Die Politik der Verleugnung



In einem Aufsatz über die Folgen der Einwanderung bin ich auf eine bemerkenswerte Statistik gestoßen: Im Jahr 2002 betrug der Anteil der im Ausland geborenen Bevölkerung in Deutschland 12,8 Prozent. Nach Luxemburg und der Schweiz ist das der höchste Wert in Westeuropa. In den ehemaligen Kolonialländern Großbritannien und Frankreich betrug dieser Anteil nur 8,6 Prozent und 7,3 Prozent. Auch der Anteil der Bewohner ohne deutschen Pass lag mit 8,9 Prozent nahezu doppelt so hoch wie in anderen großen europäischen Ländern. Laut dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes hatten 2009 insgesamt rund 15,7 Millionen Einwohner in Deutschland einen „Migrationshintergrund“. Angesichts dieser Zahlen ist es ein Wunder, dass die Fiktion, Deutschland sei kein Einwanderungsland, so lange aufrechterhalten werden konnte.

Heute wird der Begriff „Einwanderungsland“ in allen etablierten Parteien faktisch akzeptiert. Stattdessen hat sich die grassierende Realitätsverweigerung auf die „multikulturelle Gesellschaft“ verlegt. Das Urteil der Bundeskanzlerin auf dem Deutschlandtag der Jungen Union im vorigen Jahr: „Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert.“ Damit setzt Angela Merkel die Geschichte des kollektiven Verdrängens einer zunehmend ethnisch und kulturell diversen Gesellschaft fort. Mittlerweile erlegt der deutsche Staat Einwanderern aus visapflichtigen Ländern Sprachtests,
Bekenntnisse zur Verfassung und die Teilnahme an Integrationskursen auf. Denn sie sollen sich mit der Mehrheitsgesellschaft nicht nur beschäftigen, sondern auch identifizieren.

Während das „Nichteinwanderungsland“ Deutschland von Einwanderern lediglich erwartet hatte, dass sie nicht auffallen und keine Partizipationsrechte beanspruchen, fordert das „Nichtmultikultiland“ nun ein Lippenbekenntnis zur christlich-abendländischen Mehrheitsgesellschaft, welche aus sich heraus offensichtlich keine hinreichende Attraktivität aufweist. Wie schon während der Einwanderungsdebatte wird die gesellschaftliche Realität negiert, abgewertet und mit Holzhammermethoden bekämpft.
Die Politik der Verleugnung lässt sich auf vielen gesellschaftlichen Gebieten beobachten. Beispiel Schulpolitik: Faktisch verschwindet das dreigliedrige Schulsystem, doch im Gespräch mit den Bürgern halten viele Politiker an dem Prinzip einer möglichst frühen Selektion der Schüler fest. Oder nehmen wir die Krise der Eurozone: Auf der einen Seite polemisieren Vertreter der Europäischen Union gegen die griechische Haushaltspolitik, auf der anderen Seite pumpt die EU Milliarden in das hoch verschuldete Land, um europäische Wirtschafts- und Bankeninteressen sowie langfristig auch den Euro zu schützen.

Die Strategie der Verleugnung stellt ein ernstes Dilemma dar. Sie lähmt den offenen Diskurs über Alternativen und stiftet Verwirrung über die gesellschaftliche Wirklichkeit. Wer in einer tabuisierten Debatte Tatsachen offen anspricht, wird schnell zum Überbringer schlechter Nachrichten. Gleichzeitig bereiten die bestehenden Tabus einen Nährboden für Populismus und düstere Stammtischdebatten. Wer möchte sich nicht wenigstens über den griechischen Schlendrian, den rückwärtsgerichteten Islam oder die Einheitsschule aufregen dürfen, wenn man an der Politik schon nichts ändern kann?
Die Politiker dürfen der Mehrheitsmeinung nicht blind folgen. Indessen ermöglicht die Politik des Verleugnens einen Wandel, den die Ressentiments der Wähler und ihrer Medien sonst verhindern würden. Die Europäische Union wäre niemals so weit gediehen, hätte die Bevölkerung jeden einzelnen Integrationsschritt bewerten sollen. Anstelle des Einwanderungslands Deutschland wären wir wohl eine geschlossene und schrumpfende Gesellschaft. Und die Hauptschule würde nie abgeschafft, wenn man nur der Meinung der Eltern von Gymnasiasten folgte, die den politischen Diskurs dominieren.

Politische Führung muss daher auch in Zukunft zum Mittel der politischen Verleugnung greifen. Doch in diesen Tagen ist die Realitätsverdrängung selbst für das wohlwollende Publikum zu hoch dosiert. Mit Recht wird Angela Merkel Führungsschwäche vorgeworfen. Mehr Mut zur Realität würde helfen.  

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