deutschland zu Werke gehen.

Es steht außer Frage, dass solcher Eifer auf Orientierung suchende Gemüter attraktiv wirken kann. Entscheidend ist deshalb, wie viel Stärke, wie viel Orientierungssicherheit und kämpferischen spirit die Repräsentanten der freiheitlichen Gesellschaft ihrerseits aufzubringen vermögen. Sicher ist: Sie stehen heute – auch in Deutschland – nicht mehr konkurrenzlos und unangefochten da, sondern müssen sich neu begründen, bewähren, legitimieren. Von selbst versteht sich gar nichts mehr. Dass die an Feindlosigkeit gewöhnte „Normalpolitik“ dieser Republik bereits begriffen hätte, wie ernst die Lage geworden ist, lässt sich angesichts ihrer chronischen (Selbst-) Beschäftigung mit Themen wie LKW-Maut oder Abgeordnetenversorgung nicht unbedingt sagen. Behaupten wird sich die offene Gesellschaft aber nur, wenn sie ihrem Anspruch Tag für Tag gerecht wird.

Mit dieser Ausgabe führt die Berliner Republik ein neues Bildkonzept ein. Ab sofort öffnen wir unsere Seiten in jeder Ausgabe für junge Fotografinnen und Fotografen, die gleichsam als „Mitautoren“ das jeweils zentrale Thema der Zeitschrift illustrieren. Für dieses Heft hat sich Simone Schmidt an den Rändern Berlins umgesehen. Wer ihre Bilder tiefster Trostlosigkeit betrachtet, versteht gleich besser, wie verdammt viel noch zu tun bleibt im Land.

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