Die Pyromanen von der Feuerwehr
Falls Sie in den letzten zwanzig Jahren von der Globalisierung nichts mitbekommen haben, weil Sie Ihren Fernseher aus Freude über die Deutsche Einheit aus dem Fenster warfen, schon immer einen großen Bogen um Zeitungswerber machen und bei Partys lieber übers Wetter reden – dann ist Dani Rodriks neues Globalisierungsbuch genau das richtige für Sie. (Gleiches gilt, wenn Sie so jung sind, dass Sie noch zur Schule gehen oder das erste Semester ihres Studiums bestreiten.) Denn da bekommen Sie die ganze Geschichte noch einmal schön der Reihe nach erzählt, angefangen vom Verkauf von Biberfellen im London des Jahres 1671 bis hin zu den griechischen Finanzproblemen im Jahr 2010. Zwischendrin lernen sie das britische Empire kennen, den Goldstandard, John Maynard Keynes und Bretton Woods. Als Belohnung gibt es im letzten Kapitel noch eine „Gutenachtgeschichte für Erwachsene“. Interessiert? Dann wenden Sie sich an Ihren Buchhändler (24,95 Euro) oder die Bundeszentrale für politische Bildung (4,50 Euro plus Versandkosten).
Weder provokativ noch Pflichtlektüre
Für alle anderen enthält der Band des Harvard-Professors viel zu wenig Neues oder Überraschendes, als das sich die Lektüre lohnen würde. Dani Rodriks Buch ist weder „provokativ“ noch „Pflichtlektüre für alle, die sich eine Welt ohne Finanzkrisen und unfaire Handelspraktiken wünschen“, wie der amerikanische Ökonom Nouriel Roubini auf dem Buchrücken behauptet. Es ist nicht mehr und nicht weniger als eine verständlich geschriebene, kenntnisreiche und einigermaßen ausgewogene Geschichte der Globalisierung, die in Überlegungen zu ihrer künftigen Gestaltung mündet. Neu sind weder das titelgebende „Globalisierungsparadox“, das im Wesentlichen darin besteht, dass man (angeblich) „die drei Dinge Demokratie, nationale Selbstbestimmung und wirtschaftliche Globalisierung nicht zugleich vorantreiben“ kann, noch die sieben „Grundsätze für eine neue Globalisierung“, die das Grundgerüst dafür liefern sollen, wie man mit dem genannten politischen Trilemma leben könnte: „1. Märkte müssen fest in politische Ordnungssysteme eingebunden sein.“ Alles gut und schön – aber alles auch schon einmal differenzierter und anspruchsvoller dargestellt und diskutiert worden.
Putting out fire with gasoline
Wesentlich spannender – weil provokativer – ist der schmale Band des französischen Professors für Sozialrecht und Rechtsvergleich Alain Supiot, der den Geist der Erklärung von Philadelphia wiederbeleben will, die am 10. Mai 1944 von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) verabschiedet wurde. Supiots Essay ist eine Streitschrift dafür, die Organisation des Wirtschaftslebens auch in Zeiten der Globalisierung dem Prinzip sozialer Gerechtigkeit unterzuordnen, und nicht umgekehrt. Wie es sich für eine gute Streitschrift gehört, ist der Gegner klar: die „ultraliberale Gegenrevolution“ Margaret Thatchers, Ronald Reagans und ihrer wirtschaftswissenschaftlicher Handlanger, in unheiliger Allianz verbunden mit den zur Marktwirtschaft konvertierten Kommunisten. Supiots Kritik fällt beißend aus: „Wir haben es hier mit pyromanischen Feuerwehrleuten zu tun, die einen Motor, den sie vorher in Brand gesteckt haben, mit Benzin übergießen, damit er wieder anspringt.“
Das Recht der Selbstverteidigung
Diese Streitlust entspringt nicht blinder Wut, sondern der Empörung über eine Welt, der an vielen Stellen der Sinn für das rechte Maß verloren gegangen ist, in der Menschen zu „Humankapital“ werden und in einem „totalen Markt“ flexibel zu funktionieren haben. Wo Sozial-, Steuer- und Umweltstandards von Unternehmen als Wettbewerbshindernisse wahrgenommen werden, wird „ausgeflaggt“ und unter den Billigflaggen von Bananenrepubliken weiterproduziert. Die „Rechtskonsumenten“ betreiben „law shopping“ auf dem „Markt für Gesetzesprodukte“ und wählen die für sie günstigste Lösung. Die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bleiben auf der Strecke.
Supiots Betonung von Arbeiternehmerrechten muss man nicht in allen Punkten teilen. Man sollte sie als déformation professionnelle eines Arbeitsrechtlers wohlwollend hinnehmen und anerkennen, dass hier ein Jurist schreibt, der die geistesgeschichtlichen und kulturellen Voraussetzungen sowie die Geschichte seines Fachs kennt und daraus die eine oder andere Einsicht gewinnt, die im
anglo-amerikanischen Ökonomen-Mainstream eher keinen Platz findet. Wenn daraus eine kontroverse Diskussion entstünde, wäre dies sicher im Sinne des Autors. Denn nichts ist für ihn schlimmer als das Credo der Marktfundamentalisten und Bankenretter – Thatchers berüchtigter Satz: „There is no alternative.“
Im Ergebnis liegen Rodrik und Supiot gar nicht so weit auseinander, wie die Unterschiede in Umfang, Herangehensweise und Stil ihrer Bücher nahelegen. Denn auch Rodrik legt sich eindeutig fest: „Demokratie und nationale Selbstbestimmung sollten uns wichtiger sein als eine Hyperglobalisierung. Demokratien haben das Recht, ihre gesellschaftlichen und sozialen Errungenschaften zu verteidigen, und wenn dieses Recht mit den Erfordernissen der Weltwirtschaft in Konflikt
gerät, sollte Letztere zurückstehen.“ Stilistisch unterscheidet sich die von den Autoren gelieferte Gedankennahrung jedoch gewaltig: Rodrik produziert „food for thought“ wie die großen Ketten ihre Burger-Menüs – es ist perfekt konfektionierte Massenware; Supiots Essay ähnelt einer ambitionierten Bistro-Küche – das eine oder andere Detail irritiert, aber insgesamt hält sie viele positive Überraschungen bereit. «
Dani Rodrik, Das Globalisierungsparadox: Die Demokratie und die Zukunft der Weltwirtschaft, München: C.H. Beck 2011, 415 Seiten, 24,95 Euro
Alain Supiot, Der Geist von Philadelphia: Soziale Gerechtigkeit in Zeiten entgrenzter Märkte, Hamburg: Hamburger Edition 2011, 143 Seiten, 18 Euro